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Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 08.05.1898
- Erscheinungsdatum
- 1898-05-08
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1878454692-189805080
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1878454692-18980508
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1878454692-18980508
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- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Bemerkung
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- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Freiberger Anzeiger und Tageblatt
-
Jahr
1898
-
Monat
1898-05
- Tag 1898-05-08
-
Monat
1898-05
-
Jahr
1898
- Titel
- Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 08.05.1898
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10H. Kretderger Anzeiger und Lageblatt. Seite S. — 8^ Mai. kündigung, oder über die Handwerkerorganisation, sollen diesem Mittelstände nutzen, und sie thun es ja auch in gewisser Weise, aber daß sie diesen Stand in einer durchgreifenden Weise zu helfen vermöchten, kann auch der größte Optimist nicht behaupten. In dieser Hinsicht wird künftigen Reichstagen noch viel zu thun übrig bleiben. Von wirklicher Bedeutung für die Gewerbetrei benden war hingegen das Gesetz über den unlauteren Wettbewerb. Je länger es im Gebrauche sein wird, als desto segensreicher werden sich die Wirkungen dieses Gesetzes Herausstellen. Mit diesem Gesetze kommen wir auf die eigentliche Gesetz gebung. In dieser Hinsicht war die Thätigkeit deS Reichstages eine sehr umfassende und ersprießliche. Die Erledigung des bür gerlichen Gesetzbuches war eine That, durch die die soeben abge laufene Legislaturperiode auf lange Zeit hinaus in der Erinne rung wird haften müssen. In hohem Grade erfreulich war es auch, daß der Reichstag die seit Jahrzehnten ersehnte Reform des militärischen Strafprozesses durchgcfüyrt hat. Hingegen ist es auf das negative Konto der unfruchtbaren Session 1896/97 zu schreiben, daß die ebenfalls recht wünschenswerthe Revision des bürger lichen Strafprozesses nicht in dem Maße durchgeführt werden konnte, wie es mit der in jener Session gescheiterten Novelle be absichtigt war. Wie auf dem Konto dieser unfruchtbaren Session nur ein be deutendes Negativum steht, so steht auch auf demjenigen der Session von 1894/95 nur eine sehr hervorragende negative That: Die Ablehnung der Ehrung des Fürsten Bismarck zu seinem 80. Geburtstage. Man übertreibt nicht, wenn man sagt, daß der Reichstag von 1893/98 durch diese That sich mindestens ebenso die Unsterblichkeit gesichert hat, wie durch die Durchdringung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Aber eine wenig beneidenswerthe Un sterblichkeit! Denn kommende Geschlechter werden cs nie begreifen können, daß ein deutscher Reichstag Demjenigen, dem er sein Dasein zu verdanken hat, einen einfachen Geburtstags-Glückwunsch verweigern konnte. Ist man einmal bei dem Schuldenkonto des Reichstages, so verdienen noch die oft mangelhaften Leistungen des Präsidiums, die weniger dem Mangl an outen Willen, als dem Mangel an gutem Gehör des von der „Antibismarckmehr heit" erwählten ersten Präsidenten zuzuschreiben sind, zu er wähnen haben. Ferner die sehr geringe Frequenz der Sitzungen, und die namentlich in der ersten Hälfte der Legislaturperiode recht häufig vorgekommeuen, der Vertretung des deutschen Volkes unwürdigen Szenen. Alles in allem wird man von dem Reichstage zu sagen haben, baß er von dem Ideal einer deutschen Volksvertretung recht weit entfernt gewesen ist, daß er aber immerhin noch nicht ganz so schlimm war wie er bei der Verworrenheit der Parteivcrhältnisse und bei dem etwas „eigenartigen Charakter einiger