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Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 13.09.1899
- Erscheinungsdatum
- 1899-09-13
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1878454692-189909133
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1878454692-18990913
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1878454692-18990913
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Freiberger Anzeiger und Tageblatt
-
Jahr
1899
-
Monat
1899-09
- Tag 1899-09-13
-
Monat
1899-09
-
Jahr
1899
- Titel
- Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 13.09.1899
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213 Freiberger Anzeiger und Tageblatt. Seite 2. —13. September. 183» Die Münchener Post erfährt bestimmt, daß die Nachricht über die loyale Begrüßung des Prinzregenten durch die Familie des sozialdemokratischen Abgeordneten v. Vollmar am Walchensee auf Verwechselung beruhe. Die Szene habe sich in dem einige Hundert Meter entfernten Landhaus des Berliner Professors Rietschel abgespielt. — Da hätte mau also Herrn v. Vollmar zu hoch eingeschätzt! Wie sicher die Familie DreyfuS auf die Freisprechung des unglücklichen Kapitäns gerechnet hatte, beweist der Umstand, daß sie bereits eine Wohnung in Herrenalb micthete, wo sich Dreyfus in der würzigen Schwarzwaldlust erholen sollte. In Darmstadt haben Studenten vorvergangene Nacht an dem sogenannten Weißen Thurm eine lebensgroße Puppe, die auf der Brust ein Plakat mit der Aufschrift „General Mercier" trug, auf- gehängt. Gestern Vormittag wurde die Puppe durch die Polizei mit Hilfe der Feuerwehr entfernt. Ein Fall von StreikterroriSmuS beschäftigte am Sonn abend das Landgericht Berlin H. Angcklagt war der Klempner Stanislaus Witel. Derselbe begab sich im April d. I. nach Ober-Schönweide hinaus und kehrte bei dem Schankwirth Eccarius ein, um mit Kollegen zusammenzutreffen, die bei dem Klempner meister Kantner wegen Lohndifferenzen die Arbeit eingestellt hatten. In dasselbe Lokal kam der Klempnergeselle Wilski, um zu frühstücken. Dieser war vom Arbeitsnachweis in Berlin zu Kantner hinausgeschickt worden rmd hatte die Arbeit ausgenommen, ohne sich an den Streik zu kehren. Als Witek den Wilski erblickte, schimpfte er denselben „Strolch", „Lump" u. s. w. und setzte hinzu: „Wenn Du noch länger hier arbeitest, kriegst Du Deine Jacke voll!" Wilski erzählte dies seinem neuen Meister und hörte wieder auf zu arbeiten. Der Meister erstattete Anzeige. Wilski bestätigte den Vorgang in der geschilderten Weise. Es wurde Nöthigung im Sinne des § 153 der Gewerbeordnung und öffentliche Beleidigung für vorliegend erachtet und auf zwei Monate Gefängniß und Publikationsbefugniß erkannt. Oesterreich. ES wird immer deutlicher, daß zur Lösung der österreichischen Krisis doch noch einmal auf den Versuch zurückgegriffen werden soll, eine direkte Verständigung zwischen Deutschen und Czechen herbeizusühren, und daß bis zur Durch führung dieses Versuches von jeder anderen Kombination ab- geiehen wird. Und zwar ist die klerikale Partei dazu aus ersehen, den Versuch ins Werk zu setzen — über dessen Ergeb- nißlosigkeit freilich kaum ein Zweifel bestehen kann. In Wien verlautet jetzt aus den Kreisen der katholischen Volkspartei, daß schon binnen kürzester Frist eine Aktton zur Anbahnung einer Verständigung zwischen den Parteien der Rechten und der Linken des Abgeordnetenhauses eingeleitet werden soll. Zunächst soll es sich darum handeln, den