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Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 08.09.1899
- Erscheinungsdatum
- 1899-09-08
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1878454692-189909088
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1878454692-18990908
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1878454692-18990908
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Freiberger Anzeiger und Tageblatt
-
Jahr
1899
-
Monat
1899-09
- Tag 1899-09-08
-
Monat
1899-09
-
Jahr
1899
- Titel
- Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 08.09.1899
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^S209 Freiberger Anzeiger und Tageblatt. Seite S. — 8 September. MS dächtigen Rohrpostbriefes verfolgen lassen. Sein Minister- kollege habe ihm geantwortet, wegen des Rohrpostbriefes könne er Picquart nicht verfolgen. Darauf habe er einen Befehl an den Pariser Militärgouverneur vorbereitet, Picquart verhaften zu lassen, wenn ihn die bürgerliche Strafgerechtigkeit aus der Untersuchungshaft entlasse. Dann habe er sein Ministerporte feuille niedergelegt und ein anderer Minister habe den Befehl ihm, der dann Militärgouverneur geworden sei, übermittelt. Aber die Ausschabung habe in seinem Geiste eine ganz geringe Rolle gespielt, als er die Verfolgung Picquarts beschloß. Sei nem Nachfolger Chanoine habe er, als er ihm das Ministerium übergab, den schweren Ernst der Picquart-Angelegenheit einge schärft. Zeuge wisse, daß im Geiste Taverniers, der die Unter suchung gegen Picquart leitete, die Ausschabung eine große Rolle spielte. Sie mußte eine große Rolle spielen, aber im Geiste des Zeugen spielte sie eine kleine Rolle. Labori will das Wort nehmen. Zwischen ihm und Oberst Jouaust entsteht ein Auftritt von unerhörter Heftigkeit. Vorsitzender: „Sie haben nicht das Wort über den Rohrpostbrief." Labori: „Ich fordere es und muß es bekommen." Vorsitzender: „Wir verhandeln über den Fall Dreyfus, nicht über den Fall Picquart." Labori: „Weiß Zurlinden, daß GrafMünster Minister Delcassö amtlich mitgetheilt hat, der Rohrpost- brief sei thatsächlich vonOber st Schwarz koppen?" Zurlinden schweigt. Labori: „Ich bitte um Verzeihung, wir verhandeln über die Ränke, die verhindern sollten, oen Beweis zu führen, daß Esterhazy der Schuldige sei und nicht Dreyfus." Labori fordert Vorlesung des Briefes, worin Zurlinden den Justizminister aufforderte, Picquart auch wegen des Rohrpostbriefes zu verfolgen; in diesem Briefe ver- werst Zurlinden nachdrücklich auf die Ausschabung der Auf schrift. Zurlinden: „Allerdings, ich habe die Ausscha bung selbst entdeckt, aber ich begriff sie nicht, ich verstand ihre Gründe nicht, denn der Name Esterhazy war ausgeschabt und über die ausgeschabte Stelle war der Name Esterhazy wieder ge schrieben, genau so wie er vor der Ausschabung dagestanden hatte. Ich konnte mir das nur als eine Spur erklären, die die zahlreichen Manipulationen hinterlassen hatten, denen der Rohr postbries unterworfen worden war. Labori: „Weiß Zur linden nicht, daß das zum Glück wie durch ein Wunder erhalten gebliebene Lichtbild des Rohrpostbriefs, das Lauth selbst ange fertigt, keine Spur von Ausschabung zeigt?" Zurlinden: „Ja, Tavernier hat festgestellt, daß die Ausschabung nach Prcquarts Abgang vorgenommen wurde." Pal 6 ologne, aufgerufen, bekundet, Graf Münster habe im April 1899 Mi nister Delcaff6 einen Brief Schwarzkoppens mitgetheilt, der