Volltext Seite (XML)
^ri9i Kretberger Anzeiger und Tageblatt. Seite 2. — 18. August. blickt hier zu Dreyfus hinüber, die Achsel zuckend. Er weist nun auf die in dieser Hinsicht von Trarieux gemachten Erklärungen hin und sagt mit dumpfer Stimme: Angesichts einer uninteressirten Mittheilung wie die meine, begreife ich nicht, daß man Mitteil ungen von Personen den Vorzug giebt, die aus dem Verrath Nutzen gezogen haben. Nach diesen Worten weint Roget. Die Schuld deS Dreyfus, erklärt Roget weiter, geht außerdem aus jedem Satze deS Bordereaus hervor. Ueberall befinden sich die Spuren semeS Verrathes. DreyfuS allein und nicht Esterhazy konnte den Truppenbedeckungsvlan kennen. Esterhazy hatte nie mals das Geschütz 120 kennen gelernt. Roget bemüht sich darzuthun, daß Picquart zu betrügerischen Mitteln seine Zuflucht genommen habe, um an die Stelle des Angeklagten einen anderen Schuldigen zu setzen. Roget erklärt, Picquart habe nicht gezögert, mehr als 100000 Frcs. auszugeben, um einen unglücklichen Offizier über wachen zu lassen, welcher keineswegs schuldig war. Dieses Vor gehen sei um so tadelnswerther, da diese 100000 Frcs. eine vom Oberst Sandherr angelegte Reserve bildeten. Roget wirst Pic quart vor, ein Dreyfus belastendes Schriftstück unterdrückt und eS seinen Vorgesetzten verborgen zu haben. Der Vorsitzende schlägt dann dem Zeugen vor, seine Aus sagen zu unterbrechen, da er augenscheinlich ermüdet ist. Hier auf fragt der Vorsitzende Dreyfus, ob er auf diese Aussagen etwas zu erwidern habe. Dreyfus: Es ist furchtbar, daß man mir täglich stunden lang Herz und Seele zerreißt, ohne daß nur die Möglichkeit ge geben ist, zu antworten. Es ist eine schreckliche Qual, welche einem Unschuldigen guferlegt wird! (Lebhafte Bewegung in, Auditorium.) Der Vorsitzende erklärt : Ich gebe Ihnen daS Wort am Ende dieser Zeugenaussage. Die Sitzung wird auf Donnerstag früh 6^ Uhr vertagt. Dreyfus wird abgeführt. Sein Gesicht ist sehr bleich. Das Publikum räumt ohne Zwischenfall den Saal. Haitisch« Umschau. Freiberg, den 17. August. Worte deS Deutschen Kaisers. Während seines Dort munder Aufenthaltes soll der Kaiser die Gelegenheit ergriffen haben, sich über die Politik der Sammlung, die Sozialdemokratie, daS Centrum und die Streikvorlage auszusprechen. Der Kaiser, heißt es, habe den Reichstagsabgeordneten Hilbck in ein kurzes Gespräch über Politik gezogen, als ihm der Abgeordnete durch den Oberbürgermeister Schmieding als stellvertretender Vorsteher der Stadtverordneten und Neichstagsabgeordneter für Dortmund vorgestellt wurde. Der Kaiser habe bemerkt: „Doch nicht von der Opposition?!", worauf Hilbck erwidert habe, daß es in Dort mund in Gemeinschaft mit den Katholiken gelungen sei, diesmal die Sozialdemokraten zu besiegen und einem Nationallideralen zum Siege zu verhelfen. Der Kaiser habe hierauf geantwortet: „ES sollten in der Bekämpfung der Sozialdemokraten alle Par teien einig sein." Er begreife deshalb nicht, wie neuerdings das Centrum sich mit den Sozialdemokraten babe verbinden können. Der Kaiser habe dann selbst das Gespräch auf daS Gesetz zum Schutze der Arbeitswilligen gebracht und erklärt, daß im Herbst in dieser Frage das Centrum erneut Farbe bekennen müsse. Hilbck habe dann noch hinzugesügt, „daß in Dortmund bei Weitem nicht alle diejenigen Leute, die sozialdemokratisch wählten, auch im Herzen Sozialdemokraten