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bürgermetster von Berlin für die Dauer von zwölf Jahren und unter Beilegung des Titels Oberbürger meister. Die österreichisch-ungarischen Offiziere, die am Distanzritt Wien »Berlin theilgenommen haben, werden Dienstag Abend oder Mittwoch früh die Retchshauptftadt verlassen und nach Dresden reisen, um dort mit ihren deutschen Kameraden vom Könize Albert empfangen zu werden. Am Sonntag unter nahmen die Herren eine Dampferfahrt auf der Havel nach Potsdam, am Montag wurden sie vom Kaiser im Neuen Palais empfangen und zur Tafel gezogen, welcher großer Zapfenstreich folgte. Der Kaiser sprach den Herren seine aufrichtige Anerkennung aus. Heute Dienstag ist noch große Parforcejagd im Grunewald. In Wolsenbüttel hat ein socialistischer Landes- Parteitag für Braunschweig stattgefunden, auf welchem die Genossen einander scharf in die Haare geriethen. Lebhafte Angriffe erfolgten gegen den Par- teivorstand, welchem Corruption, Personencultus -und eigenmächtige Verwendung von Parteigeldern vorge worfen wurde. Der Abg. Blos protestirte in scharfen Worten. Weitere Erörterungen darüber sollen auf dem Berliner Kongreß erfolgen. Der Reichstag tritt gegen Ende November zu sammen. Demselben geht sofort der Etat zu. Die Mtlttärvorlage gelangt erst nach Neujahr an den Reichstag. Die socialdemokratischen Arbeiter-Sänger- vereine haben sich immer mehr ausgebrettet; es soll bereits 2000 Vereine mit rund 150,000 Mitgliedern im deutschen Reiche geben. Für den 25. December ist in Berlin eine Delegirtenversammlung der Sänger- Vereine geplant, um eine einheitliche Leitung zu schaffen. Daß diese Vereinsbildungen nicht unterschätzt werden dürfen, liegt aus der Hand. Die russische Regierung geht in der That, wie wohl unterrichtete Privatmeldungen aus Petersburg beweisen, mit dem Gedanken um, eine neue große Anleihe aufzunehmen und bet dieser Gelegenheit so viel Geld, wie nur irgend möglich, einzuheimsen. Wollten die Moskowiter nur ihre französischen Bundesbrüder mit ihren neuen Pumpversuchen bedenken, so könnte uns die ganze Affaire unendlich gletchgilttg sein; allein es ist kein Zweifel daran, daß sehr eifrig versucht wird, Fäden auch nach Deutschland biEer zu spinnen und mit Hilfe der deutschen „Hochfinanz" das Geld der deutschen Kapitalisten in russische Taschen zu letten. Das deutsche Publikum verdankt der Hochfinanz schon Unmassen von minderwcrthigen fremden Papieren, bet welchen mehr Geld verloren ist, als die ganze neue Mtlttärvorlage in diversen Jahren kosten wird, eS wird hoffentlich den Schlaumeiern, welche den eigenen Säckel nur kräftig füllen, aber sich um das Publikum nicht im Geringsten kümmern, die zutreffende Antwort geben. Wird eine neue russische Anleihe in Deutschland aufgelegt, so mag das Publikum auch nicht ein Stück davon kaufen. Mögen sich die Börsianer damit amü- firen, so viel sie wollen, dann kostet es lediglich ihr Geld. Es giebt keine schlimmeren Papiere, als die des Halbbankerolten Rußland: Wenn der Ezar keine Zinsen mehr zahlm kann oder will, kann ihn kein Staat Europas dazu zwingen. Am Montag wurden bezüglich der Cholera amt lich in Hamburg gemeldet 21 Erkrankungen und 4 Todesfälle. In Berlin find neue Fälle von asiatischer Cholera nicht vorgekommen, es ist auch nur ein ein ziger Cholerakranker, ein ArbettshäuSler aus Rummels burg, noch Im Lazareth vorhanden. Die Genesung des Patienten erscheint aber sicher. An