be stätigt, er habe thatsächlich, verschiedene Rohrpostbriefc an Ester hazy gerichtet, darunter auch den, der in Picquarts Hände fiel und der nicht abgesandt wurde. (Große Bewegung.) Tra - rieux: „Man hat alle Lügen Esterhazys hin ge h e n lasten, den Brief eines unauffindbaren Offiziers Bro, der von ihm Mittheilungen über die Rolle seines Vaters bei Eupatoria verlangt hätte, um eine Schriftprobe von ihm zu er langen, die Geschichte von der Durchpausung des Begleitschrei bens nach dieser Arbeit über Eupatoria, die verschleierte Dame usw. Alle diese Lügen wurden zuerst zu Sagen, dann zu wirk licher Geschichte, die jetzt fortwährend wiederholt wird. Ester hazy wurde von einem Kriegsgericht freigesprochen, aber nicht gerichtet. Vorsitzender (auffahrend): Es liegt ein rechtsgiltiges Urtheil vor, ich gestatte nicht, daß man sovavon spricht. Trarieux: Ueber dem rechtsgiltigen Urtheil steht die Gut- machung eines begangenen Rechtsirrthums. Das Gesetz gestattet diese Gutmachung. General Billot, dessen Stimme vor Bewegung unsicher ist, spricht sein Bedauern aus, daß er die gestrige Aussage Trarieux nicht angehört habe. Er habe sie erst im „Figaro" gelesen. Billot findet, daß gestern wie auch heute die Ausführungen Lra- rieux leine Aussagen, sondern Plaidoyers zu Gunsten von Dreyfus und Picquart seien, sowie Requisitorien gegen die frü heren Minister. Trarieux habe von Sachen gesprochen, die todt sein sollten. Billot schließt sich dem Protest des Präsiden ten gegen die Worte Trarieux über die Richter Esterhazys au und übernimmt die Verantwortlichkeit für seine Handlungen als Minister; er erklärt, Piquart sei ein sehr verdienstvoller Of fizier gewesen, er bedauere aber, daß er sein Vertrauen zu ihm nicht habe bewahren können. Billot sagt, er habe stets seinem Gewissen gehorcht, und habe die abgeurtheilte Sache vertreten, und sich durch nichts .insbesondere nicht durch die Presse beein flussen lassen. Billot erhebt Einspruch gegen die Rolle, die Trarieux spiele und verliest einen Brief Milliards, in welchem dieser sein Erstaunen über die Haltung Trarieux, als er Justiz minister war, ausspricht. Billot meint, es sei nicht statthaft daß die Regierung dem Chef der Militärjustiz Winke gebe. Auf Befragen Laboris erklärt Billot, er übernehme die Verantwor tung in Betreff des Empfanges des sogenannten befreienden Schriftstückes durch seinen Kabinettschef. Billot verbreitet sich in längeren Ausführungen über die Affäre Esterhazy und spricht seine Ansicht dahin aus, daß, wenn auch die Schuld Esterhazys festgestellt würde, Dreyfus deswegen noch nicht un schuldig sei. In Spionageaffären gäbe es oft mehrere Schul dige. Labori: Wenn ich recht gehört — Vorsitzen der (unterbrechend): Billot hat bereits eine ähnliche Erklärung abgegeben. Labori: Niemals hat man gesagt, daß Dreyfus ein Komplice Esterhazys war. Wir müssen wissen, ob die An klage auf dieses Gebiet hinüber gespielt werden soll. Drey fus ruft mit lauter Stimme: Ich protestire gegen diese ge hässige Anklage. Vorsitzender fordert Labori auf, sich zu mäßigen. L a b o r i: Ich habe kein ungemäßigtes Wort ge sagt. Vorsitzender: Aber Ihr Ton war nicht maßvoll. Labori: Meines Tones bin ich nicht Herr. Vorsitzen der: Wenn Sie desselben nicht Herr sind, entziehe ich Ihnen das Wort. Labori: Ich füge mich; aber ich nehme Akt da von, daß man mir immer das Wort entzieht, wenn ich mich auf einen Boden begebe, auf dem man mir nicht