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riuzuwenden hätten. Hierauf wird der Entwurf in der Kommissions fassung angenommen. Bei dem Berichte der Wahlprüsungs- kommission wird betreffend die Wahl des Abg. Firzlaff (kons.) weitere Beweiserhebung beantragt, ebenso über die Wahl der Abgg. Börner (natlib.) und Ernst (fr. Bolksp.). Die Anträge werden angenommen. Die Wahlen für Kropatscheck (kons.) und Jakobskötter (kons.) werden für giltig erklärt. Bei der Wahl des Abg. v. Loebell hatte die Kommission weitere Beweis erhebungen beantragt. Rach längerer Debatte wird auf Antrag Bassermann die Zurückverweisung an die Kommission beschlossen. Das Hans erledigte sodann einige Petitionen und vertagte sich auf Dienstag 1 Uhr. Tagesordnung: Zweite Lesung des Antrages Liebermann, betreffend Schächtverbot und Initiativ anträge. Die Pfingstferien des Reichstags sollen, wie ein Telegramm des „Hamb. Korr." meldet, vom 10. Mai bis zum L Juni dauern. Zu der Abrüstungskonferenz im Haag erhält die z»Boff. Ztg." eine Londoner Drahtmeldung, wonach die „Daily Mews" berichtetet, Graf Murawiew habe in Berlin freundliche ^Vorstellungen gegen die Ernennung des Pro fessors von Stengel zum Vertreter Deutschlands auf der Konferenz machen lassen. Das Blatt bemerk hierzu: Wir haben die Berufung deS Herrn v. Stengel als schwer verständlich, seine Flugschrift als eine Taktlosigkeit (?) bezeichnet. Aber deshalb glauben wir noch nicht, daß Rußland gegen diese Berufung Vorstell ungen gemacht habe oder machen dürfe. Schließlich hat in der That Herr v. Stengel aus der Konferenz überhaupt nichts zu sagen. Er hat keine selbstständige Stellung, sondern ist zurVersügung des Grafen Münster gestellt, der von den Diensten des Professors nach Belieben Gebrauch machen oder nicht machen kann. Das; Deutschland mit der Ernennung des Herrn v. Stengel nicht eine der russischen Anregung feindselige Stimmung andeuten wollte, geht schon daraus hervor, daß der gleich Herrn v. Stengel »och dem Haag beorderte Professor Zorn sich dieser Tage sehr freund lich und hoffnungsvoll über die Aufgabe der Konferenz ausge sprochen hat. In der Postkommiss iou des Reichstags wurde aus Antrag vr. Oertel-Freiberg folgende Resolution angenommen: Die Reichspostverwaltung zu ersuchen, das Bestellgeld möglichst . bald neu und zwar so zu regeln, daß dabei die Häufigkeit des Erscheinens mehr als bisher und auch das Gewicht der Zeitungen berücksichtigt wird. Ferner fanden noch folgende Resolutionen Annahme: 1) den Verlegern einer im Reichspostkatalog einge tragenen Zeitung ist es gestattet, für die von ihnen gewonnenen Abonnenten selbst die Bestellungen bei der Post aufzugeben; 2) die Beschränkung der zulässigen Ueberweisungsexemplare auf 10 Proz. der Postauflage wird aufgehoben. 3) Gegen die für Drucksachen festgesetzte Taxe sollen auch Geschäftspapiere befördert werden. Der Postkommission ist ein Ueberschlag der Entschädigungs- beträge der in Privatbriefbeförderungsanstalten Angestellten zu gegangen. Die Gesammtsumme der Entschädigungen würde nach der Regierungsvorlage 957 557 Mark, nach den Kommissions beschlüssen erster Lesung 1383436 Mark betragen, also 425879 Mark mehr. DaS neue Postgesetz enthält nach den Beschlüssen der Kommission in der ersten Lesung im Wesentlichen folgende neue Bestimmungen. Das Porto beträgt für den gewöhnlichen Bries bis zum Gewicht von 20 Gramm 10 Pf. Der Reichskanzler ist ermächtigt, den Geltungsbereich der Ortstaxe auf Nachbarorte auSzudehnen. Die Gebühren für Zeitungsbeförderung sind nach dem Prinzip der Regierungsvorlage, jedoch mit veränderten Sätzen geregelt