Abgeordneter, die einem deutschen Parlamente nicht eben zur Zierde gereichen, hätte sein können. Hoffen wir, daß der neu zu wählende Reichstag eine Verbesserung des dahingeschiedcnen Parlaments darstellen möge. Politische Umschau. Freiberg, den 7. Mai. Auch die „Hamb. Nachr." äußern sich über die Frage der Neutralität Deutschlands und stimmen der offiziösen Auf fassung bei, daß eine ausdrückliche Neutralitätserklärung überflüssig sei und nicht im Reichsinteresse liege. Die Wahlprüfungskommission desReichStags hat über die Ergebnisse der Wahlprüfungen in der neunten Legislaturperiode von 1893 bis 1898 Bericht an das Plenum erstattet. Danach waren an die Wahlprüfungskommission 119 Wahlen zur Prüfung abgegeben. Davon erledigten sich: 2 durch den Tod des Abgeordneten, 7 durch Niederlegung des Mandats und zwar 3 vor, 4 nach stattgehabter Prüfung der Wahl, einer durch Zurücknahme des Protestes. Von den verbliebenen 109 Wahlen wurden von dem Reichstag in Uebereinstimmung mit den Beschlüssen der Kommission ohne Beweiserhebung 72 für giltig, darunter 29 mit Resolutionen, 6 für ungiltig, nach stattgehabter Beweiserhebung, 21 für giltig, 10 für ungiltig erklärt. Im preußischen Abgeordnetenhause hat Abg. Knebel (natl.) mit Unterstützung zahlreicher Abgeordneten auS vielen Parteien folgende Interpellation eingebracht: „Die Unterzeichneten richten an die Königliche Staatsregierung nachstehende Fragen: 1. Ist es richtig, daß in einem nach Köln bestimmten Faß ameri kanischer Aepfelabfälle bei der Untersuchung an der Reichsgrenze die Schildlaus lebend festgestellt worden ist. 2. Beabsichtigt die Königliche Staatsregierung wegen verstärkten Schutzes gegen die Einschleppung der San Josö-Schildlaus Schritte zu thun und eventuell welche?" Als in der vorgestrigen Reichstagssitzung der Staatssekretär Frhr. v. Thielmann die Erklärung abgegeben hatte, daß die Re gierung die Getreidezölle nicht aufzuheben gedenke, machten die Jobber im Heiliggeist-Hospitale sich das Vergnügen, den Weizen preis vorübergehend um 10 Mk. st eigen zu lassen. Die Regierung wird gut daran thun, den Spielern sofort das Hand werk zu legen. Unter der Ueberschrift: „Berlin als Wahlasyl für Eugen Richter" schreibt die „Post": Als wir vor einiger Zeit aus guter Quelle meldeten, daß der Abg. Richter seinen Reichstagswahlsitz für gefährdet erachte und sich nach einem Reservewahlsitze umsebe, erregte dies den Zorn der Freisinnigen Zeitung; sie behauptete, daß die Wahlaussichten des Abgeordneten rn Hagen sehr gut seien, und erklärte die Nachricht, daß er sich um einen Ersatz bemühe, für völlig erfunden. Jetzt hat der Ab geordnete vr. Langerhans die Richtigkeit jener Angaben bekundet, vr. Langerhans ist in Berlin in zwei Wahlkreisen, im ersten und im dritten, als volksparteilicher Kandidat aufgestellt worden und hat diese an sich etwas merkwürdige und für seine Wahl aussichten sicher nicht förderliche Doppelausstellung in einer Wahl versammlung unter deutlichem Hinweis auf Herrn Eugen Richter mit der Bemerkung erklärt, daß es Männer gebe, die im Reichstage nicht fehlen dürsten, und das daher, solange diese in ihren bisherigen Wahlkreisen bedroht seien, man dafür sorgen müsse, daß sie nöthigenfalls in einem andern Wahlkreise ein Asyl fänden; wenn er doppelt gewählt würde, so würde einer der beiden Wahlkreise für den gedachten Abgeordneten reservirt bleiben. Eugen Richter sitzt bekanntlich im Landtage auch nur, weil ihm in Berlin ein Asyl eröffnet worden ist; die Berliner Landtagsmandate sind aber allerdings der freisinnigen Volks- partci ungleich sicherer als die Reichstagsmandate, und es ist sehr zu bezweifeln, ob die Doppelaufstellung des vr. Langerhans zu dem erwünschten Ziele führen wird. Der „Hann. Courier" hatte