mehr widerstehen kann. (Lebhafte Erregung im Zuhörerraum. Zeichen desBeifalls und Murren. Die Erregung ist sehr groß.) Der Präsiden! droht, den Saal räumen zu lassen. Er fragt alsdann Labori, ob er Fragen stellen wolle. Labori erwidert, nachdem er her vorgehoben, daß seine Sprache eine achtungsvolle sei, da er die Fragen nicht stellen könne, die den Kern der Verhandlung bil den, so behalte er sich vor, die durch seine Verantwortlichkeit und durch das Recht oer Vertheidigung erforderte Haltung einzu nehmen. Präsident: Setzen Sie Sich! Labori: Ich setze mich, aber nicht auf Befehl! (Bewegung.) Alsdann wird der Zeuge Artillerie-Major Gallopin aufgerufen; er giebt an, Dreyfus habe ihn niemals um Aus künfte ersucht. Er habe Dreyfus eines Tages getroffen, als dieser geheime die Mobilmachung betreffende Papiere nach der geo graphischen Abtheilung trug. Präsident /zu Dreyfus): Haben Sie sie also nach Hause mitgenommen? Dreyfus: Ich glaube nicht. Präsident: Haben Sie, ja oder nein, ein autographirtes Blatt mit nach Hause genommen? Dreyfus: Ich erinnere mich nicht. Alsdann wird die Aussage Du Paty de Elams verlesen. Darin rechtfertigt sich dieser zunächst gegenüber den gegen ihn er hobenen Angriffen und beklagt sich über die gegen ihn gerichteten Verleumdungen, die Major Cuignet nicht habe beweisen können. Der Zweck dieser Verleumdungen sei gewesen, den Offizier der Gerichtspolizei von 1894 zu treffen. Er habe keinerlei Beziehungen zu Henry gehabt und sei den Artikeln des „Eclair" wie auch der Zustellung des „befreienden Dokuments" an Esterhazy völlig serngestandcn. Sodann giebt du Paty eine Wiederholung seiner Aussagen vor dem Kassationshofe über seine Beziehungen zu Esterhazy. Er betont, an der Entdeckung des Bordereaus sei er nicht betheiligt gewesen und zur Uebernahme der Funktionen des Offiziers der Gerichtspolizei sei er verpflichtet gewesen. Danach erzählte du Paty de Elam, wie er von Gonse mit Abfassung eines Berichts über die Angelegenheit beauftragt wurde, und zählt die Feststellungen auf, die er in einer, seither verschwundenen, aber von Boisdefsre und Gonse gelesenen Note medergelegt habe. Er berichtet, daß der Haftbefehl gegen Dreyfus vor dem Probe- diktat ergangen sei; er erzählt alsdann den Verlauf des Probe diktats und weist auf die von Dreysus gezeigte Unruhe hin, der sich beklagt habe, daß es ihn an den Fingern friere, und nervöse Kieserbewegungen gezeigt habe. DreyfuS' Frau habe er, du Paty, stets mit der größten Rücksicht behandelt und es übernommen, ihr die Briese des Angeklagten zuzustellen. Für das Datum des Bordereaus ist nach seiner Meinung die Zeit vom 15. bis zum 30. August 1894 anzunehmen. Du Paty leugnet alle Er klärungen, die ihm bezüglich der Depesche Panizzardis zuge schrieben werden; er berichtet, daß von ihm und Sandherr ein Geheimkommentar angefertigt wurde, der bestimmt war sestzu- stellen, daß ein Offizier des Generalstabs Verrath übe und daß dies Hauptmann D. . . . war. Kein Schriftstück, welches dem Kommentar beigegeben war, bezog sich auf das Telegramm Paniz zardis noch aus die Herstellung eines Geschosses. Du Paty ver sichert, er habe die Nolle eines übermittelnden Agenten bei der Mittheilung der Geheimaktenstücke von 1894 gespielt; Dreyfus habe ihn, niemals gesagt, „der Minister weiß, daß ich unschuldig bin." Dreyfus habe ihm niemals von einer Köderung durch minderwerthige Schriftstücke gesprochen, er habe ihm gesagt, er wolle