Suche löschen...
Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 25.06.1899
- Erscheinungsdatum
- 1899-06-25
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1878454692-189906256
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1878454692-18990625
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1878454692-18990625
- Sammlungen
- Zeitungen
- Saxonica
- LDP: Zeitungen
- Bemerkung
- Fehlende Seiten in der Vorlage.
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Freiberger Anzeiger und Tageblatt
-
Jahr
1899
-
Monat
1899-06
- Tag 1899-06-25
-
Monat
1899-06
-
Jahr
1899
- Titel
- Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 25.06.1899
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
146 Freiberger Anzeiger und Tageblatt. Seite 2. — 25. Juni. 18S9 Aie »rrflossene Msche. Noch am Ende seiner Tage schwang sich der Reichstag zu gewichtigen Aktionen auf, Aktionen, die ihm die öffentliche Auf merksamkeit in so hohem Maße zuwendeten, wie kaum jemals in dieser seiner ersten Session. Die sogenannte Zuchthausvorlage — es sei uns gestattet, diesen an sich ;a unzutreffenden Aus druck zu gebrauchen — war es, die ihn dazu anregte. In vier tägigen, heißen Redekämpfen wurde um den Gesetzentwurf ge stritten, der schon, ehe sein Inhalt bekannt war, mit allen Mitteln rasfinirter Agitationskunst bekänipst worden war. Ein Wunder war es nicht zu nennen, wenn gegenüber dieser Auf stachelung der Volksleidenschaft eine objektive, kühle und ruhige Prüfung des Gesetzentwurfes nicht Platz greifen konnte. Selbst wenn man der Meinung wäre, daß die Vorlage in der Form, in der sie eingebracht worden war, nicht Gesetz werden konnte, den Versuch, aus ihr etwas Brauchbares zu schaffen, hätte sie aber wohl verdient. Daß der Terrorismus, der in all denwirth- schastlichen Kämpfen der letzten Zeit in manchmal geradezu er schreckender Weise sich breit machte, äußerst bedauerliche Er scheinungen im Gefolge gehabt hat, wird keiner bestreiten können, der aufmerksamen Auges die Entwickelung der wirthschaftlichen Organisation verfolgt hat. Solchen Erscheinungen das Auge zu verschließen, oder ihnen müßig zuzuschauen, ist ein schwerer Fehler, der sich später bitter rächen wird. Diesen Fehler zu be gehen, könnte uns am allerwenigsten der nationalllberale Herr Bassermann veranlassen, der als Grund seiner Ablehnung der Vorlage wie der Kommissionsberathung in der Hauptsache anführte, daß die monarchisch gesinnten Arbeiter dann vielleicht an den bürgerlichen Parteien zweifeln und in der Angst um das bedrohte Koalitionsrecht der Sozialdemokratie in die Arme fallen würden. Das ist eine würdelose Verbeugung vor der Agitation der Sozialdemokratie! Abgeordneter Bassermann tischte dabei das alte, längst schon abgethane Märchen von der sozial demokratischen Mauserung wiederum auf. Der Grund-Jrrthum solcher Anschauung ist ein doppelter; er liegt einmal in der Täuschung über den thatsächlichen Entwicklungsgang und sodann in der falschen Auffassung von Pflicht und Wesen des Staates. ES heißt dem Staate eine gradezu entwürdigende, mit seinem traditionellen Berufe durchaus unvereinbare Aufgabe zuweisen wollen, wenn man verlangt, derselbe solle mit verschränkten Arme» den Augenblick erwarten, wo es der Sozialdemokratie be liebt, sich weiterer Eingriffe in die staatliche Macht-Sphäre zu enthalten. Dieser Meinung ist auch ein Theil der Fraklions- kollegen deS Herrn Bassermann, insbesondere haben sächsische Nationalliberale in demselben Sinne an die Reichstagsfraktion eine Resolution gesandt. Was den Debatten um die „Zuchthausvorlage" den Stempel aufdrückt, war die Siegesgewißheit der Sozialdemokratie. Solchen Radau, wie ihn die linke Seite des Hauses