worden. Das Postregal wird auf verschlossene Briese ausgedehnt, die innerhalb der Gemeindegrenzen ihres Ursprungs«rts verbleiben. Anstalten zur gewerbsmäßigen Be förderung von Briefen, Karten, Drucksachen und Waarenproben dürfen vom 1. April 1900 ab nicht weiter betrieben werden. Den Besitzern von Privatbriefbeförderungsanstalten wird eine Entschädigung gewährt, die bis auf das Achtfache des durch schnittlichen Reingewinnes der letzten drei Geschäftsjahre vor dem 1. April 1898 steigen kann. Den Angestellten solcher Anstalten wird, falls sie länger als drei Monate in ihrem Berufe waren, eine Entschädigung gewährt, die mit einem einfachen Monats gehalt beginnt und nach 11 Dienstjahren bis auf den doppelten Jahresgehalt steigt. Das Gesetz soll am 1. April 1900, die Bestimmungen über die Zeitungsbeförderungsgebiihr aber erst am 1. Januar 1901 in Kraft treten. Eine postalische Neuerung unterliegt gegenwärtig der Begutachtung im Reichspostamt. Sie betrifft die Bezeichnung der Telegramme mit dem Aufgabeort auf der Außenseite (Adrefsenklappe). Dieser Vorschlag ist dem Reichspostamte unter der Verwaltung des Staatssekretärs von Stephan schon wiederholt unterbreitet worden, doch gelangte er wegen entgegenstehcnder Bedenken bisher nicht zur Durchführung. Staatssekretär v. Podbielski ist dem Gedanken wieder näher getreten, da cs in den meisten Fällen im Interesse des Empfängers liegt, sofort den Aufgabeort des Telegrammes zu erkennen. Nach der Ankündigung des Staatssekretärs v. Podbielski wird dem Reichstage noch in der gegenwärtigen Tagung eine Vor- 'lage, betreffend den Check- und Ausgleichs- Verkehr bei den Postämtern, zugchen. Die Regelung 'dieses Verkehrs ist in der Art geplant, daß für je mehrere Ober- Postdirektionsbezirke ein Postcheckamt errichtet wird, bei welchem Jedem auf seinen Antrag gegen Einzahlung einer unverzinslichen Stammeinlage von 200 M. ein Checkkonto eröffnet werden kann. Als Sitz je eines Postcheckamts im Bereich der Reichspost-Verwaltung sind in Aussicht genommen: Berlin, Breslau, Danzig, Hamburg, Hannover, Köln, Frankfurt am Main, Straßburg im Elsaß und Leipzig. Auf das Konto eines jeden Theilnehmers können bei sämmtlichen Postanstalten des Reichspostgebiets Geldbeträge sowohl vom Kontoinhaber als von anderen Personen eingezahlt nnd von dem angesammelten Guthaben seitens des Kontoinhabers jederzeit mittels Checks Be träge zur sofortigen Zahlung an sich selbst oder an eine beliebige andere Person oder zur Gutschrift auf das Konto eines anderen Theilnehmers angewiesen werden. Einlagen im Checkverkehr können gemacht werden entweder mittels der neu einzninhrenden Zuschrift karten, oder mittels Postanweisungen, Nachnahmepostanweisungen . und Auftragspostanweisungen oder durch Gutschriften imAusgleichs- verkehr. Zunächst soll das Checkverfahren ohne Verzinsung cin- geführt werden. Die Gebühren sür die Benutzung des Checkver kehrs, der keinerlei Stempelabgaben unterliegt, sollen so berechnet werden, daß die durch das Verfahren der Reichspostverwaltung entstehenden Kosten voll gedeckt werden. Ueber „Großstädtische Kultur" schreibt die „Deutsche Tagesztg.": Der Tagesschriststellcr, welcher dem öffentlichen Leben feine ganze Aufmerksamkeit zu widmen bat, muß, wenn ihm nichts Wesentliches entgehen soll, auch den Anzcigemhcll der Blätter von Zeit zu Zeit einer Prüfung unterziehen. Er wird da manche Einblicke gewinnen, die ihm sonst entgehen würden. Unter den großstädtischen Blättern spielen in dieser Hinsicht namentlich die Generalanzeiger eine keineswegs schöne Rolle. In ihren An zeigen macht sich der feinere Prostitutionsmarkt