seien, sondern daß die große Mehrheit der Bevölkerung durchaus loyal und königstreu sei." Kaiserliches Telegramm. Aus Anlaß des Stapel laufs des Kanonenboots „Tiger" am 15. d. M. hat der Kaiser an den Staatssekretär des Reichs-Marine-Amts folgendes Tele gramm gerichtet: „Wie Ich jeden Zuwachs Meiner Marine mit Freuden begrüßt, so habe Ich auch heute von dem glücklich er folgten Stapellauf Meines Kanonenboots „Tiger" mit lebhafter Befriedigung Kenntniß genommen. Möge der „Tiger" auf allen seinen Fahrten von Gottes Segen begleitet sein und durch seine Laufbahn der Flagge unseres geliebten Vaterlandes, die er über alle Meere tragen wird, Ehre machen." DaS preußische Kriegsministerium erläßt im „Reichsanzeiger" folgende Bekanntmachung: ES wird hiermit erneut zur allgemeinen Kenntniß gebracht, daß den Unteroffizieren und Mannschaften dienstlich verboten ist: 1. jede Betheiligung an Vereinigungen, Versammlungen, Festlichkeiten, Geldsammlungen, zu der nicht vorher besondere dienstliche Erlaubniß ertheilt ist, 2. jede Dritten erkennbar gemachte Bethätigung revolutionärer oder sozialdemokratischer Gesinnung, insbesondere durch ent sprechende Ausrufe, Gesänge oder ähnliche Kundgebungen, 3. das Halten und die Verbreitung revolutionärer oder sozialdemokratischer Schriften, sowie jede Einführung solcher Schriften in Kasernen oder sonstige Dienstlokale. Ferner ist sämmtlichen Angehörigen des aktiven Heeres dienstlich befohlen, von jedem zu ihrer Kenntniß gelangenden Vorhandensein revolutionärer oder sozialdemokratischer Schriften in Kasernen oder anderen Dienstlokalen sofort dienstliche Anzeige zu erstatten. Diese Verbote und Befehle gelten auch für die zu Uebungen eingezogenen und für die zu Kontrollversamm lungen einberufenen Personen des Beurlaubtenstandes, welche gemäß 8 6 des Militär-Strafgesetzbuchs und tz 38 L. 1 des Reichs-Militärgesetzes bis zum Ablauf des Tages der Wieder entlassung bezw. der Kontrollversammlung den Vorschriften des Militär-Strafgesetzbuchs unterstehen. Frachtdampferdien st nach Ost «sie n. Der Fracht dampferdienst der Hamburg-Amerika-Linie und des Norddeutschen Lloyd nach Ostasien wird vom Oktober dieses Jahres ab dahin erweitert werden, daß neben den 14tägigen Expeditionen ab Ham burg und den vierwöchentlichen Expeditionen ab Bremen Expedi tionen der Frachtdampfer alle 4 Wochen von Rotterdam wie von Antwerpen stattfinden. Nach dem vorläufigen Ergebnisse der zweiten Berathung der Kanalvorlage im preußischen Abgeordnetenhause ist anzu nehmen, daß das Schicksal der Vorlage erst in dritter Lesung entschieden iverden wird. Von der ganzen Vorlage wird, wie man annimmt, nur ein Torso, der Dortmund-Rhein-Kanal übrig bleiben und Annahme finden. Man spricht jetzt wieder von der Möglichkeit einer kurzen Vertagung auf Anfang September. Der frühere Abgeordnete von Benda ist, 83 Jahre alt, gestern früh gestorben. Er gehörte 40 Jahre dem prenßischen Abgeordnetenhause und über 30 Jahre dem Reichstage als Mit glied der nationalliberalen Partei an. Oesterreich-Ungarn. Ueber den Aus st and in Kladno wird gemeldet: Der Tag- und Nachtschichtenwechsel bei der Adal bertshütte und der Poldihütte erfolgt nunmehr anstandslos, weil ein starker Gensdarmerieposten jede Belästigung der zum Ein fahren erschienenen Arbeiter verhindert. Jnsgesammt streiken bei der Poldihütte 320, bei der Adalberthütte 195 