Weg festzustellen, auf welchem eine Annäherung zwischen den Deutschen und Czechen herbeigesührt werden könnte. Wie weiter verlautet, soll eine außerhalb der Regierung stehende Persönlichkeit diese Verständigungs-Aktion anbahnen, deren Zweck die Herstellung der Arbeitsfähigkeit des Abgeordnetenhauses bilden wird. Nach anderweitigen Andeu- »ungen würde diese Persönlichkeit der klerisgle Präsident des Abgeordnetenhauses, v. Fuchs, sein. Die katholische Volkspartei hielt am Sonntag zwei Sitzungen in Gegenwart des HandelsministerS Dipauli ab. In dem ausgegebenen Bericht heit es: In der von dem Obmann ein geleiteten Debatte über die politische Lage betonten fämmtliche Mitglieder die Nothwendigkeit einer Verständigung und hoben hervor, daß es die Aufgabe der katholischen Volkspartei sei, in dieser Beziehung ihren ganzen Einfluß einzusetzen. Aus Graslitz in Deutschböhmen kommt ein Aufruf des deutschnationalen Hilfsausschusses, worin um milde Gaben für die Opfer der Unruhen am 20. August gebeten wird. Bier Todte, elf Schwerverwundete und drei Ber- haftete macht der Aufruf namhaft, deren Hinterbliebene und Angehörige von bitterer Noth bedroht sind. Spenden nimmt Herr Rechtsanwalt vr. Karl Ritter Kriegelstein v. Sternfeld in Graslitz entgegen. Dem Aufruf entnehmen wir die bemerkens- werthe Einzelheit, daß nach dem gerichtsärztlichen Befunde alle Todten und Verwundeten — unter ihnen befindet sich sogar ein elfjähriger Knabe! — von rückwärts ange schossen worden sind. Ueber Kundgebungen der italienischen Presse zum Urtheil gegen Dreyfus wird gemeldet: Die „Italic" beklagt Frank reich. Die Folgen dieses unseligen Spruches werden nicht auf sich Worten lassen, aber möge Alles in Trümmer gehen, das Recht muß dennoch obsiegen. Die edlen Männer, die für die Wahrheit gestritten, werden durch die Gewalt des Kriegsgerichts nicht eingeschüchtcrt werden, sie werden siegen und darum un verzagt voran für Menschheit und Recht kämpfen. Der „Cor - riere della Sera" ruft: Frankreich werde diesen Akt der Säbeljustiz zunichte machen oder zu Grunde gehen. Die „Tribuna" schreibt, die Generale dürfen frohlocken, ihre Unter gebenen sind ihrer würdig. Das Urtheil wird von der gebildeten Welt nach Gebühr gewürdigt werden als die letzte der Fälschungen nämlich, auf die sich der Schandprozeß aufbaut. Bald werden die „Thatsachen sprechen". Eines sei gewiß: ein Land, das bis zu dieser Schmach gesunken i st, hat nicht das Recht, die civilisirteWeltzueinemFesteder Freiheit und des Fortschrittes einzuladen. England. Die „TimeS" sagt in einer Besprechung des gegen Dreyfus gefällten Urtheils, dieses sei die gröbste und entsetzlichste Gerechtigkeitsschändung der Neu zeit, die ganze civilisirte Welt sei vor Schrecken und Scham erzittert. Ehre und Wahrheit seien in offen kundiger Weise, mit voller Ueberlegung und ohne Erbarmen mit Füßen getreten worden. Frankreich habe sich jetzt vor der Ge schichte zu verantworten. — Die „Daily Mail" sagt: Bei Sedan erlitt die französische Armee eine Niederlage, in Rennes erlitt die französische Nation eine Erniedrigung, Rennes ist Frankreichs moralisches Sedan. Die „Morningpost" urtheilt: Rennes ist eine Art politischen Selbstmordes, der „Stand.": Die zweite Verurtheilung Dreyfus' ist nichts Ge ringeres als eine Ausschreitung gegen die Menschlichkeit, die „Daily News": Die fünf Richter verübten das Verbrechen der Entthronung der Gerechtigkeit, der „Daily Telegr.": Es ist ein schmachvolles feiges