in peinlicher Weise bemerkbar, und es werden dadurch scharfe Streiflichter auf die sittlichen Zustände geworfen, welche das großstädtische Leben hervorrnst und begünstigt. Liest man z.B. den Anzeigen theil des „Lokal-Anzeigers" oder der „Voss. Ztg.", so kommt man zu der Ueberzeugung, daß halb Berlin sich täglich massiren lassen muß. Auf einer Seite des „Lokal-Anzeigers" empfehlen sich nicht weniger als 40 Masseusen. Auch der Unbefangene muß darüber stutzig werde», besonders wenn er eine Anzeige liest wie folgende: „Masseurinnen Geschwister empfehlen sich" oder „Oure äs Llassaxe. Vornehme Kreise. Madame so und so." Es ist selbstverständlich, daß eS wirklich Masseusen giebt, die sich anzeigen, um ehrliche Arbeit zu bekommen, aber es ist auch ein öffentliches Geheimniß, daß außerordentlich zahlreiche sogenannte Masseusen, die sich Tag für Tag in den Blättern anzeigen, ganz etwas anderes als Massage betreiben. Zweifellos ist hier ein Verbot erforderlich, wonach Masseusen nur dem weiblichen und Masseure nur dem männlichen Geschlechte ihre Dienste leisten dürfen. Es hat den Anschein, als ob sich die Polizei um diese von Wien aus zu uns herüber gekommene neue Form der Pro stitution, die kaum ein fadenscheiniges Mäntelchen zur Verhüllung anlegt, gar nicht kümmert. Wenigstens ist es uns nicht bekannt geworden, daß sic in irgend einem solchen Falle eingeschritten wäre und die schuldige Person unter sittenpolizeiliche Kon trolle gestellt hätte. Hier ist eine entschiedene Aufmerksamkeit auf dieses Treiben erforderlich, das in hohem Maße ent sittlichend ist. Außerdem können die anständigen Masseusen ver langen, daß sie gegen den entehrenden Verdacht, dem sie jetzt alle ausgesetzt sind, in Schutz genommen werden. Das kann nur dadurch geschehen, daß die unsauber» Elemente mit einem scharfen Besen aus dem angemaßten Stande weggefegt werden. Hoffent lich tragen diese Zeilen dazu bei, die Behörden auf diese traurigen Blüthen, die dem großstädtischen Sumpfe entsprossen sind, hin zuweisen und zur ernsten Unterdrückung derselben anzuregen. In demselben Blatte auf derselben Seite werden nicht weniger als 15 uneheliche Kinder theils ausgeboten, theils zur „Pflege" gewünscht. Ganz unverfroren werden die Kinder als „verkäuflich" bezeichnet, als ob es bei uns einen vollständigen Sklavenmarkt gäbe. Das Merkwürdige dabei ist, daß man solche Anzeichen, wie: „Junges anständiges Mädchen will ihr uneheliches Kind verschenken", sehr häufig findet, ein Zeichen, daß in diesen groß städtischen Kreisen der Makel des Gefallenseins gar nicht mehr empfunden wird; wahrlich ein trauriges Zeichen der Zeit. Die Zahl der Anzeigen, die sich auf geheime Entbindungen beziehen ohne Heimathsbericht, ist Legion und läßt auf eine unheimlich wachsende Unsittlichkeit schließen. Daß das Loos der auf diese geheime Art ins Leben tretenden Kinder nicht beneidenswerth ist liegt aus der Hand. Man weiß, was unter der liebevollen Pflege zu verstehen ist, nämlich eine von der Behörde nicht zu fassende Form der Engelmacherei. Die Personen, welche solche geheime Entbindungsinstitute haben, verstehen cs, sich die nothwendige Hausarbeit umsonst machen zu lasten, denn sie zeigen oft an, daß Dienstmädchen, die sich bis zu ihrer schweren Stunde der Hausarbeit unterziehen, nichts zu bezahlen brauchen. Ein grau samer Hohn liegt auch in den Worten „liebevolle Aufnahme", die den gefallenen Mädchen stets zugesichert wird. Wir sind der Meinung, daß diese Personen ebenfalls eingehendster polizei licher Aufmerksamkeit werth sind. Verhältnißmäßig selten hört man, daß gegen schwere Mißbräuche auf diesem