Personen. Die Ausständigen erbaten die Intervention der Bezirkshauptmann schaft. Tue Hüttenverwaltungen lehnten jede Unterhandlung mit den Ausständigen ab und gaben ihnen bis Donnerstag Frist, die Arbeit wieder auszunehmen, widrigenfalls sie als aus der Arbeit getreten angesehen würden. Portugal. Die Pest in Oporto hat in der letzten Zeit trotz aller sanitären Maßnahmen an Heftigkeit zugenommen. Zweifellos ist die Krankheit zu Schiffe dorthin eingeschleppt wor den, und die verhältnißmäßig ansehnliche Zahl der Pestsälle läßt daraus schließen, daß die Seuche schon seit einiger Zeit dort be- ^hen muß und daß man sie so lange verheimlicht hat, bis ihre epidemische Ausbreitung kein weiteres Vertuschen mehr zuließ. Oporto ist nächst Lissabon die bedeutendste Handels-und Jndustne- stadt Portugals, sie zählt über 140000 Einwohner, liegt an der Mündung des Douro und hat einen sehr regen Schiffsverkehr, auch nach Deutschland und England. Die Befürchtung liegt nahe, daß auf dem Schiffswege auch Pestfälle nach Hamburg und Bremerhaven eingeschleppt werden können. ES wäre daher er- wünscht und würde zur allgemeinen Beruhigung dienen, wenn die deutschen Sanitätsbehörden bekannt geben würden, welch« Maßnahmen sie zu treffen gedenken oder schon getroffen haben, um einer Einschleppung der Pest in deutsches Gebiet vorzubeugen. In Norddeutschland bieten die gesundheitlichen Einrichtung« wohl eine gewisse Gewähr gegen ein Umsichgreifen der Pest; aber wir möchten den Besuch dieses Gastes überhaupt nicht er halten. Die Nachricht, die portugiesischen Behörden hätten 15000 Gewehre, die der deutsche Dampfer „Reichstag" für Rri^ nung Transvaals an Bord gehabt hätte, mit Beschlag belegt, ist unrichtig. Der Dampfer hatte überhaupt keine Gewehre an Bord. 400 Kisten Patronen, die er mitbrachte, wurden ohne jede Beanstandung gelöscht. Schweden und Norwegen. Die Frage der allge. meinen Wehrpflicht macht jetzt häufiger in Schweden von sich reden, waS als eins der Anzeichen dafür aufzufassen ist, daß die Regierung dem nächsten Reichstag wirklich einen dahingehen den Vorschlag zugehen lasten wird. Die militärischen Kreise Schwedens sind der Ansicht, daß man unbedingt zur allgemeinen Wehrpflicht übergehen müsse, wenn man zu befriedigenden Zu ständen kommen wolle und man denkt sich eine Dienstzeit von acht bis zwölf Monaten, während gegenwärtig die militärpflich tigen Schweden nur eine neunzigtägige Uebung durchzumachen haben. An der schließlichen Einführung der allgemeinen Wehr pflicht ist um so weniger zu zweifeln, als das gegenwärtige System die großen Mängel mit sich bringt, daß sich nur die schlechtesten Leute anwerben lasten, und die Truppentheile sind nie vollzählig; hinzu kommt noch, daß daS gegenwärtige System recht kostspielig ist. Uebrigens wird diese Angelegenheit auch in Norwegen erörtert, indem man meint, daß auch hier eine längere Dienstzeit eintreten müsse. Ruhland. Ein kaiserlicher Befehl an den Finanz minister besagt: „Durch seine großen Besitzungen ist Rußland in Europa und Asien mit Gottes Hilfe eine Annäherung der Völker des Westens und des Ostens ermöglicht, und durch freund liches Entgegenkommen Chinas ist es gelungen, dies historische Ziel in Erfüllung zu bringen, indem wir die Benutzung zweier chinesischer Häfen, Talienwan und Port Arthur, mit einem großen Gebiete erhalten haben, wodurch der große sibirische