behauptet, daß Ageordneter v. Ploetz dem Abgeordneten Möller gegenüber bezüglich des Abgeordneten vr. Hahn geäußert habe: „Wenn cch den Menschen doch nur los werden könnte." Abgeordneter Möller hat den Abgeordneten v. Ploetz ermächtigt, öffentlich zu erklären, daß Herr von Ploetz ihm (dem Herrn Möller) gegenüber weder eine solche noch eine ähnliche Aeußerung gethan habe. Der Landgerichtsrath Kulemann hatte sich an den braun schweigischen Landtag beschwerdeführenv gewandt, weil daS Staats ministerium ihm eröffnet hatte, daß ihm künftig ein Urlaub zum Zwecke der Theilnahme an politischen und sozialen Versammlungen nicht ertheilt werden könne. Die Justiz kommission des Landtags hat sich mit der Petition Kulemanns befaßt und ist zu der Üeberzcugung gelangt, daß für die Auf sichtsbehörde keinerlei Verpflichtung bestehe, zu politischen Zwecken Urlaub zu ertheilen. Infolgedessen beantragte die Kommission, die Petition unberücksichtigt zu lassen. In einer Flugschrift, die den Titel trägt: „Vor dem Sturm" giebt vr. Bernhard Cohn seinen Glaubensgenossen den Rath, zur Sicherung ihrer Zukunft in daS sozialdemokratische Lager überzugehen. Aus Wien wird berichtet: Die Verhandlungen über A b- kürzung der Sprachendebatte im österreichischen Abgeordnetenhause sind an der Abstimmungssrage gescheitert. Die deutsche Opposition verlangte, daß über die Dringlichkeit aller Sprachenanträge abgestimmt, und daß allen Anträgen die Dringlichkeit zuerkannt werde. In diesem Falle wäre dann der Antrag Steinwender auf Aufhebung der Sprachenverordnungen sofort in die meritorische Verhandlung zu ziehen gewesen und es war nicht ausgeschlossen, daß mit Hilfe der katholischen Volks partei ein MajoritäiSvotum für Aufhebung der Sprachen verordnungen zu Stande kam. Das Präsidium bestand aber darauf, daß über die Dringlichkeit jedes einzelnen Antrages be sonders abgeslimmt werde, und die Rechte weigerte sich, für die Dringlichkeit des Steinwender'schen Antrages zu stimmen. In Folge dessen zerschlugen sich die Verhandlungen über Abkürzung der Sprachendebatte und die für gestern anberaumte Obmänner- Konferrnz fand nicht statt. — Damit hat die parlamentarische Lage eine weitere erhebliche Verschlechterung erfahren, und das Gerücht tritt bereits aus, daß in Folge dieser Zwischenfälle die deutsche Obstruktion wieder schärfer markirt werden solle und zwar durch namentliche Abstimmungen. Ferner verlautet gerücht weise, daß die Regierung den Czechen ihr Entgegenkommen praktisch erweisen werde durch die Errichtung einer czechischen Universität in Brünn und eines czechischen Polytechnikums in Olmütz. Wenn sich das Alles bewahrheitet, so scheint als das eigentliche Ergebniß der Vorgänge der letzten Zeit einerseits eine abermalige Verschärfung des Parteistreites, andererseits aber, statt einer Verbesserung sür die deutschen Forderungen, eine Verschlechterung ihrer Aussichten sich herauszustellen, mit einem Worte, Graf Thun giebt sein verstecktes Spiel mit der „Ver söhnung" auf, da es ihm nicht gelungen ist, die Deutschen durch schöne Worte und die Vertröstung auf die Zukunft einzufangen und zur Niederlegung der Waffen zu veranlassen, und wendet sich wieder öffentlich seiner alten Liebe, dem czechisch angehauchten Feudalismus zu. Er muß selbst handeln, nicht nur ver sprechen, wenn er etwas bei den Deutschen erreichen will, und das lag wohl von vornherein nicht in seiner Absicht. Noch ist es nicht ganz so weit, denn vr. Bärnreuther ist noch nicht aus dem Kabinette ausgetreten, und "das müßte doch die erste Folge dieser Schwenkung sein. Aber man muß sich anscheinend auf Alles gefaßt machen. Daß unter diesen Umständen an einen Zusammentritt des Sprachenausschusses nicht gedacht werden kann, ist klar, ganz