diesmal machte, hat der Sitzungssaal des Reichstags selten gehört. Man lese nur einmal die stenographischen Parlamentsberichte nach, soweit sie sich aus die Freunde der Vorlage beziehen. Bian wird finden, daß die Befürworter der Vorlage fast nach jedem Satz durch einen albernen Zwischenruf oder durch ostentatives Gelächter unterbrochen worden sind und daß es zeitweilig der äußersten Anstrengung des Präsidenten bedurft hat, die Ordnung aufrecht zu erhalten. Auf solche Weise wahren die Herren aus der Linken wahrlich nicht die Würde des Parlaments. Ein erfreulicheres Bild bot die Berathung über den Karo- linenkauf, bei der Herr v. Bülow einen vollen Erfolg und die Erhebung in den Grafenstand davontrug. Wenn auch einzelne leise Bedenken über die wirthschaftlichen Folgen des mit Spanien geschlossenen Vertrags laut wurden, so würdigte man doch überall — natürlich mit Ausnahme des Freisinns und der Sozialdemo kratie — die nationalen Gesichtspunkte, die der Staatssekretär hervorhob. Die Vertheidigung des gegnerischen Standpunkts war, da Eugen, der Stimmgewaltige, zu seinem großen Schmerz auS gesundheitlichen Rücksichten nicht den Berathungen beiwohnen konnte, äußerst schwach, sodaß Herr v. Bülow in liebenswürdiger jovialer Form mit aller Leichtigkeit die Gegengründe des Frei sinns zerpflücken und der Vorlage eine große Majorität sichern konnte. So haben diese Tage doch wenigstens ein Gutes ge bracht. Auch eine Erklärung des Staatssekretärs v. Bülow über die Samoafrage muß hier registrirt werden. Herr v. Bülow benutzte einen Ausfall, den der Abgeordnete Liebermann von Sonnenberg bei Gelegenheit der Berathung des deutsch-englischen Handelsabkommens wegen der Samva-Affäre gegen England richtete, um über den jetzigen Stand der Dinge auf Samoa Auf schluß zu geben. Bemerkenswerth an dieser Erklärung war einer seits die Schärfe, mit der Herr v. Bülow betonte, daß unser Rechtsgefühl durch die samoanischen Vorgänge auf das Aeußerste verletzt sei, andererseits das Versprechen, daß Deutschland auch nicht um eines Haares Breite von seinem Recht abweichen werde. Auch in Bezug auf die Entschädigungsfrage gab die Erklärung Herrn v. Bülows die besten Ausblicke in die Zukunft. Abgesehen von diesen parlamentarischen Verhandlungen herrschte auf dem Gebiete unserer inneren wie äußeren Politik in dieser Woche völlige Ruhe. Der Kaiser hat daher auch unge stört seinem Trholungssport, dem Segeln, sich hingeben können. An der Waterkant wohnte er den verschiedenen Regatten bei, die .zu der Kieler Woche hinüberleiten. Dabei nun hat er in Bruns büttel eine Rede gehalten, die freudige Zustimmung im Reiche gefunden hat. Die Rede legte wieder davon Zeugniß ab, wie unser Kaiser bestrebt ist, das Verständniß sür das Seewesen in unserem Volke zu fördern und dem Gedanken, daß die Zukunft Deutschlands auf dem Wasser liegt, in den weitesten Kreisen Ein gang zu verschaffen. Wenn er erklärte, daß es ein Grundsatz seiner Politik sei, dem deutschen Volke Erwerbungen zu machen, die noch unseren Nachkommen zur Quelle reichen Segens sein werden, so «st diese Erklärung auf das Freudigste begrüßt worden. Trifft doch der Vergleich, den der Kaiser unter Hin weis aus das edle Vollblutpferd machte, völlig zu, ist doch that- sächsich das deutsche Volk unter Anspannung aller Kräfte bestrebt, seine Stellung im Rathe der Völker zu behaupten. In Frankreich ist die Lage noch immer verwickelt, obgleich eS nach allen möglichen Kombinationen Waldeck-Rousseau endlich ge lungen ist, ein neues Kabinett zu bilden. Die Ankunft Drehsus' rückt näher und mit ihr die Gefahr ernster Ruhestörungen. Es ist deshalb dringend zu wünschen, daß das neue Ministerium mit einheitlichem Willen und