Bahn- wcg bis zum Gelben Meere ermöglicht wird. Dank eines weisen Beschlusses der chinesischen Regierung werden wir durch die im Bau begriffenen Eisenbahnlinien mit China vereinigt, was allen Nationen unzähligen Gewinn und bequeme Verkehrswege bringt, sowie die Umsätze des Welthandels erleichtert. Unermüdlich Sorge tragend für die allgemeinen Vortheile, hielten wir es für nothwendig, nach Beendigung der Eisenbahnlinien bis zu dem Hasen Talienwan diesen als Freihafen für den ganzen Zeitraum des am 27. März 1898 neuen Stils zwischen Rußland und China abgeschlossenen Pachtvertrages für Handelsschiffe aller Nationen zu erklären und neben dem genannten Hafen eine neue Stadt, Dalnij, zu erbauen. König Alexander von Serbien hat aus Anlaß seines Geburts tages 117 wegen verschiedener Verbrechen verurtheilte Per sonen begnadigt. Steffie's Heirath. Roman von Heinrich Lee. (SS. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) „Du wirst aber Ruhe brauchen, Steffie, die Fahrt hat Dich schon ermüdet", sagte er — „und wir haben noch eine ganze Nacht im Coups vor uns." Obwohl sie blaß und abgespannt aussah, so schüttelte sie doch den Kopf: „Ich wünschte bloß, daß die Reise bald vorüber wäre", antwortete sie. So drang er nicht mehr in sie. Weil die Gelegenheit, daß sie einen Wunsch an ihn hatte, sich selten bot und weil alle ihre Wünsche nur die .bescheidensten waren, so hatte er sich daran gewöhnt, nie in sie 'zu drängen, auch wenn es sich um ihr eigenstes Bestes handelte. So reisten sie in Berlin, ohne den Bahnhof zu verlasten, weiter. Fast ohne ein Wort mit einander zu wechseln, ein Jeder nur mit sich selber beschäftigt, so saßen sie sich im Wagen gegenüber, Steffie in einen grauen Reisemantel gehüllt und die glanzlosen starren Augen hinaus auf die schon herbstlich gefärbte Land schaft gerichtet, er in die Zeitungen vertieft — Beide das Bild eines vornehmen Ehepaares, über das sich keiner der Mitreisen den irgendwie verwundert hätte. Das änderte sich zwischen ihnen auch nicht, als sie von einer großen Station ab endlich miteinander allein waren. Es wurde draußen dunkel und durch den dämmerig gewordenen winzigen Raum, der sic nun umschloß, ergoß sich jetzt von der Ampel an der Decke das milde Licht. „Du wirst jetzt schlafen wollen", sagte er. Er war aufgestanden, um über die Ampel die blauen Vor hänge herabzulasten. „Laß nur", erwiderte sie — „Du hast sonst kein Licht zum Lesen." Eine Antwort schwebte ihm auf der Zunge, die Antwort: „Ich brauche dazu kein Licht. Ich lese ja auch gar nicht, wenn lesen heißt: Das in sich aufnehmen, was man liest. Was geht mich die Welt mit ihren fremden Dingen an, wenn ich an mich und Dich nur denken kann, wenn Du mir hier gegenüber sitzest, allein, so nahe, daß ich Acht auf mich geben muß, daß Dich mein Knie nicht streift. Du mir so nahe und doch so ewig weit. Du mein Weib und doch mir noch fremder als diese gleichgiltige Welt. Laß uns dieses Schweigen brechen und willst Du nicht reden, so laß michs!" Reden! Und was? Sie liebte ihn nicht mehr und Alles, was er ihr sagen konnte, das war für ihre Seele leerer Schall, der kein Echo mehr in ihr wiederfindeu konnte. „Ich habe genug gelesen", erwiderte er, „und bin selbst ein tbischen müde. Wenn Du also erlaubst!" „Bitte!" Mochte sie immerhin an seine eigene vorgeschützte Müdig keit glauben, wenn sie nur selbst dabei zur Ruhe