Urtheil, das aller Wahrheit und Gerechtig keit inS Gesicht schlägt. Der „Daily Chronicle" schlägt vor. Dreyfus eine Beileidsadresse der englischen Nation zu senden. Frankreich. Recht interessante Details über die Vorge schichte der Urtheilsfälluna bringt die Agence Nationale: Im Laufe der einmonatigen Verhandlung fanden drei Richter die Anklage wenig gerechtfertigt und waren dem Freispruch geneigt. Heimliche Besucher versuchten nun die drei Richter für die Ver urtheilung umzustimmen, zwei blieben jedoch unerschütterlich, der dritte zögerte noch, aber Demanges Plaidoyer vom Freitag schien tiefe Wirkung auf ihn auszuüben, so daß ein Pariser Ad vokat von der Generalspartei Sonnabend Morgen den Kom missar Carriöre verständigte, daß die Gefahr eines Freispruchs drohe, woraufhin Carriöre am Nachmittage auf das Plaidoyer replizirte. Die Berathung über das Urtheil dauerte sehr lange; zwei Richter beharrten auf dem Freispruch, der dritte, noch zögernde ließ sich den Schuldspruch durch Gewährung mildern der Umstände entreißen. Chincholle seinerseits erzählt im Figaro, daß man während der Mittagspause vom Sonnabend eine dem General Mercier befreundete Generalsfrau im Wagen jedes Mitglied des Kriegsgerichtes besuchen sah, die ihnen wahr scheinlich sagte, ihre Freunde wünschten offenbar eine einstim mige Verurtheilung zu erwirken. Die Dame vermochte jedoch ihre Mission nicht durchzusetzen, denn zwei Richter, die sich schon am ersten Verhandlungstage gegen den Ausschluß der Oeffent- lichkeit aussprachen, stimmten auch am Sonnabend für nicht schuldig. Der Präsident des Kriegsgerichts stimmte natürlich für die Verurtheilung, die beiden Offiziere, die dagegen gestimmt haben, sind Hauptmann Beauvais, der schon im Prozeß durch seine vielen und gescheiten Fragen ausgefallen ist, und Major Merle. Preflenstz weist m der Aurore nach, daß das Verdikt wegen eines Formfehlers der Annullirung verfalle, denn das Militarstrafgesetz befiehlt ausdrücklich, es sei im Verdikt anzuordnen, daß dem Verurtheilten nach verbüßter Strafe ge- visse Kontroll- und Aufenthältsbedingungen aufzuerlegen eien. Oberst Jouaust hat nun diese Bestimmung dem Ber- rikte einzufügen vergessen, das Verdikt sei daher gesetzlich fehlen Haft und nicht rechtsgiltig. Der Londoner Korrespondent dez New-Jork Herald interviewte Esterhazy; dieser sagte: „Ich bi» über Dreyfus' Verurtheilung sehr glücklich, denn er ist tausend mal schuldig. Daß das Verdikt mysteriös, ist für mich eine sehr gute Sache? — Esterhazy bestätigte neuerdings, der Schreiber ves Bordereaus zu sein, er warte die weiteren Ereignisse ab denn die Affäre sei nicht zu Ende. Für die weiteren Fragen des Interviewers verlangte Esterhazy fünf Pfund Honorar worauf sich der Besucher entfernte. — Aus Rennes wurden am Sonnabend über das Verdikt 1300 000 Worte telegraphirt. Dem Vernehmen nach wollten die Mitglieder des Kriegs gerichts Montag Nachmittag zusanimentreten und sich über die Unterzeichnung eines Gesuches schlüssig machen, welches sich dafür aussprechen soll, Dreyfus die Strafe der Degradation zu erlasse«, „Figaro" schreibt, die Affäre Dreyfus werde jetzt für einix Tage in einen Zustand des Schlummers eintreten. Inzwischen werde sich eine große republikanische Konzentration vollziehen. Darum sei es em vergebliches Unternehmen, daß die Feinde der Republik so eilig auf das Kabinett Sturm laufen. — „Lanterne' schreibt, über den Fall Dreyfus und über den Fall Mercier werde das bürgerliche Gericht