Gebiete eingeschritten wird. Außerdem ist es klar, daß die Leichtigkeit, mit welcher die geheime Entbindung ohne Heimathsbericht er möglicht ist, einen direkten Anreiz zur Ünsittlichkeit bildet. Wie oft mag es nicht Vorkommen, daß solche geheimen Entbindungen bei einzugehender Ehe verschwiegen werden. Kommt dann die Sache nachher doch heraus, dann ist natürlich die Ehescheidung nicht zu vermeiden, da ein Mann zu einer solchen Frau kein Vertrauen mehr haben kann. Die Heirathsgesuche dienen in sehr vielen Fällen lediglich dazu, ein unsittliches Verhältniß anzn- knüpsen; die Absicht, zu heirathen, besteht überhaupt nicht; das ersieht man schon aus dem Tone der Anzeigen, die solche Blätter, die sie aufnehmen, denn auch mit den Masseusen- und sonstigen zweifelhaften Anzeigen zusammenstecken, so daß die Wüstlinge gleich wissen, wo sie den Markt für ihre Gelüste zu suchen haben. Wir könnten von diesen Sumpfblüthcn großstädtischen Lebens »och leicht eine größere Anzahl vorführen, glauben aber mit den kurzen Hinweisen zur Genüge dargelegt zu haben, wie dringend nothwcndig es sei, das sittliche Leben der Großstadt zu bessern und eine ganze Generation vor moralischer Verkommenheit zu bewahren. Die Gefahren, dienamentlichderJngend(Studenten,jungen Kaufleuten u. f. w.) drohen, mehren sich; in immer vielgestalt'gerer Form macht sich das Laster auf dem großstädtischen Pflaster breit, und immer leichter sängt es den Unerfahrenen in seinen Schlingen, sodaß man es Eltern nicht verdenken kann, wenn sie Scheu da vor haben, ihre Söhne nach Berlin zur Ausbildung zu schicken. Ueber die Gefahren d er K u rp fu s che re i für die Verbreitung von ansteckenden Krankheiten thcilt vr. Oestreicher der „Deutschen Med. Wochenschrift" einen be zeichnenden Fall mit. Eine 32jährige Frau wird in Ostasien mit Aussatz (Lepra) angesteckt. Nach erfolgloser Behandlung durch englische Aerzte will sie schließlich nach Deutschland reisen, um die in Berlin lebende verheirathete Schwester ihres ver storbenen Mannes aufzusuchen und dort, wenn möglich, Heilung von ihrem Leiden zu finden. Während der Ueberfahrt auf dem Reichspostdampfer „Bayern" wurde ihr aber von Mitreisenden gerathen, sich in Deutschland nur von Naturärzten behandeln zu lasten. Diesen Rath hat sie auch getreulich befolgt. Sie begab sich sofort nach ihrer Landung von Bremerhaven nach Leipzig in die Naturheilanstalt Kuhnes. Dieser entließ sie nach acht Tagen nnd empfahl ihr, die Naturheilaustalt von Just in Jungborn bei Harzburg aufzusuchen. Dort wurde sie mit Sonnenbädern, Umschlägen von feuchtem Lehm und Einpackungen behandelt. Als ihre Schwägerin aus Berlin sie hier besuchte, schöpfte diese bei ihrem Anblicke und, wie sie erzählte, nach dem, was sie in der Zeitung gelesen hätte, den Verdacht, daß es sich um Lepra handle. Auf ihre Erkundigung bei deni Leiter der Anstalt wurde sic aber vollständig beruhigt, da dieser erklärte, daß die Frau nicht an Lepra leide. Da nach dreimonatigem Ausenthalte in der Anstalt sich der Zustand nicht besserte, ging die Kranke nach Lindewiese, wo sie sieben Monate blieb und mit der sogenannten Schrotschen Kür behandelt wurde. Als auch dies nichts half, reiste sie endlich vor etwa elf Monaten zu ihrer Schwägerin nach Berlin, wo sie völlig entkräftet und abgemagert erngetroffen sein soll. H^r hat sie sich, aus Scheu vor weiterer Behandlung, in der Familie ihrer Schwägerin verborgen gehalten, bis sie zu- sällig von dem Hausarzt vr. Edel gesehen wurde. Der Fall spricht so deutlich für die Gefahren, welche in der Kurpfuscherei liege», daß eine weitere Bemerkung überflüssig ist. Jeder