kam. Am liebsten hätte er sich jetzt, wo sie im Coups allein waren, eine Cigarre angesteckt, aber zu den vielen kleinen Rücksichten, zu denen er sich erzogen hatte, um Steffie damit zu umgeben, ge hörte auch die, daß er zu Hause, wenn er rauchte, sich dabei nur auf sein Zimmer beschränkte. Als waren sich ihre Gedanken begegnet, so sagte sie mit der leisen Freundlichkeit, die er an ihr kannte und mit der sie ihm eine eigenen Rücksichtnahmen vergelten zu wollen schien: „Willst Du nicht rauchen?" „Ich fürchte Dich hier in der Enge damit zu belästigen." „Nein, das thust Du nicht," erwiderte sie fast hastig — „das thust Du wirklich nicht. Bitte, rauche doch!" Er errieth sie. Sie hatte Furcht, er könnte ihr, indem er ihretwegen auf die Cigarren verzichtete, vielleicht wohl gar ein Opfer bringen. Das war für sie von allen Gefühlen, die er ihr einflößte, eins der empfindlichsten. Still saßen sie sich wieder gegenüber. Gleichmäßig und ein tönig rollten unter ihnen die Räder fort; aus der Nacht, die zu den Fenstern hereinsah und durch deren eines jetzt, Spirale bil dend, die blauen Wölkchen zogen, blitzte hie und da ein Licht auf, am Himmel funkelte über der werten, finsteren Ebene kein Stern. Steffie hatte sich zurück in die Kisten gelehnt und die Augen geschloffen. Sie schien bereits zu schlafen. Jetzt erst durfte er seine Blicke auf ihr ruhen lasten. Es war das erste Mal, daß er sie schlummern sah. Wenn die meisten Gesichter im Schlafe etwas Ausdrucks loses bekommen, war es bei dem ihrigen, als gewänne alles, was darin geschrieben stand, eine nur noch deutlichere, schärfere Ge stalt. Das Starre, Maskenhafte, was ihm, wenn sie wachte, eigen war, die künstliche Spannung darin löste sich auf und die Wahrheit, wie sie ihre Seele selbst noch im Schlafe zu beherr schen schien, trat auf ihm hervor. Ihre Züge sahen herbe, streng, wie versteinert aus und die blaffe Farbe erhöhte nur noch diesen Eindruck. Etwas Unversöhnliches starrte ihm daraus entgegen, etwas, vor dem ihm auch der letzte Muth entsinken mußte. Der Muth zu was? Danach fragte er sich jetzt. War es vielleicht so weit bereits mit ihm gekommen, daß ihm kein an deres Ziel mehr des Lebens Werth erschien, als das, ihre Ver zeihung zu erlangen? Wenn er sich nicht glücklich mit ihr fühlte, so wenig glücklich, wie sie es selber war — warum suchte er sich nicht zu trösten? Gab es nicht der Tröstungen, wie er sie von früher her aus seinen flotten Zeiten doch nicht ganz ver gessen haben konnte, noch genug? Für die Kameraden war er so gut wie lächerlich geworden und lächerlich fand er sich selbst. <L>ie war sein Weib und sie verschmähte ihn und von dem tollen Brockstreek, wie er einstmals hieß, war nicht mehr so viel übrig, um sich mit Gemächlichleit nach einem Ersatz umzusehen. War er denn noch derselbe Mensch? Sie war es, die ihn so umgcwandelt hatte. Was fühlte er für sie? Mitleid. Nein, das war vorbei, denn sie hatte sich an ihm gerächt, sie hatte nichts mehr vor ihm voraus. Er grübelte nicht mehr. Nur noch ihr Anblick füllte ihn an. Ihre Lippen hatten sich halb geöffnet, so daß die weißen, feinen Zähnchen hindurch schimmerten. Leise und gleichmäßig hob und senkte der Athem ihre mädchenhaft knospende Brust. Ueber ihre Wangen breitete sich allmählich eine zarte durchsich- tibe Röthe. Eine unwiderstehliche Wallung überkam ihn. Un hörbar zu ihr sich