nicht auf mildernde Umstände plaidiren; sein Advokat habe ihm versprochen, in drei Jahren, vielleicht auch in fünf oder sechs, werde seine Unschuld anerkannt werden. Dreysus habe auch du Paty gesagt, daß er wisse, du Paty sei ein ehrenwerther Mann, aber man habe ihn getäuscht, er möge die Schuldigen suchen. Du Paty bestätigt das, was er in seinen früheren Aus sagen bekundet hat. Schließlich wird noch ein zur Aussage du Patys gehöriges Schreiben der Frau Dreyfus verlesen, in welchem sie von dem höflichen Verkehr zwischen du Paty und ihr spricht Darauf wird die Sitzung um 11 Uhr 50 Min. geschlossen. Politische Umschau. Freiberg, den 7. September. Deutschland. Der Kaiser ist gestern um 5 Uhr Nachmittags unter dem Geläute der Glocken der Stadt, welche reichen Flaggcn- schmuck angelegt hatte, in Stuttgart eingetroffen. Oberst von Schwartzkoppen geht nicht nach Rennes. Ein Mitarbeiter des „B. L.-A." hat Gelegenheit gehabt, den Obersten von Schwartzkoppen zu sprechen. Im Lause der Unterhaltung fragte er Herrn von Schwartzkoppen, ob er nach Rennes gehen werde. Ein kurzes und scharfes: „Nein!' war die Antwort. „Die Frage, Herr Oberst, dürfte zu erweitern sein. Glauben Sie, daß Se. Majestät Ihnen gestatten wird, sei es in Rennes, sei es hier, Aussage zu machen?" — „Auch das glaube ich nicht!" — „Und weshalb nicht?" — „Ja, haben wir denn nicht schon Stellung genommen und Aussagen gemacht? Zweimal sogar ist das bereits geschehen. Zunächst hat unser Botschafter in Paris erklärt, daß wir mit der Sache nichts, absolut nichts zu thun haben. Sodann hat unser Staats sekretär des Auswärtigen im Reichstage klar und deutlich dasselbe versichert. Und welches war der Erfolg? Man vei- harrte auf seiner Meinung! Was also sollen da erneute Ver sicherungen, die keinen anderen Erfolg haben würden? Was wir in der Sache zu sagen haben, ist eben von uns bereits gesagt." — „Haben Sie, Herr Oberst," fragte ich zum Schluß, „persön lich irgend welche Nachricht bezüglich des Laboriichen Antrags er halten?" „Ich habe bis zu diesem Augenblick," erwiderte Herr von Schwartzkoppen, „nichts erhalten, weder aus Rennes noch aus Paris, noch von unserer Seite aus." — Das erwähnte Blatt schreibt weiter: „Auch in den Berliner Regierungskreisen ist man der bestimmten Ansicht, daß Oberst von Schwartzkoppen nicht die Ermächtigung zur Zeugenaussage erhalten wird. Daß er nach Rennes gehen werde, um sich den Unannehmlichkeiten eines Ver hörs vor dem Kriegsgericht auszusetzen, ist natürlich ganz und gar ausgeschlossen. Aber selbst seine kommissarische Vernehmung erscheint im höchsten Grade zweifelhaft. Die deutsche Re gierung steht auf dem Standpunkte, daß sie in der Dreyfus- Angelegenheit wiederholt Erklärungen abgegeben hat, die an Ernst und Bedeutung eine solche eventuelle gerichtliche Zeugenaussage weit übertreffen. Trotzdem wurden diese Erklärungen vor dem Kriegsgericht nicht nach Gebühr gewürdigt, und man kann daher annehmen, daß auch neue Erklärungen ohne Eindruck bleiben werden, weil man ihnen eben nicht Glauben schenken will. Uebrigens ist die Bitte, Schwartzkoppen zur Aussage zu veran lassen, noch nicht offiziell an die deutsche Regierung herangetreteu. Kebes-Rebelleu. Roman von Roy Teilet. (11. Fortsetzung.) (Nachdruck verboten.) „Von den Aerzten waren wohl nicht viele zugegen?" „Nein, das können Sie wohl denken. Davon wollen sic nicht gern hören. Das Seziren macht sie gefühllos; und die Operationen. Wenn