das letzte Wort sprechen. — Clemenceau schreibt: Aus Rennes heimkehrende Freunde ver sichern mir, daß gewisse Generale mehrere Tage vor den, Urtheilsspruch erklärten, Dreyfus werde nach einem Militär- gefängniß auf Corsica gebracht werden. Wie hatte» diese Generale von einem Urtheil sprechen können, das noch nicht ge- fällt war? Es hat also ein Handel statt gesunde», um einen Unschuldigen auf Kosten seiner Ehre am Leben zu lassen. Zu der Stra f^ der Detention wird geschrieben: Artikel 20 deS Code PVnal sagt: „Jeder zur Detention Bei- urtheilte wird in einer Festung des kontinentalen Frankreich internirt .... Der Verkehr mit den innerhalb oder außerhak des Detentionsortes befindlichen Personen ist ihm nach Maßgabe der im Verordnungswege ergangenen einschlägigen Polizeivor schriften gestattet." Die Detention entspricht also im Großen mid Ganzen unserer Festungshaft, nicht dem Gefängniß. Nichts desto weniger ist sie trotz der verhältnißmäßigen Freiheit, deren sich nach Ausweis des zittrten Art. 20 des Code Pönal der von ihr Betroffene erfreut, nicht ganz so wie die Festungshaft des deut schen Reichsstrasgesetzbuchs oustoätL donesi», vielmehr hat sie nach Art. 28 im Gefolge die „OexraLatton eivigas". Diese schließt nach Art. 34 in sich Absetzung und Ausschließung von alleu öffentlichen Acmtern, Verlust des aktiven und passiven Wahlrechts, überhaupt aller politischen und bürgerlichen Rechte, sowie des Rechts zum Tragen von Orden und Ehrenzeichen, desgleichen Unfähigkeit, als Sachverständiger oder beeideter Zeuge auszutretcn, an einem Familienrath theilzunehmen, Vormund oder Gegen- Vormund zu sein u. s. w.; endlich in der Armee oder National- garde zu dienen, sowie irgend ein Lehramt zu bekleiden. Eine weitere Folge ist laut Art. 29 Versetzung in den Zustand der Entmündigung: so werden zur Verwaltung seines Vermögens Vormund und Gegenvormund bestellt, wie für jeden Entmündig ten fonst auch. Was das verfrühte Gerücht betrifft, es sei sür die Detention Dreyfus' ein Platz aus Korsika ausgewählt, so widerspricht dies dem Erforderniß, daß die Festung eine fest ländische sein müsse, darum noch nicht unbedingt, weil die Insel im französischen Verwaltuugsorganismus als 87. Departement zum Festland gerechnet wird. Portugal. Ein Bericht der französischen Aerzte in Oporto spricht sich dahin aus, daß die Pest noch andauern könne, ohne jedoch an Umfang zuzunehmen; es sei kaum möglich, ander! europäische Städte vor einer Ansteckung zu schützen; aber die Seuche werde nur in den Städten auftreten, diejkcrnc zur Wahrung der Gesundheit erforderlichen Maßregeln getroffen haben. Der Bericht beklagt das Vorhandensein des sanitären Cordons in Kebes-Rebellen. Roman von Roy Teilet. (1S. Fortsetzung.) (Nachdruck verboten.) „Ich habe keine Freunde", sagte sie dann leise „Haben Sie nie welche gehabt?" „Niemals." „Welch einsames Leben!" sagte Carolath voller Theilnahme. Errima schwieg, aber sie beugte den Kopf noch ein wenig tiefer auf ihre Arbeit. Carolath, der sie aufmerksam beobach tete, bemerkte wie ihre Augenlider bebten. Am Ende war sie doch nicht so gefühllos, wie er geglaubt hatte. „Aber Sie gehen doch zuweilen in Gesellschaft?" fragte er nach einer kleinen Pause. „Oh ja." „Und macht Ihnen das keine Freude?" „Mir liegt nichts daran." Carolath nahm ein Buch zur Hand. Unterhaltungen wie diese, meinte er, genießt man am besten in homöopathischen Dosen. Aber nach einer Weile begann er wieder: „Mögen Sie die Poesie, Miß