niederzuneigen und sie zu küssen, wie einst; nur daß sie nichts davon merkte. Stehlen wollte er, was sie ihm aus freien Stücken nicht mehr gewähren wollte. Stehlen? Sie war sein Weib und es war sein Recht. Und wenn sie auch erwachte, und er umschlang sie und zwang sie an seine Brust, in seine Arme — es war sein volles Rechst Keine Macht der Erde konnte es ihm verwehren, am wenigsten sie selbst, denn sein war die Kraft und sie hätte nichts anderes gekannt, als beben und weinen. Ein dunkler Taumel überfiel ihn. Warum besann er sich, warum zögerte er noch? Die Gelegenheit bot sich ihm geradezu dar, eine bessere fand sich vielleicht niemals wieder. Wenn er behutsam war, wenn er sich mit dem leisen Kuß begnügte, so war, daß sie davon erwachte, nicht einmal zu befürchten. Der grelle Pfiff der Lokomotive zog am Coupä- fenster vorbei und kündigte die nahende große Station an, wo es wieder Aufenthalt gab, wo die Thllren wieder aufgerissen wurden, wo der Lärm sie wieder wecken mußte und wo das Coup6 vielleicht sich wieber mit neuen Menschen füllte. Er lauschte, ob sie von dem Pfiff erwachte, aber sie schlief ruhig weiter. Nur wenige Minuten waren ihm noch vergönnt. Da erhob er sich. Mit der zitternden Hand sich oben an das Netz festhaltend, neigte er sich zu ihr. Er spürte ihren Athem sich entgegenwehen — m diesem Momente boq er sich zurück. Sie schlug die Augen zu ihm auf und noch halb vom Schlaf befangen sah sie ihn mit Erstaunen an. „Was willst Du?" fragte sie. „Der Zug wird gleich halten, ich wollte Dich nur wecken", stammelte er sinnlos. Als die Station erreicht war, stiegen zwei Herren ein, die nach flüchtigem Gruße sofort in eine rege fachmännische Unter haltung über den Bremer Tabak- und Cigarrenhandel geriethen und zu erkennen gaben, daß sie keineswegs gewillt waren, zum Tröste etwaiger Anwesenden später einzuschlafen. Sie plau derten denn auch, während Steffie wieder sanft entschlummerte, bis zum Grauen des Morgens. Die Windmühlen und die rothcn Dächer der Stadt Norden tauchten auf. Die wenigen Passagiere, die um diese Jahreszeit noch gleichfalls mit nach Norderney wollten, stiegen aus. Am Fährhause beim Nord deich hielt bereits der Dampfer. Brockstreek hatte das Gepat durch die Rhederei schon vorausgehen lassen und ohne Aufent halt stiegen sie auf. Zum erstenmal sah Steffie das Meer. Alle Müdigkeit war von ihr gewichen. Der steife kalte Wind, der von Norden Her lam, und ihr ins Gesicht blies, verschlug ihr nichts. Ueber die dunkelblaue, leicht aufgerührte Fläche schimmerte drüben, so deutlich wie zum Greifen, Norderney. Er brachte ihr einen Feldstuhl. „Wllst Du Dich nicht setzen?" sagte er. Sie dankte nur kurz und blieb stehen. Ihre Augen leuchteten, wie sie an dem Wogenteppich hingen, wieder im alten Glanz. Alles Leid darin war ausgelöscht, ver gessen vor dem großen Zauber, der sich vor ihr breitete. Sie wünschte, die Insel, die mit ihren eleganten hübschen Gebäuden immer näher kam, wäre nicht da und das Schiff tnebe so ewig in die blaue feuchte Unendlichkeit fort und es trüge Niemand als nur sie allein . . . Das Trugbild der Welt war versunken, in die Wellen . . . Sie selber aber schwebte in die Freiheit hinein, ohne Erdenschwere mehr, bis sie verging und nichts weiter war als einer der Milliarden Tropfen in diesem krystallenen Reich, der nichts mehr von sich fühlte und wußte. (Fortsetzung folgt.)