deutsche Arzt hätte entweder selbst oder mit Hilse eines derma ¬ tologischen Kollegen die richtige Diagnose gestellt nnd wenigsten- das eine verhindert, daß die Kranke mit allen möglichen Anderen ohne Vorsichtsmaßregeln zusammenlebte. Denn, wenn auch die Gefahr einer Ansteckung mit Lepra nicht besonders groß ist, so ist es doch sicher ein Gebot der Vorsicht, die Möglichkeit einer Verbreitung der Krankheit so viel wie möglich zu beschränken. In der Berliner Stadtverordneten-Versammlung gab es vorgestern eine sogenannte „große Sitzung". Zur Berath- ung stand als Hauptgegenstand der Tagesordnung der Anttag des Stadtv. Kreitling u. Gen., betreffend eine an den Herrn Minister des Innern zu beschließende Eingabe wegen der bisher noch nicht erfolgten Bestätigung der Wahl des Ober bürgermeisters. Die Debatte nahm stellenweis einen sehr erregten Charakter an. Schließlich wurde der Antrag Kreitling in namentlicher Abstimmung mit 71 gegen 29 Stimmen ab gelehnt. Ella Goltz, die Geliebte des verstorbenen Oberfastors Grünenthal, hatte vor längerer Zeit einen Prozeß gegen den Reichsfiskus angestrengt auf Herausgabe von etwa 45 000 Mark beschlagnahmter Werthpapiere, die seitens des' Fiskus zugunsten des durch die Fälschungen Grünenthal's her beigeführten Ausfalls der Reichskasse gepfändet worden sind. Die Klägerin stellt die Behauptung auf, daß der Fiskus zur Pfändung keine Berechtigung habe, da diese Effekte« ihr als persönliches Eigenthum im Februar 1897 von Grünenthal zur Sicherstellung ihrer eigenen nnd der Zukunft ihres Kindes über geben worden seien. Die Civilkammer deS Landgerichts hat diese Behauptung als so wesentlich erachtet, daß Beweisaufnahme beschlossen worden ist. In der Frage der Aussperrung derjenigen Arbeiter, die ohne Erlaubniß der Arbeitgeber den 1. Mai gefeiert haben, cheint die Sozialdemokratie jetzt selbst zu erkennen, daß es un- llug wäre, den Arbeitgebern weiter schroff entgegenzutreteu. Wenigstens rieth in einer Versammlung der Metallarbeiter ein bekannter sozialdemokratischer Agitator den Arbeitern „alle augen blicklichen Verhältnisse in Ruhe und kluger Berechnung zu er» wägen und nicht voreilige Beschlüsse zu fassen". Selbst der „Vor wärts" muß die Thatsache verzeichnen, daß sich vielfach Arbeits willige gefunden haben, die bereits an der Stelle der ausständischen Arbeiter eingetreten sind, so daß diese ihre Arbeit endgiltig ver- oren haben. Andere Arbeiter haben sich nicht an die Beschlüße >er Versammlungen gekehrt und sind, die ihnen gebotene Erlaubniß benutzend, sogleich wieder in den Dienst getreten. Auch in anderen Städten ist der Verlauf dieser Angelegenheit im Wesent lichen derselbe gewesen. In Spandau scheinen sämmtliche Arbeiter, die am 1. Mai feierten, endgiltig entlassen zu sein. Die Sozial- demokraten scheinen das richtige Gefühl zu haben, daß mit einer Agitation gegen die Aussperrungen nicht viel auszurichten sein würde, und deshalb macht denn auch der „Vorwärts" von der ganzen Geschichte viel weniger Aufhebens, als es sonst seine Ge wohnheit ist. Der „Vorwärts" macht bekannt, daß alle infolge der „Mai eier" gemaßregelten „Genossen" täglich mit Streikkarte, Mitgliedsbuch u. s. w. im Bureau des Metallarbeiterverbandes „sich zu melden habe n". Von der Sozialdemokratie lassen die betreffenden Arbeiter sich eine solche Kontrolle gefallen, wollten andere Leute es wagen, solche „Verordnungen" zu erlaßen, würde sofort über „Knechtschaft" u. s. w. geschrieen werden. Italien. In ministeriellen Kreisen hofft man bestimmt auf die Verbindung Pelloux' mit Sonnino, der seit der vortrefflichen Probe, die er als