abgesehen davon, daß dessen Wohl auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben erscheint, würden die Deutschen ihn unter den gegenwärtigen Verhältnissen niemals beschicken. Durch die Weigerung der Rechten, auch den Antrag Steinwender zur Dringlichkeit zuzulassen, ist also der ganze Effekt der bisherigen Verhandlungen mit einem Schlage beseitigt und die parlamen tarische Lage wieder auf demselben „tobten Punkte" angelangt, auf dem sie sich beim Rücktritt des Herrn v. Gautsch befand. Im Abgeordnetenhaus verlangte der sozialdemokratische Ab geordnete vr. Verkauf, daß sein Dringlichkeitsautrag, betreffend die Aushebung der Getreidezölle, sofort verhandelt werde. Schönerer erklärt sich dagegen; der Präsident erklärt, den Antrag Verlaus mit Rücksicht auf die Einwendung Schönercrs nach der Geschäftsordnung nicht zur sofortigen Verhandlung zulassen zu können. — Handelsminister vr. Baernreither beantwortet die Interpellationen betreffend die Getreidezölle und erklärt, die Regierung wolle nach reiflicher Prüfung eine eventuell eintretende Wirkung der Suspendirung der Ge treidezölle nicht überschätzen, da gegenüber dem Wegfälle des be stehenden Zollsatzes sich andere preissteigernde Einflüsse auf dem Weltmärkte geltend machen könnten. (Zustimmung.) In diesen Erwägungen sei die Regierung zu dem Entschluß gekommen, wegen einer Erörterung dieser Frage mit der ungarischen Regierung in Verhandlung zu treten; diese Verhandlungen seien bereits im Zuge. (Beifall.) Die Abgg. Kolischer (Pole), Verkauf (Sozd.), Lecher (dentschsortschr.) und Vukovic (Dalmat.) sprechen sich für Aufhebung der Getreidezölle aus; die Abgg. Gregorig, Steiner und Scheicher (christl.-sozial), Kaiser (Deutsch. Volksp.), Wolf (Schönerianer), Hagcndorser (kath. Volksp.) und Tekly (Jung- czeche) gegen eine solche. Die Debatte wird, der Geschäftsordnung gemäß, ohne Abstimmung beendet. Der Termin sür die nächste Sitzung wird schriftlich bekannt gegeben werden. England und die Vereinigten Staaten. Die englischen Blätter sind gegenwärtig sehr eifrig mit amerikafreundlicher „Stimmungsmache" beschäftigt. In den beweglichsten Worten er gehen sie sich über die spanische Mlßwirthschast auf Kuba und über die Vortheile, die in einer Besitzergreifung der Perle der Antillen durch die Amerikaner sür die gesammte civilisirte Welt liegen würden. Am meisten thun sich bei diesen Bewerbungen um die Gunst Amerikas die „Times" hervor, die gar nicht müde werden, die verlotterten Zustände auf Kuba in den schwärzesten Farben zu schildern und daran Vergleiche über den Aufschwung zu knüpfen, den die spanische Kolonie unter der Herrschaft der energischen und rührigen stammverwandten „angelsächsischen" Rosse sehr bald nehmen würde. Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Auslassungen der englischen Zeitungen im allgemeinen und des Londoner Cityblattes im besonderen wirklich die Stimmung des englischen Publikums widerspiegeln. Genaue Kenner der öffentlichen Meinung in England behaupten, der ganze Preßlärm sei nichts als ein künstliches Manöver. Jeden falls aber wird durch diese amerikafreundliche Haltung der ton angebenden Londoner Blätter den umschwirrenden Gerüchten über englisch-amerikanische Abmachungen von neuem Nahrung gegeben. Trotz aller Dementis von maßgebendster Stelle tauchen diese Gerüchte immer wieder auf und finden in gutgläubigen Preßorganen weitere Verbreitung. So brachte erst jetzt wieder ein Münchener Blatt eine Pariser Meldung, nach welcher sich in der französischen Hauptstadt mehr und mehr die Meinung befestige, daß Amerika die Philippinen nicht mehr herausgeben werde und daß schon zwischen England und Amerika ein Abkommen zum Zwecke einer Theilung der Inselgruppe getroffen sei. Es kann