choleraähnltchen Krankheiten leiden noch 40 Personen. Neue Fälle find noch constatirt in Küstrin, Fürstenwalde, Demmin, Swinemünde. Im Allgemeinen besteht aber wohl nirgends mehr Besorgntß vor einem erneuten Auftau chen der Epidemie. Der Reichscommtflar im Strom gebiet der Elbe, Frhr. von Richthofen, der seines Amtes mit großer Energie waltet, wurde Montag vom Großherzoge von Mecklenburg-Schwerin in Spe cialaudieuz empfangen. In einer Erörterung der „Nordd. Allg. Ztg." über die Börsenenquete wird angedeutet, daß sich ein weit gehendes Einvcrständniß der Vertreter des Effectenge- schäfts habe dahin wahrnehmen lassen, es sei an der Zeit, gewissen Auswüchsen des Verkehrs, namentlich hinsichtlich des Maklerwesens und der Verleitung zum Börsenspiel, mit solcher Energie zu begegnen, daß nicht zu gewissen Zeiten und an manchen Verkehrscentren eine Ueberwucherung des soliden Geschäftes durch das unsolide einlreten könne. In Sachen der Mtlttärvorlage schreibt ein Blatt, für dessen Mittheilungrn wir aber keine Verantwortung übernehmen: Eine hohe Persönlichkeit vom Hofe habe Folgendes auSeinandergesetzt: Der Kaiser hat sich für die Mtlttärvorlage verbindlich gemacht. Als Caprivi diese Vorlage im Bundcsrathe (?) vorlegte, hat der Monarch an ihn ein Glückwunschschreiben gerichtet und darin das Project eine patriotische That genannt. Später hat er in der Unterredung mit mehreren Würden trägern des Hofes gesagt: „Ich habe auf das Volks schulgesetz verzichtet, aber die Mtlttärvorlage werde ich niemals zurückztehen." Caprivi ist also seiner Sache sicher, er riskirt dabei sehr wenig. Der Kaiser hat am Dienstag Abend (?) in Potsdam sogar zu ihm gesagt: „Ich werde diesmal bis zum Aeußersten gehen. Wenn es nöthig ist, werden wir den Reichstag fort- schicken, und wenn daraus eine regierungsfeindliche Majorität hervorgeht, so werden wir ihn von Neuem auflösen, bis man die Vorlage durchbringen kann." Der Kaiser itenltfictrt sich also in Zukunft mit dieser Vorlage und er würde jeden Minister entlassen, der sich direct oder indirekt hter widersetzen würde. Die deutschen Distanzreiter in Wien, die dort Gegenstand andauernder Ovationen find, find nun auch in der Hofburg vom Kaiser Franz Joseph empfangen, der den Offizieren seine vollste Anerkennung für ihre Leistungen aussprach. Daran schloß sich große Tafel, an welcher auch zahlreiche höhere einheimische Offiziere theilnahmen. Montag war große Jagd, Dienstag soll nach der Ankunft des Kaisers Wilhelm in Wien die Abreise der Distanzreiter nach Dresden erfolge«, wo § sie mit den österreichischen Kameraden, die von Berlin i kommen, zusammentreffen werden. - Die Cholera nimmt in Budapest bei der kühlen Witterung weiter ab. Neu aufgetreten ist die Seuche ' in Szegedtn, wo vier Erkrankungen vorgekommeu find. Frankreich. In der jetzt wieder beginnenden Pariser Kammer« sesfion wird der neue französisch-schweizerische ; Handelsvertrag zur Debatte kommen. Die streng ; schutzzöllnertsche Partei unter Führung des Abg. Meline - will den Vertrag bekämpfen, weil der Schweiz zu weitgehende Zugeständnisse gemacht worden seien. ES ist leicht möglich, daß der ganze Entwurf scheitert. In der Kammer soll auch das thörichte Gerücht zur Sprache gebracht werden, nach welchem deutsche Hand« E lungshäuser dem König von Dahomey Waffen gel'efert i hätten. Eine Entscheidungsschlacht zwischen Franzosen und Schwarzen wird in Dahomey noch im Verlaufe dieser Woche