Schatzminister im Kabinett Crispi abgelegt hat, als der kommende Mann galt. Die Opposition, deren Häupter, namentlich Rudini und Giolitti, sich durch ihre Stellung zur San-Mun-Frage von der Nachfolge ausgeschloffen sehen, sucht Sonnino vom „Connubio" abzuhalten. Frankreich. Die Blätter stellen verwickelte Berechnungen darüber an, wann das höchste Gericht in der Wiederaufnahme sache verhandeln und urtheilen wird. Nach den einen wird Be richterstatter Ballot-Beauprv seinen Bericht am 12., nach anderen erst am 20. Mai den vereinigten Senaten vorlegen können. Daran zweifelt aber niemand, daß das Urtheil vordem Monatsschluß ge fällt sein wird, die letzten Enthüllungen, namentlich die Fälschung der Personalnoten Dreyfus', die Auffindung des Boisdeffreschen Er lasses vom 17.Mai1894 über die Nichtbetheiligung der zum General stab befohlenen Offiziere an den Feldübungen und das Zeugniß des Reserverofsiziers Brunot, daß das 120 Millimeter-Feldgeschütz schon 1893 vor einer Anzahl Infanterie-Offiziere versucht worden war, beunruhigten die Nationalisten, die die Nothwendigkeit empfinden, den Eindruck dieser Urkunden und Thatsachen zu verwischen; sic sinnen deshalb auf irgend eine gewaltthätige Ueberraschung der letzten Stunde, klagen aber, daß sie sich auf die Regierung, Freycinet etwa ausgenommen, nicht mehr recht verlassen können. Eine Anzahl Patriotenligaleute verhinderte die Vorstellung im Montmartre-Tingeltangel der „tznak'L r'arts", wo ein Spott lied auf Deroulöde, Drumont, die Nationalisten und Antisemiten gesungen wurde; von dort zog die Bande vor die Rothschildschc Bank in der Lasfittestraße und stieß Todesruse gegen die Juden aus, wurde indeß von Schutzleuten auseinander gejagt. Spanien. Die Heuschreckenplage nimmt zu. In der Provinz Alicante ist eine Eisenbahnstrccke von 18 Kilom. mit einer dicken Schicht Heuschrecken bedeckt. — General Rios meldet telegraphisch, daß Aguinaldo sich weigere, mit den spanischen Deputirten über die Freilassung der spanischen Gefangenen zu unterhandeln nnd nur mit den Amerikanern verhandeln wolle. Bereinigte Staaten. Die Untersuchung wegen der Lieferungen von verdorbenemFleisch an die amerikanischen Truppen während des Feldzuges nach Westindien hat ein Ende genommen, das allenthalben, nur in Amerika nicht, eine peinliche Ueberraschung Hervorrufen wird. Unsere Leser kennen die em pörenden Einzelheiten, welche diese Untersuchung zutage gefördert hat: ausgepreßtes Büchsenfleisch ohne Saft und Kraft, das die Truppen als unverdaulich und ungenießbar wegwarfen, geeiste Ganzstücke von frischem Fleisch, die mit ekelerregenden chemischen Lösungen bestrichen waren, damit sie sich drei Tage nach der' Entnahme aus den Kühlräumen in den Tropen halten sollten, nichtsdestoweniger sofort in Fäulniß übergingen, weil das Fleisch in den Chicagoer Schlächtereien schon verdorben so bearbeitet worden war. Der Kriegsminister Alger wurde vou den meisten glaubwürdigen Zeugen in der schärfsten Weise bloßgestellt. Trotz dem hat die Untcrsuchungskommission alle Anschuldigungen, die der Oberkommcmdirende, General Miles, gegen die Heeresver waltung erhoben hatte, in ihrem Bericht an den Präsidenten für unbegründet erklärt. Die Kommission geht noch weiter uniz tadelt den General dafür, daß er nicht schon während des Krieges erklärte, das gelieferte Fleisch sei ungenießbar. Der Präsident erwartete einen solchen Bericht. Die amerikanische» Parteimänner sind darin gleich den Männern der römischen Hierarchie, daß sie jeden Angriff gegen einen der ihrigen, der eine maßgebende. Stellung einnimmt, für unberechtigt erklären. Alger muß um