thatkräftiger Entschlossenheit die Zügel der Regierung in die Hände nimmt. In Transvaal ist zur Zeit noch alles beim Alten; Eng land legt es darauf an, durch militärische Demonstrationen den Freistaat einzuschüchtern. Ai« der serbisch-albanischen Grenze haben unliebsame Zwischenfälle stattgcfundcn, die jedoch aller Voraussicht nach keine Weiterungen haben werden. Sonst machte das Ausland in der vergangenen Woche nicht von sich reden. Politische Umschau. Freiberg, den 24. Juni. Der „Daily Mail" zufolge wird jetzt endgiltig beschlossen, daß der junge Herzog von Albany Thronfolger in Koburg wird. Er begiebt sich demnächst nach Deutschland, wo er erzogen werden soll. Zur Erhebung deS Staatssekretärs des auswärtigen Amtes von Bülow in den Grafenstand schreibt die „Nat. Ztg.": Den unmittelbaren Anlaß dazu hat ohne Zweifel der Erwerb der spanischen Südsee-Jnseln gegeben, der mit rascher Erfassung der Gelegenheit eingeleitet und mit sicherer diplomatischer Kunst durchgeführt worden. Aber man wird in den weiten Volks kreisen, deren Achtung und Sympathie Herr von Bülow sich durch feine nunmehr ziveijährige Amtsführung als Leiter unserer auswärtigen Politik erworben hat, in der ihm zu Theil ge wordenen Auszeichnung eine wohlverdiente Anerkennung für diese Amtsführung in ihrer Gesammtheit erblicken. Die äußer lich hervortretendsten Erfolge derselben sind die Erwerbung Schan- tungs und der bisher spanischen Südsee-Jnseln; aber es darf angenommen werden, daß diese Politik auch an Punkten erfolg reich gewesen ist, an denen es für die Öffentlichkeit nicht derart bemerkbar ist, wie bei der Erwerbung überseeischer Gebiete; wir zählen dahin auch die Gestaltung der Beziehungei« sowohl zu Rußland als zu England. Daß der günstige Stand derselben sür die gegenwärtige Leitung unserer auswärtigen Politik kein Anlaß ist, der deutschen Würde und den deutschen Interessen etwas zu vergeben, hat sie in derSamoa-Angelegenheit bewiesen. Herr von Bülow ist dem deutschen Volke erst seit kurzer Zeit als ein in der Oeffentlichkeit wirkender Staatsmann bekannt; aber er hat sich in dieser kurzen Frist durch die Auffassung seiner Ausgaben, durch die erfolgreiche Durchführung derselben und durch die wirkungsvolle rednerische Vertretung seiner Politik eine angesehene und starke Stellung in der öffentlichen Meinung geschaffen. Wir sind sicher, daß Graf Bülow sie im Dienste des Landes und des Kaisers immer mehr befestigen wird. Die „Nordd. Allgem. Ztg." schreibt: Die Nachricht, daß Deutschland die Bäreninsel annektire, ist falsch. Wir stellten bereits vor kurzem fest, daß die von dem deutschen Seefischerei verein veranlaßte Expedition lediglich zu Fischereizwecken nach jener Insel abgegangen ist. Findet sie den Platz für jene Zwecke geeignet, so würde es ihr natürlich freistehen, auf dem herren losen Eilande zweckmäßig erscheinende Anlagen herzustellen und in Betrieb zu nehmen. Einen Auftrag oder eine Ermächtigung, namens deS Reiches auf der Bäreninsil die deutsche Flagge zu hissen, erhielt weder jene Expedition noch sonst Jemand, auch nicht Lerner, mit dessen Unternehmen die deutsche Regierung nichts zu thun hat. Nach Meldungen eines Berichterstatters gab der preußische Minister Thielen in der Ka n a l k o m in i s s i o n für die Re gierung die Erklärung ab, daß nur Kompensationen für Schlesien und die Kanalisirung der Lippe bewilligt ivcrden könnten. Auf weitere Kompensationen könne die Regierung sich nicht einlassen. Die amtliche „Berliner Korresp." bringt einen längeren Artikel über den Schutz des gewerbliche«« Arbeitsverhältnisses, worin am Schlüsse gesagt ivird, die Parteiei« werden sich der Pflicht nicht entziehen können, falls sie dem Gesetzentwurf