erwartet. Jtalieru f Der König von Italien hat alle Geschenke zu seiner bevorstehenden silbernen Hochzeit abgelehnt und nur den Wunsch ausgesprochen, der Tag möge di« Veranlassung zu Werken der Wohlthätigkeit bilden. Serbien. Die Zustände in Serbien werden immer trostloser, das politische Räuberwesen greift um sich und in der Verwaltung ergeben sich die gröbsten Mißbräuche. Geld fehlt im Lande, die Steuerrückstände betragen schon 20 Millionen. Die Erbitterung ist unbeschreib lich. Der Pandur des Bezirksamtes Poscharewatz, Namens Miloja, feuerte auf offener Landstraße vier Revolverschüfse auf den früheren Ministerpräsidenten Pafitsch ab, der in einem Wagen vorbetfuhr. Pafitsch ist nur gestreift, der Pandur ist sofort verhaftet. Griechenland. Im Königreiche Griechenland ist ein neues Schul gesetz perfect geworden, das ganz besonders den Haß der studtrenden Jugend auf sich zieht. In Athen fand am Sonntag deshalb ein großer Studentenkrawall statt, welcher das Einschreiten ovn Polizei und Militär erforderlich machte. Nach der Vornahme einer Anzahl von Verhaftungen wurde die Ruhe wiederhergestellt. Amerika. Die Etnwethungsfeterltchkettcn der Weltausstellung m Chicago werden in Gegenwart des Untonspräfi- i denten General Harrison und aller höheren Behörden der Vereinigten Staaten von Nordamerika am 21. , October stattfinden. Die Vorbereitungen dazu find schon getroffen. Der Bürgerkrieg in Venezuela hat mit dem Stege der Ausständigen unter General CreSpo und der Flucht des bisherigen Präsidenten seinen Abschluß gefunden. General Crespo hat vorläufig die Leitung der Regie rung übernommen. Ein schwieriges Stück wird es noch bleiben, die raubenden und plündernden Soldaten, welche während des Bürgerkrieges direct zu Banditen geworden find, wieder zur Raison zu bringen. Feuilleton. Die Bettlerin. Originalnovelle von F. Fichtner. (Fortsetzung.) „Du hast ja noch das Grab, Barbara, höre doch," flehte Edith angstvoll; fie nahm ihr gewaltsam die Schürze herunter und küßte das alte, runzliche, thränen- naffe Gesicht unzähligemal. „Jetzt muß ich gehen, Barbara, Du hättest nicht so weinen sollen, Du machst es mir so schwer!" ES war die höchste Zett; hinaus flog Edith, auf den Wagen, noch ein inniger Blick zurück auf das traute Heim und auf Barbaras Fenster, da stand fie und zwang sich zu einem Lächeln, was noch viel schlimmer als Weinen aussah. Adieu, Adieu! — Muthig zogen die Pferde an. In schnellem Trabe an den blühenden Gärten vorüber ging es die Dorf straße entlang. Vor den sauberen Gehöften, welche heute im tiefsten Frieden der Sonntagsruhe pflegten, standen hier und da die Schulgenofsen Edith's, bereit zum Gange nach der Kirche. Sie nickte allen freund lich zu und einige liefen wohl, so schnell fie konnten, ein Stück Wegs hinter dem Wagen, ihr wiederholt Lebewohl nachrufend. Als man in die grünen Felder htneinfuhr, blickte Edith noch einmal zurück. Es war ein Abschiedsbltck in ihre Ktnderzeit. Da grüßte noch einmal das traute Kirchlein aus den blühenden Bäumen und vom alten Thurme herab riefen die Glocken zur Sonntagsseier. „Laß Dir nicht bange werden, Eddi; bet uns wird Dtr's auch gefallen," sagte der gutmüthtge Ernst, als er gewahrte, wte Edith's Augen voll Thränen standen. „Wollen wir nicht ein lustiges Lied singen? In den frischen, fröhlichen Tag hinein kltngt's gewiß am besten. Stimm'einmal an, Vetter Richard, Du weißt ja immer was Lustiges." Und Vetter Richard, der Spaßmacher