Ravenshaw" „Nern." „Weshalb denn nicht?" „Weil alles daran künstlich ist." „Nun freilich, das liegt ja in der Bedeutung des Wortes „Kunstwerk", und einen Dichter nennt man auch einen Künstler." „Das wußt' ich nicht", sagte Errima, plötzlich ganz lebhaft, und schlug groß und verwundert die Augen auf. Carolath machte dabei die Entdeckung, daß Errimas Augen, wenn sie so blickten, von seltener Schönheit waren. Er wunderte sich im stillen, daß er diese Bemerkung noch nicht früher gemacht. Aber freilich, sie hielt ja die Augen meist gesenkt und sandte nur flüchtig scheue Blicke aus ihnen, daß man gar nicht Zeit hatte, ihre Schönheit zu bemerken. In den großen dunklen Sternen lag aber noch ein Ausdruck, der ihn ergriff, etwas von dem rührenden, bittenden Blick eines stummen Thicres. Das Mädchen war in gewisser Beziehung ja auch stumm. Ihr Mund redete wohl, aber die wirklich menschliche Sprache, der Austausch von Gedanken und Em pfindungen, war ihr fremd. Und doch schien es Carolath, als empfände sie das Verlangen, sich verständlich zu machen, und er bemitleidete sie mehr als je zuvor. Dieser eine Blick von ihr war ihm wie eine Offenbarung gewesen. Und schön waren diese Augen. Nein, er wollte ihr gewiß nicht den Hof machen! Sie dau erte ihn viel zu sehr. Aber freundlich wollte er mit ihr sein und alles thun, was in seiner Macht stand, um sie aufzurütteln und ihr das Leben erträglicher zu gestalten. Dr. Vipatt steckte jetzt den Kopf zur Thür herein und nickte den beiden vergnügt zu. „Wo ist Deine Tante?" fragte er Errima. Das junge Mädchn vermochte ihm keine Auskunft zu geben, und der Doktor schien auch keinen besonderen Werth da rauf zu legen, denn er hatte sich zurückgezogen, fast noch ehe er die Antwort gehört. Carolath hatte die Empfindung, daß er nur hereingeschaut, um zu sehen, wie die Dinge ständen. Wieder herrschte Schweigen zwischen den zwei jungen Menschen. Carolath dachte an die Aufgabe, die vor ihm lag. Das plötzliche Auftauchen des Doktors hatte sie ihm wieder in Erinnerung gebracht. Die Rolle, die er zu spielen hatte, war nicht leicht. Auf der einen Seite mußte er den Doktor zufrie den stellen, indem er sich den Anschein gab, als ob er sich bemühe, die Zuneigung seiner Nichte zu gewinnen — und andererseits wieder mußte er sich hüten, sie in Wirklichkeit zu erringen. Es war ja nicht möglich, daß er sie liebgewinnen sollte — oh, sie fo wenig, wie irgend ein anderes weibliches Wesen. Aber davon abgesehen, wäre es eine Schändlichkeit gewesen, irgend einem Mädchen seine Hand zu bieten. Und doch — er mußte auf seine eigene Sicherheit ebenso bedacht sein, wie auf den Seelen frieden des jungen Mädchens; und mit dem Doktor durfte er sich nicht entzweun. Am Ende hielt es gar nicht so schwer, seine Doppelrolle wenigstens eine Zeit lang durchzuführen. Die wenige Freund lichkeit, die er in seinem Benehmen Errima erzeigen wollte, würde sicher im Herzen des jungen Mädchens keine falschen Hoffnungen wecken; schien sie von Natur doch durchaus nicht leicht zugänglich. Sie war so wunderlich, so viel von einem Automaten lag in ihrem Wesen, daß er zweifelte, ob sie über haupt etwas wie ein Herz besaß, und das erleichterte ihm seine Aufgabe erheblich. Dann wieder empfand er aufrichtiges Mitgefühl für sie. In ihrer sanften Hilflosigkeit und in ihrem mechanischen Ge horsam lag so viel Mitleiderweckendes. In seinen eigenen Augen erschien er sich als eine Art Sklavenhändler. Er sah das junge Ding vor sich, das