einer das Messer erst an dem lebendigen Körper eines Menschen erprobt hat, dann wird es ihm natürlich nicht schwer, bei einem Hund dasselbe zu thun. Nur ist das eine recht und das andere nicht. Mir scheint aber, Sie verstehen mich nicht, Mr. Edwardes. Ich meine, bei demMenschen thut er ein Gutes, bei dem Thier aber nicht. Weshalb? Nun, nun, weil der Mensch reden kann und sagen: Nein, ich will nicht, daß du in mich hineinschneidest, während das Thier still halten muß. Es ist ein Unglück, stumm zu sein. — Nehmen Sie noch eine Tasse Thee, Mr. Edwardes?" „Mich werden Sie nicht stumm finden, wenn es sich um solche Fragen handelt, Miß Vipan", sagte Carolath lachend, „ich mag Thee sehr gern." „Er gehört nun einmal zu den Anregungsmitteln in unserer ungesunden Zivilisation", meinte Miß Vipan in ihrer derben Weise. „Wir wissen, daß er uns nicht gesund ist, und doch kön nen wir ihn nicht entbehren. Ich glaube, es giebt Leute, die, statt Blut, Thee in ihren Adern haben." „Hoffentlich nicht grünen!" „Schwarzer ist gerade schlimm genug", bemerkte Miß Vi pan. „Uebrigens, kennen Sie Miß Frances Power Cobbe?" „Nein, ich habe nicht das Vergnügen", entgegnete Caro lath; „in welcher Beziehung steht sie zum Thee?" „Ach, dummes Zeug, natürlich in gar ekiner. Aber sie ist einer der hervoragendstcn Menschen unserer Zeit. Ganz kolossal!" Carolath zerbrach sich den Kopf darüber, wie plötzlich der Name Miß Cobbes in das Gespräch komme; sogleich sollte ihm die Aufklärung werden. „Sie war in unserer Versammlung nicht anwesend", sagte Miß Vipan, „wenigstens nicht in Person. Aber ihr Geist weilte unter uns; ihr Leben ist dem Schutze unschuldiger Thiere ge weiht. Aberauch ohne sie war die Versammlung herrlich." „Ich hätte wohl Ihre Rede hören mögen, Miß Vipan", sagte Carolath, der gern liebenswürdig sein wollte. „Ich pflege die Dinge stets beim rechten Namen zu neunen", sagte Miß Vrpan stolz, „weshalb auch nicht? Wenn eine Sache niederträchtig ist, so ist's das vernünftigste, sie so zu nennen, und damit basta". „Jedenfalls erleichtert es das Gefühl", meinte Carolath trocken. „Ich erklärte ganz offen, ich bin für die Katze", fügte Miß Vipan hinzu. „Aber Sie haben doch auch ein Wort zu Gunsten der Hunde gesprochen?" fragte de junge Mann. Miß Vipan starrte ihn halb erstaunt, halb geärgert an. „Sie scheinen mich offenbar mißzuverstehen, Mr. Edwar- ves", sagte sie, das Wort „scheinen" stark betonend. „Ich rede jetzt nicht von dem lieben Hausthier, das uns wohl allen so sym pathisch ist, sondern von der neunschwänzigen Katze, um das Ding beim rechten Namen zu nennen." „Oh, verzeihen Sie," sagte Carolath kleinlaut. „Und was soll die?" „Sie soll allen denen auf dem Rücken tanzen, die der klein sten Grausamkeit gegen hoch genug orqanisirte, stumme Ge schöpfe überführt werden." „Weshalb machen Sie diese Einschränkung: „hoch genug organisirt"?" „Nun, das soll bedeuten, daß Fliegen und dergleichen In sekten nicht eingeschloffen sein sollen; sie sind zu klein." „Oc minimiu von curat lex," bemerkte Carolath. „Stimmt, die können auf sich selbst acht haben", entgegnete Miß Vipan, der das Latein ganz geläufig zu sein schien. „Flie gen zum Beispiel sind so zahlreich, daß sie sich außerhalb der Grenzen praktischer Gesetzgebung befinden. Da sitzt eben eine im Sahnentopf." Während sie sprach, tauchte sie einen Theelöffel in die Sahne und befreite die Fliege aus ihrer feuchten Gefangenschaft, doch ehe das