der ganzen großen SttftSgemeinde Marien berg, begann sofort, die Situation erkennend, das end lose, finnreiche Lied: „Was kommt dort von der Höh'?" aus vollem Halse zu fingen, und hörte nicht eher auf, bis Edith und alle Insassen des Wagen vor Lachen sich nicht mehr halten konnten. Nun war die Stim mung, wie man fie zu einer solchen Sonntagsfahrt brauchen konnte. Edith kannte sich selbst nicht mehr! War fie denn kein Kind mehr, das Barbara noch vor vierzehn Tagen eigenhändig gewaschen hatte? Sie sprachen doch alle zu ihr, wie zu einem erwachsenen Mädchen! Das machten gewiß die neuen Kleider. Gewiß trug dies viel dazu bei, daß ketns von ihrer jetzigen Umgebung sie in ihren Kinderkletdern gesehen; zudem bildete sie, die sich sonst in allen Winkeln ver barg, den Mittelpunkt der Gesellschaft; jeder bemühte sich nach besten Kräften, ihr die Trennung leicht zu machen. Und wie erstaunte Edith, als fie hineinfuhren in die waldgekrönten Höhen! Wte konnte sie nicht Wunder genug sehen an den zierlichen hölzernen Häuschen, die an den Abhängen klebten, als wären fie, aus einer Schachtel gefallen, dort hängen geblieben! Dunkle Waldpartien wechselten mit smaragdgrünen, saftigen Wiesen, durch welche krystallhelle Bächlein rieselten. Gelbe Schmirgelblüthen tauchten die Köpf chen hinein und hter und da lauschte ein blaues Ver- gtßmetnnichtsternchen dem murmelnden Wellengertesel. Sonnige Frühltngsluft und köstlicher Waldesduft be rauschten Edtth's empfängliche Seele, so daß sie laut htnauSjauchzte: „Wte ist doch die Erde so schön, so schön, so schön!" Höchst befriedigt blickte Ernst auf seine Nachbarin. „Stehst Du, hab' tch Dtr's nicht gesagt? Warte nur, es kommt aber noch besser," sagte er, und trieb die Pferde zu neuem Lauf. Sie hatte sich zu ihm gesetzt, um alles aus erster Hand zu genießen. „Im nächsten Dorfe werden wir ein paar Stunden rasten und dann geht's weiter — so gegen acht Uhr müssen wir zu Hause sein," entschied Ernst. Und als sie an einer großen Brauerei zur Rast kamen und einen Imbiß nahmen, hatte es Edith noch nie so gut gemundet, als hier. „Die Gebirgsluft hat Dir ja schon rothe Backen gemalt, Eddi," bemerkte Vetter Richard. „Ist es wahr?" fragte fie lächelnd und wurde erst recht roth. Sie fühlte sich so wohl, alle waren lieb und freundlich zu ihr;, besonders auch Wanda, die Tochter der Frau Majorin, Tante's bester Freundin. Diese, ein liebenswürdiges Mädchen von siebzehn Jahren, war gern auf Tante Franziskas Bitten mttgefahren, um über Edith zu wachen und sie glücklich zur Tante zu bringen. Es war nicht anders möglich, als daß die beiden Mädchen recht gute Freundinnen wurden. Die Unbefangenheit Edtth's entzückte Wanda. In der Pension, wo fie erzogen, waren die Mädchen alle so steif und förmlich, sie hatte es nicht vermocht, sich an eine enger anzuschlteßen. Sie wußte es, Mama würde gewiß auch an dem natürlichen Wesen Edith's Freude haben, und freute sich deshalb aufrichtig der jungen Freundin. Die Sonne senkte sich schon gegen Westen, als man vom letzten Gebirgsstädtchen etwa noch eine kleine halbe Stunde bis zum Ziele zu fahren hatte. Wte ein weißes Band schlang sich die mit Pappeln umsäumte Chaussee durch die Hügel und Abhänge des Gebirges; die Szenerie wurde immer malerischer, man war tief drinnen im Gebirge. Die Pferde waren von der an strengenden Fahrt müde, ebenso auch die vordem so lustige Gesellschaft. Alle sehnten sich nach dem Ende. (Fortsetzung folgt.)