als völlig außer Zweifel stehend angesehen werden, daß solche Abmachungen zwischen den beiden Staaten ebenso wenig bestehen, wie ein förmlicher Bündnißvertrag, von dem in der Presse soviel gefabelt worden ist und noch immer weiter gesäbelt wird. Es würde das der von den englischen Staatsmännern in den letzten Dezennien befolgten Politik — gleichgiltig, ob ein Whig- oder ein Tory-Ministerium am Ruder war — auch durchaus wider sprechen. Man geht in den leitenden Londoner Regierungskreisen von dem Grundsätze aus, daß es nicht wohlgethan sei, sich durch Vereinbarungen irgend welcher Art die Hände zu binden und dem Gegner einen Einblick in die eigenen Karten zu gestatten. Nach diesem Grundsatz wird man in London wie bisher, so auch jetzt wieder gehandelt und sich zu keinerlei Zusage Amerika gegenüber verstanden haben. Daß die beiden stammverwandten angel sächsischen Mächte in Ostasien viele gemeinsame wirthscbaftliche Interessen haben, die sie auf ein Zusammengehen mit , ander anweisen, ist ja ohne Weiteres klar. Und ebenso kann cs als sicher angesehen werden, daß keiner von beiden Theilen zögern würde, mit dem andern gemeinsame Sache zu machen, wenn sein eigenes Interesse es erheischen sollte. Ohne zwingenden Anlaß aber wird man dem Vetter jenseits des Kanals wohl schwerlich einen Vertrag auf dem Präseutirteller entgegenbringen, der jenem auf Kuba und den Philippinen völlig freie Hand lassen würde. Dazu ist die englische Politik eine viel zu sorgfältig erwägende, vorsichtige und auf den eigenen Vortheil bedachte. Die romanisirenden Bestrebungen innerhalb der bischöflichen Kirche Englands, wie sie sich bei der höheren und niederen Geistlichkeit immer mehr geltend machen, treiben die noch den protestantischen Grundsätzen treu gebliebenen Eng länder allmählich zum gewaltsamen Widerstande. Ein Herr Kensit in London hat am Mittwoch und Freitag der letzten Char- woche, mit dem klaren Bewußtsein, daß ihm sein Schritt An klage und Haft eintragen würde, in zwei Kirchen der Hauptstadt den Gottesdienst der Ritualisten in turbulenter Weise unterbrochen. Am Mittwoch Abend wurden in der Markuskirche, Llar^Iedone- roaä, die „Tenebrue" ganz nach bekanntem römisch-katholischen Ritus gefeiert; allmähliches Erlöschen sämmtlicher Lichter der Kirche bis zum Hereinbrechen der Finsterniß, unter Absingung entsprechender Lieder. Als der Rev. M. I. Fuller mit seinem Assistenten eben den Altarraum verließ, um sich in die Sakristei zu begeben, erhob sich Herr John Kensit, der sich in der Ver sammlung befand, und rief: „Ich, John Kensit, ein getauftes, konfirmirtes und kommunizirendes Mitglied der Kirche Englands, protestire hiermit gegen diesen abscheulichen (woustrus) Gottes dienst, der sich nicht im Oommon xra^enboolc findet, und werde diesen meinen Protest dem Bischöfe von London einreichen!" Ein Herr Hill erbot sich, diesen Protest zu unterstützen. Es entstand sofort eine gewaltige Aufregung. Von allen Seiten hörte man empörte Bemerkungen. Eine Dame sagte: „Ich bin römisch- katholisch, aber solch ein Gottesdienst sollte nicht in einer protestantischen Kirche gehalten werden. Man rief laut nach der Verhaftung des Herrn Kensit. Ein Polizeidiener wurde geholt; der Pfarrer aber sagte ihm, er wünsche nicht die Verhaftung, sondern nur die Entfernung des Herrn Kensit. Dem Letzteren bemerkte er, daß der Erzbischof von Canterbury seiner Zeit als Bischof von London diese Feier gebilligt habe. Eine ähnliche Unterbrechung, welche Herr Kensit für den Gründonnerstag in der Johanneskirche, VassuU-roaä, Briston, gelegentlich der dortigen „Waschung des Altars" mit Wein und Wasser beabsichtigt hatte, wurde dadurch verhindert, daß der Klerus der Kirche die Ceremonie bei verschlossenen Thüren vornahm. Bei