n« der gegenwärtigen Fassung ihre Zustimmung glauben versagen zu müssen .ihrerseits Mittel nachzuweisen, womit den Ausschreitungen der modernen Arbeiterbewegung wirksamer entgegengetreten werden kann. Die Anträge der Regierungen wnchsen aus der staatlichen Nothwendigkeit hervor. Wer positive Maßregeln in jeder Form zurückwcist, muthet den verantwortlichen Leitern am Staatsruder zu, mit verschränkten Armen dem Heranwachsen widerrechtlicher Zustände zuzuschauen. Der bürgerliche Staat würde solchen Falles in die zweite Stelle rücken zu Gunsten des klassenbewußten Proletariats, welches nach dem Verhalten des Reichstages den Koalitionszwang und den Streikterrorismus für durchaus zulässige Kampfmittel im Ringen um günstigere Arbeitsbedingungen und politischen Einfluß auszufassen berechtigt wäre. Niederlande. Der erste Ausschuß (Bewaffnung der Land heere) hielt gestern eine Sitzung ab. Mit 20 gegen 2 Stimmen und bei einer Stimmenthaltung wurde der Vorschlag des Unter ausschusses betr. das Verbot der Verwendung explodircnder und beim Aufschlagen auseinander gehender Geschosse angenommen. Im Lause der Berathung wurde zum Zwecke der Verhinderung einer auf nichts beruhenden Lcgendcnbildung sestgestellt, daß in Tübingen keine Wafscnfabrik besteht nnd daß niemals beabsichtigt worden ist, im deutschen Heere Geschosse einzusühren, deren Kern nicht vollständig vom Mantel bedeckt ist. Was zu einem gewissen Mißverständniß Anlaß habe geben könne««, seien Versuche eines Professors an der Tübinger Universität. Der Ausschuß beschloß ferner einstimmig, daß cs für einen Zeitraum von fünf Jahren Verbote«« sein soll, von einen« Ballon auS oder mit Hilfe ähn licher Vorkehrungen Geschosse abzufcuern. Die Frage der Ge wehre und der Marinegeschütze wurde der Prüfung einer späteren Konferenz Vorbehalten und gleichzeitig der aufmerksamen Unter suchung der Regierung empiohlcn. Schließlich wurde mit allen gegen eine Stimme das Verbot der Verwendung von Geschossen beschlossen, die nur den Zweck haben, Stick- oder giftige Gase zu verbreiten. Während England aus der Friedenskonferenz nicht genug Mittel zur Vermeidung der Kriege vorzuschlagen weiß, rüstet cs eifrig weiter. Zur Anlegung von Vertheidigungswerkeu, zum Umbau und Neubau voi« Kasernen (für die erfolgte Ver mehrung des Heeres um 25000 Mann), zu Schießplätzen u. s. w. ist ein Plan aufgestellt, der über 100 Millionen Mark Kosten erfordert. 80 Millionen davon hat das Unterhaus am Montag bewilligt. In dem neuen französischen KabinettWaldeck-Rousseau hat die Noth der Republik gar wunderliche Schlafgeiellen zn- sammengeführt. Waldeck-Rousseau selbst ist gemäßigter Re publikaner nach der Gainbettistischen Ueberliefcrung, der Kriezs- minister General de Gallifet iin innersten Herzen Monarchist, «venn auch loyaler Diener der Republik, berühmt durch manche schneidige Waffenthat, von den Sozialisten tief genaßt wegen seiner erbarmungslosen Strenge gegen die Kommunards von 1871, der Handelsminister Millerand Sozialist, der Bantenminister Bandin sozialer Radikaler; daneben umfaßt das Kabinett zivci radikale Abgeordnete, Delcasss und de Lanessan, und drei gemäßigte, Decrais, Leygues undEaillaux, endlich zwei Senatoren, von denen der eine, Dionis, der das Justizministerium übernommen hat, der demokratischen Linken, der andere, der Ackerbauminister Jean Dupuy, der republikanischen Linke«« angchört. Das ist eine Mischung ungleichartigster Bestandthcilc, die sinnlos genannt werden mußte, wenn inan sich nicht vor Angen hielte, welche I besondere Ausgabe dem Ministerium Waldeck-Rousseau gesetzt «st. I Sie zu erfüllen, ist das neue Kabinett vortrefflich geeignet, da es alle Kräfte des ehrlichen Republikanismus