Thierchen noch Zeit gewann, sich seiner Rettung zu freuen, ward es von Miß Vipan in den mit heißem Wasser ge füllten Spülnapf geworfen, wo es elendiglich umlam. „Wo die nur alle Herkommen", fragte sie, während sie den Löffel sorgfältig abwusch. „Das ist fast ein ebenso großes Räthsel, wie der Verbleib all der Stecknadeln," meinte Carolath. „Die Herkunft der Nadeln kann mit Sicherheit festgestellt werden", meinte Miß Vipan streng, „bei den Fliegen ist das etwas anderes." „Sie stehen sicher unter dem Schutz Beelzebubs", sagte Ca rolath. „Beelzebub ist, wie Sie wohl wissen, der Gott der Fliegen." „So, das wußt' ich nicht", entgegnete Miß Vipan; „ich habe mich stets bemüht, meinen Geist freizuhalten von all dergleichen Fabeln." „Carolath blieb eine Weile still und nachdenklich. Diese Frau interessirte ihn trotz ihrer sechzig Jahre; sie schien ein wun derliches Gemisch von Klugheit und Einfalt. Ihr Gemüth war knöchern und eckig wie ihr Körper. Offenbar ging ihr jeder Sinn für Humor ab, und deshalb klangen ihre Meinungsäuße rungen um so entschiedener. Etwas wie eine stille Grausamteü lag in ihrem Wesen, was wohl auch dem Eindruck der hart blin- icnden Augen, der scharfgeschnittenen Nase und der dünnen, blutleeren Lippen zuzuschreiben war. So war die Frau be schaffen, unter deren Obhut Errima erzogen worden war. Welch Ersatz für eine Mutter! Kein Wunder, daß in dem Mädchen alle natürliche Jugendfrische erstickt schien. „Mein Vater war Geistlicher", begann Carolath endlich, „ich bin also gewissermaßen mit Fabeln auferzogen worden." MißVipan lächelte nicht, sondern bemerkte nur: „So müssen Sie eben danach trachten, das auszugleichen." Carolath begriff nicht recht und bat um weitere Erklärung. „Nun, wir leben", erläuterte Miß Vipan, „in einer Epoche des Ueberganges. Ganz urplötzlich mit der Vergangenheit zu brechen, ist nicht möglich. Eine allmähliche Auflösung des Bestehenden ist gleichbedeutend mit einem Fortschritt. Ich meinestheils pflege gewöhnlich einmal am Sonntag in die Kirche zu gehen." „So hören Sie also doch „Fabeln" mit an?" „Was wollen Sie? Man muß sich mit seiner Nachbarschaft, besonders wenn es die Geistlichkeit ist, gut stellen", entgegnete Miß Vipan, gleichsam entschuldigend. Ich bin nicht verant wortlich für meine Umgebung, aber ich muß mich ihr anpassen. Carolath schaute zu Errima hinüber. Sie saß am Fenster und sah in den Garten hinab. Offenbar schenkte sie der im Zimmer geführten Unterhaltung gar keine Aufmerksamkeit. Wenn sie jetzt so dumpf und apathisch dreinschaute, konnte Ca rolath sich kaum noch darüber wundern. Man hatte ihr ein Glaubcnsbekenntniß bloßer Verneinungen beigebracht und ihr damit alle fröhliche Unbefangenheit geraubt. Miß Vipan leerte ihre Tasse bis auf den letzten Tropfen; sie liebte die Gründlich keit bei allem, was sie that. Dann erhob sie sich vom Tisch und sagte, die Hände ausstreckend: „Unsere erste Pflicht ist, alle Illusionen von uns zu thun. Carolath dachte bei sich, daß es einem schwer fallen sollte, in ihrer Gegenwart welche zu behalten, aber er unterdrückte diese nichi sehr höfliche Bemerkung. Alle Thatsachen haben", fügte Miß Vipan in ihrer nüchter nen Art hinzu, „den gleichen Werth; alle Illusionen sind gleich werthlos. Errima, wovon träumst Du schon wieder?" Das Mädchen zuckte wie erschreckt empor. Dann wurde sie roth und senkte die Augen. (Fortsetzung folgt.)
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