der nächst folgenden Demonstration in der St. Cuthbertkirche, Kensington, wurde Kensit wirklich verhaftet. Dort fand am Charfreitag die „Kreuzanbetung" statt. Die Feier besteht in der Verlesung der Leidensgeschichte mit eingelegten Kollektengebeten, denen die Jmproperien folgen, eine Palestrinasche Komposition, während welcher das Kruzifix, das auf die Stufen der Nordseite des Altars gestellt ist, von dem Celebranten enthüllt und geküßt wird. Die Gemeinde tritt heran, erst die Männer, dann die Frauen, welche gleichfalls das Kreuz küssen. Herr Kensit hat sich mit neun Männern und drei Frauen in die ersten Kirchensitze postirt. Als die Reihe der Männer vorüber war, trat er mit seinen Ver bündeten an den,Äommunionstisch, ergriff das Kreuz und ver ließ, indem er es hoch emporhielt, den Altarraum unter dem lauten Ruse: „Im Namen Gottes protestire ich gegen diesen Papismus. Das ist Götzendienst!" Auch hier folgte ein furcht barer Tumult. Kensit mit seinen Genossen wurde von einem Konstabler aus der Kirche geführt, nach der Polizcistation von Kensington gebracht und dort anderthalb Stunden festgehalten. Der Pfarrer von St. Chutbert, Rev. Henry Westall, verklagte ihn wegen Lärmens in der Kirche und Störung des Gottes dienstes. Einem Interviewer der „Daily Siews" gegenüber äußerte Mr. Kensit, er werde mit seinen Protesten fortsahren, bis die Bischöfe sich aus ihre Pflicht besännen. Er sei entschlossen, ins Gcfängniß zu gehen und keine Geldstrafe zu zahlen. Wenn er für die gute Sache leiden müsse, so gäbe es Hunderte draußen, die er auf andere Weise nicht hätte aufrütteln können, die aber nun bereit seien, sein Werk fortzuführen. Frankreich. Der neue Schwurgerichtsprozeß gegen Zola wird sich allem Anscheine nach noch interessanter gestalten als der frühere. Gegenüber ven Enthüllungen des „Siecle" hatten die Esterhazy-Organe behauptet, die angeblichen Briefe des früheren Kommandanten wären Fälschungen. Dazu bemerkt nun der „Siecle": Die Briefe Esterhazys an Schwartz- koppen sollen als Fälschungen nachgewiescn werden. Also kennen die Freunde Esterhazys bereits diese Briese. Oberstlieutenant Picquart hat Paris seit vielen Wochen nicht verlassen. Picquart wurde speziell während der Zeit, wo er mit dem früheren deutschen Militärattache, Herrn von Schwartzkoppen, in Karlsruhe gewesen sein soll, immer in Paris gesehen. Wenn daher eine Photographie existirt, welche Picquart und Schwartzkoppen auf einem Bilde vereinigt darstellt, so ist dieselbe gefälscht. Diese Photographie macht Clemenceau in der „Aurore" zum Gegenstände eines Artikels, worin er ausführt, man solle alle Beweise gegen Drey fus vorbringen, auch den Beweis dafür, daß Dreyfus Dank der Vermittelung eines anderen fremden Militärattaches mit Schwartz koppen in Verbindung gestanden. Das werde um so wichtiger sein, als der deutsche Staatssekretär v. Bülow erklärte, die deutsche Regierung habe weder direkt noch indirekt mit Dreyfus in Ver bindung gestanden. Französische Generalstabs-Offiziere behaupten, Dreyfus habe sich im Verkehre mit einem Miliär-Attachö einer fremden Macht der Pseudonyme „Maximilien", „Alexandrine", „Kriegshund" bedient. Das lind Informationen, welche aus dem Kriegsministerium stammen. Man kann also nicht zweifeln, daß diese Papiere im Generalstabe existiren. Warum publizirt man dies? Will man den fremden Militär-Attache damit einschüchtern? „Diese Vermuthung scheint um so begründeter", fährt Clemenceau fort, „als man uns auch zwei Momentphotographicn verspricht, eine, welche den Obersten Picquart im Gespräche mit Schwartz koppen und eine andere, welche Dreyfus mit einem Militär- Attache zeigt, dessen Nam»« man noch verschweigt. Dieser
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