zusammensaßt und mit deren gesammelter Wucht die Widersacher der Republik nieder schmettern kann. Ueber seine besondere Aufgabe hinaus wird dieses Ministerium der Zusammenfassung in des Wortes kühn ster Bedeutung nicht bestandfähig sein. Die Anwesenheit General Gallisets, der schon das besondere Vertrauen Gambettas genossen hat, im Kabinett stärkt dessen Autorität gegenüber den auf- lehnungslüstigen Heerführern ganz beträchtlich. Gallifets An sehen in der Armee ist groß, ihn umstrahlt der Nimbus reichen, auch in den Unglückstagen von 1870 ungetrübt gebliebenen Wasfen- ruhms, er ist der Reorganisator der französischen Reiterei, die seit Murat vielleicht keinen tüchtigeren und kühneren Führer ge habt hat. In widerholten Kundgebungen ist Gallifet für den hochsinnigen Picquart eingetreten, er wird jetzt als Kriegsminister dafür zu sorgen wissen, daß nicht in Rennes durch ein zweites ungerechtes Urtheil gegen Dreyfus die Ehre der Armee und der Nation befleckt werde. Andererseits dürfte er kaum für einen gründlichen „Sühnefeldzug" nach den Wünschen des äußersten Flügels der Revisionspartei zu haben sein, sondern sich auf die Bestrafung nur der schlimmste«« Uebelthäter beschränken. Ver- muthlich ist in einer Besprechung, die vorgestern zwischen Millerand und Gallifet stattgefunden hat, eine grundsätzliche Einigung hier über erfolgt. Der „Voss. Ztg." meldet man weiter auS Paris, 23. Juni. Eine Stunde Entschlußfähigkeit hat Waldeck-Rousseau genügt, um das von allen Republikanern stürmisch geforderte Ministerium aufzurichten. Es ist das eigenartigste, das die dritte Republik bisher gekannt hat. Es zählt nur drei Mitglieder, die bereits Minister waren, außer Waldeck-Rousseau selbst nur Deleasss, den alle republikanischen Gruppen willkommen heißen, und Leygucs, das einzige Getrümmer des überwundenen Mölinismns, das die neue Regierung verunziert. Alle anderen acht Minister sind zum ersten Mal an der Negierung. Der jüngste Minister ist der 35jährigc Baudin, der älteste der 69jährige Gallifet. Von Waldeck-Rousseau, Delcassä und Leygues braucht man nichts zu sagen, sie sind bekannt, ebenso Gallifet, der vor vier Jahren die Altersgrenze erreicht hat und den thätigen Dienst verlassen mußte. Decrais, 61 Jahre alt, war Gesandter und Botschafter in Brüssel, Rom, Wien und London. De Lanessan, 54jährig, ist von Hans aus Medizinaldoktor, hat an der hiesigen medizinischen Fakultät Pflanzenkunde gelehrt, werthvolle Arbeiten zur Darwinschen Theorie veröffentlicht und vier Jahre lang Indochina als Ge neralgouverneur regiert; er ist um seiner Freundschaft für Eng land willen bekannt. Jean Dupuy ist Herausgeber und Haupt besitzer des „Petit Parisien", der dem unaussprechlichen „Petit Journal" erfolgreichen Wettbewerb macht und wenigstens einen Theil des französischen Volkes vor der unheilbaren Vergiftung durch Judet gerettet hat. Monis, 54jährig, bekämpfte im Senat kräftigst Dupuys Gesetz, das dem Strafsenat die Wiederaufnahmc- sachc entriß. Millerand, Leiter der „Lanterne", einer der be kanntesten Führer der Arbeiterpartei, ist vierzig Jahre alt. Pierre Baudin, Großneffe des beiin napoleonischen Staatsstreich auf den Pariser Barrikaden getödteten Volksvertreters Baudin, zählt, wie bereits erwähnt, erst 35 Jahre, war aber trotz seiner Jugend schon Vorsitzender des Pariser Stadtraths; ein Blatt „Volonte", das er vor mehreren Monaten gründete, hielt sich nicht. Cailloux, 36 Jahre alt, ist der Sohn des bekannten Mac Mahonschen Ministers, der ein ausbündigcr Rückschrittler war; er selbst gilt für zuverlässig. Der überraschende Zug des Kabinetts ist der Eintritt des Kampssozialisten Millerand neben dem Kommunardentödler Gallifet und unter dem Gambettaschüler