durch ein verhängnißvolles Ge schick in seine Hande gefallen war und dem er seinen Willen auf zwingen durfte. Sie ahnte ja nichts von Gefahr, wußte nichts von der Verschwörung wider sie. Willenlos und eingeschüchtert durch eine knechtische Erziehung, hätte sie ihn sicherlich zum Gatten genommen, wenn man es von ihr verlangt, und wenn Carolath gesonnen gewesen wäre, bei dem verabredeten Plane zu beharren. Carolath war im Grunde gutherzig. Er führte feine be gonnenen Grübeleien weiter aus und meinte, daß es vielleicht eine gute That sei, wenn er sich des Mädchens ein wenig an nähme. Offenbar hatte sie bis zu diesem Augenblick nie er fahren, was Freundlichkeit war. Sic hatte ihr ganzes Leben in dunkler, trüber Einförmigkeit, der es an Liebe mangelte, ver bracht. Und er vermochte vielleicht ihrem düsteren Dasein ein wenig Sonnenschein zu geben. Dieser Gedanke gefiel ihm eigentlich. So hätte er doch wenigstens gute Verwendung für feine Zeit. Er besaß ein Ge wissen und jenes unbestimmte Gefühl von Verantwortlichkeit der unbekannten Zukunft gegenüber, welches die menschlichen Handlungen oft so geheminißvoll beeinflußt. Was er dem Mädchen Freundliches erwies, würde ihm vielleicht dermaleinst als Gutthat angerechnet werden; er hatte gesündigt, und jetzt bot sich ihm Gelegenheit, Gutes zu thun; das mochte zur Aus gleichung seines Kontos beitragen. Nächstenliebe deckt viele Sünden zu. Und da er alle Frauen haßte, dieses Mädchen ihm aber noch besonders reizlos schien, so konnte irgend welche Freundlichkeit, die er ihr erwies, nur selbstlos sein. So wenig kennt der Mensch sich selber ,daß Carolath, wäh rend er seinen Grübeleien freien Lauf ließ, gar nicht auf den Gedanken kam, wie diese eine ganz andere Richtung hätten neh men können, ohne die Entdeckung, die er soeben gemacht, nämlich die, daß Errima wunderschöne Augen hatte. XIII. Einige Tage vergingen ohne jeden Zwischenfall. Carolath begann sich an die neue Lebensweise zu gewöhnen. Er füM natürlich das Dasein eines Einsiedlers. Miß Vipan war viel aus und empfing auch häufig Besuch im Hause. Carolath be kam freilich keinen Fremden zu Gesicht, da er es sorgfältig ver mied, das Empfangszimmer zu betreten; er hielt sich meiste den rückwärts gelegenen Wohnräumen auf. Die Täuschung mit dem lahmen Bein hatte er beibehalten, was ihm nicht gell» schwer fiel, da er durch des Doktors einfaches Hilfsmittel ge zwungen war, zu hinken, er mochte wollen ober nicht. Er hatte in Erfahrung gebracht, daß Errima vor seiner An kunft auch ziemlich häufig in Gesellschaft gegangen war; waN scheinlich hatte man sie dazu gezwungen. Ob sie thatsaW^ menschenscheu, wußte Carolath nicht, aber darüber konnte er nicht im Zweifel bleiben, daß sie im höchsten Grade zurückhal tend und unzugänglich war. Seitdem er jedoch h'" ,- nahm die Tante sie fast nie mehr mit, weder zu Versammlungen noch in Gesellschaft. Carolath bemerkte dies wohl und verstaw auch nur zu gut oie Absicht. Errima sollte von allen autzkre. Zerstreuungen so viel als möglich fern gehalten werden, dam sie Carolaths Gesellschaft desto mehr schätzen lernte. Du beiden jungen Leute mußten, da die Tante viel aus, und der Dono fast beständig in seinem Laboratorium beschäftigt w<»' A allein mit einander bleiben. Wenn Carolath noch die AbM gehabt hätte, sich die Zuneigung des Mädchens zu erwerben, I wäre jetzt Gelegenheit dazu genug vorhanden gewesen. (Fortsetzung folgt.)
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