Waldeck-Rousseau, der Verkörperung der bestehenden Gesellschasts- und Wirthschaftsordnung. — Die Aufnahme des Kabinetts bei den Parteien kann man sich leicht denken. Die Nationallisten schäumen einfach. Drumont erzählt, Gallifet sei ein Abkömmling proven^alischer Juden, woraus sich seine Neigungen erklären; andere Blätter dieser Farbe sagen, der eigentliche Minister präsident sei Reinach. „Gaulois" verhüllt sein Haupt, um den Untergang Frankreichs nicht zu sehen, den das Ministerium hcrbei- führen «verde. Die Mölinisten sind vor den Kopf geschlagen und bleiben vor der Oeffentlichkeit stumm, suchen aber in den waw Kgängen die falschen Radikalen, die auch bisher ihre ge- h.-imen Verbündeten wäre«» und jetzt über den Entgaug an gestrebter Portefeuilles wüthend sind, zu eine«» gemeinsamen Stnrmlaus gegen das Kabinett zu gewinnen. — Montag wird Waldeck-Rousseau auf eiuen ersten Angriff der Nationalisten zu antworten haben, bis dahin will er, wie versichert wird, bereits einige Thatsachen schassen und zwar angeblich die Ersetzung des Polizcipräsekten Blanc durch Löpine, General Zurliuoens durch Brugäre, die Verabschiedung Boisdeffres und GonseS, die Zur- verfügungstelluug Pellieux'und die Versetzung RogetS, doch ist das vorerst noch Vermuthung. lieber den Lebensgang des neuen französischen Mi nisterpräsidenten sind folgende Einzelheiten von Interesse: Pierre Marie Waldeck-Rousseau ist am 2. Dezember 1846 geboren, ein Sohn des im Jahre 1882 gestorbenen ehemaligen Abgeordneten Reue Waldeck-Rousseau. Gleich seinem Vater wandte er sich der Advokateulaufbahn zu. Er war Rechtsanwalt in Rennes, als er am 6. April 1879 vom, ersten Wahlkreise dieser Stadt zum Abgeordneten gewählt wurde. Er schloß sich der republikanische«« Union an und brachte einen Gesetzantrag, betr. eine Reform der Magistratur, ein, dei« er als Berichterstatter zu vertrete«« hatte. An« 21. August 1881 wurde er von seinem Wahlkreise mit 8899 gegen 4192 monarchistische Stimmen wieder- gewählt und übernahm in dein Kabinett Gambetta vom 14. No vember 1881 das Portefeuille des Innern. Seine erste Hand lung war eil« Ruudschreiben ai« die Präfekten, worin er sie vor bei« Empfehlungen der Abgeordneten warnte und das als eil« Versuch, politische Einflüsse von der Verwaltung sernznhalten, viel Aufsehen erregte. Am 26. Januar 1882 trat er mit dem Gcsammtkabinctt zurück. Im Kabinett Jules Ferry vom 21. Februar 1883 übernahm er abermals das Portefeuille des Innern und behielt es bis zum Sturze des Kabinetts ain 31. März 1885. Bei den Oktvberwahlcn desselben Jahres stand er an« der republikanischen Liste des Departements Jlle-et-Vilaine, erhielt 68 783 von 122 927 Stimme«« und wurde in der Stich wahl gewählt. Seit den« Jahre 1886 war er wieder als Advokat in Paris thätig und blieb er dem politischen Leben sern; 1889 und 1893 bewarb er sich um kein Kammermandat mehr, erst am 7. Oktober 1891 kehrte er ans die politische Bühne zurück, indem er sich iin Loire-Devarlement zum Senator wählen ließ. Trotz seiner frühzeitig geb«, « hcen Haare ist Waldeck-Rousseau noch immer e«nc jugendmäßige Erscheinung. Er trägt sich jo gesucht dezent, daß der spitzzüngige Rochefort ihm schon vor Jahren den Bei namen „MumMa", der Geschminkte, angehängt hat; mit seinem frostigen Wesen, seinen« blasirt-hochmüthigcn Gesicht, das durch einen prächtigen Schnnrrbarr geziert ist, nnd seine«« gemessenen Bewcgnngeu stößt er mehr ab, als er gewinnt. Er «st ein gc ! wandter Redner, sehr gesucht als Advokat, der eine Reihe der I größten Prozesse der letzten Jahre geführt hat, so den viel- j besprochenen Guanoprozeß des Hauses Dreyfus gegen Peru, die
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)