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251. Freiberger Anzeiger nnd Tageblatt. Seite S. — s? Oktober. 18»«. täuscht zu haben, indem er sie den preußischen für den russische» Adler nehmen ließ. Das Blatt warnt die französischen Militär behörden vor Wiederholungsfällen und hält es für gut, wenn diese den Soldaten aller Waffen den Unterschied zwischen den beiden Adlern beibrächten. Zum Schluß giebt das Blatt die Kritik des Offiziers wieder, die dieser, in anerkennender Weise, im Zuge über die Truppen abstattete. Diese Kritik stimmt im Wesentlichen und zum Theil wörtlich mit dem telegraphischen Be richte überein, den die Kölnische Zeitung vom Paradefeld von ihrem Berichterstatter erhielt. Aus erklärlichen Gründen. Denn der „Straßburger Offizier" war, wie wir dem Pariser Blatte zn feiner Beruhigung mittheilen können, eben dieser Berichterstatter, allerdings, wie jeder Deutsche mit gesunden Knochen, ein preu ßischer Soldat, der aber schon zum alten Eisen gehört, und das besagte Papier mit dem Adler war ein deutscher Paß. Dieser aber wurde nicht in Chalons den Gendarmen vorgewiesen, son dern auf dem Ostbahnhofe in Paris einem höhern Bahnbeamten, als am Abende vor der Parade hier alles drunter und drüber ging und ine niedern Beamten mit einer Ruppigkeit, die wir jen seits der Vogesen bei chen deutschen Bahnbeamten festzustellen «och nie Gelegenheit hatten, jedem, auch den Vertretern der aus wärtigen Preffe, die nicht einen besonderen Erlaubnißschein der Bahnverwaltung vorwiesen, den Zutritt zum Bahnsteig ver wehrten. Ein solcher Erlaubnißschein war aber nur den Ver tretern der Pariser Presse gegeben; die Uebrigen konnten sehen, wie sie zurecht kamen, d. h. sie konnten daheim bleiben, da die Bahnverwaltung dem Publikum gegenüber streikte, aus Mangel an Wagen und Lokomotiven. Da erwies sich allerdings der deutsche — nicht zur Täuschung, sondern zur Legitimation des Berufes seines Inhabers vorgewiesene Paß von einer auffallenden Zugkraft und, wie es schien, durch den Anblick des stolzen Vogels an seinem Kopfe. Er verschaffte seinem Inhaber zwei, nebenbei bemerkt, vollgiltig bezahlte Fahrscheine nach Chalons, womit er und ein englischer Kollege, der sich in seiner Gesellschaft befand, frohen Muthes und liebenswürdig von den Pariser Kollegen in ihrem Sonderzuge ausgenommen nach Chalons dampfen konnten. Der verehrte Kollege von der Münchener Allgemeinen Zeitung, der vor einigen Tagen mit Recht die schnöde Behandlung gegeißelt hat, die den Vertretern der deutschen Presse im Gegensatz zu der vorzüglichen Aufnahme, die die französischen Journalisten in Kiel gefunden haben, war also nicht der einzige deutsche Berichterstatter, dersich einen guten Platz zu erlisten wußte. Zur Charakteristik der hiesigen Zustände und Sitten sei noch bemerkt, wie er es angesangen hat, sich trotz der unvergleichlichen Grobheit der französischen Be hörden Zugang zu verschaffen. Er erzählt: „Schon mehrere Tage, bevor die Revue in Chalons stattfand, wurde mir erzählt, daß im einem, mir namhaft gemachten, meist von Offiziersdämchen, nicht Offiziersdamen, besuchten Nachtrestaurant so viel Revue- trivünenkarten zu kaufen seien, als man mir irgend wünsche. Ich schicke hin, zahlte und so war ich in Chalons, auf der Tribiine ganz dicht neben den kaiserlich russischen Herrschaften. Ländlich, schändlich, aber was gehts uns an! Mit ihrer Höflichkeit, Cour- toisie und Gastfreundschaft jedoch können sich die Franzosen be graben lasten." Der preußische Minister der geistlichen Angelegenheiten hat die Königl. Regierung zu Magdeburg beauftragt, ihre Verfügung vom 2. September ds. IS. betreffend die dreijährigen Schulver- waltungSberichte, insoweit aufzuheben, als darin 1. die Schul aufsichtsbeamten zur Erstattung allgemeiner Berichte über das amtliche und außeramtliche Verhalten, insbesondere über die sitt liche Haltung der Lehrer, 2. die Landräthe zur Aeußerung über die politische Haltung der Lehrer veranlaßt we rden. Ein Berliner Blatt hat die Nachricht gebracht, daß zum Staatskommissar an der Berliner Börse ein früherer Staatsanwalt, jetziger Hilfsarbeiter im preußischen Staats ministerium in Aussicht genommen sei. Ein Berichterstatter fügt hinzu, daß damit Herr Wendelstädt gemeint ist, erklärt aber auch zugleich, daß diese Nachricht nicht zutrifft. Die Ernennung ist bisher schon deshalb nicht erfolgt, weil über die Höhe des Ge halts mit dem Finanzministerium noch nicht eine Vereinbarung getroffen worden ist. Der „Reichsanzeiger" bringt amtlich noch nichts über den Rücktritt des vr. Kayser, schreibt dagegen in seinem nichtamt lichen Theil: „Seine Majestät der Kaiser nnd König haben Aller- gnädigst geruht, dem bisherigen Direktor der Kolonial-Abtheilung des Auswärtigen Amts, Wirklichen Geheimen Legationsrath vr. Kayser, bei seinem Ausscheiden aus dem Dienst des Aus wärtigen Amts den Stern zum Rothen Adler-Orden zweiter Klasse mit Eichenlaub zu verleihen." In nicht mißzuverstehender Deutlichkeit schreiben die „Hamb. Nachrichten": „Die „Voss. Ztg." sagt von dem zurücktretenden Direktor der Kolonialabtheilung des Auswärtigen Amtes, vr. Kayser, bei den nahen Beziehungen, in denen er zu dem Hause des ersten Reichskanzlers gestanden hätte, habe er unter dem „neuen Kurs" Lei den leitenden Personen erst allmählich manches Vorurtheil zu überwinden gehabt. Wir glauben, daß er solche Vorurtheile doch schon früher, vor der Entlassung des Fürsten Bismarck, überwunden hat, da er durch seine Betheiligung am Sekretariate des Staatsraths, die auf hohe Veranlassung, aber ohne Wissen und Mitwirkung des ihm vorgesetzten Reichskanzlers erfolgte, an den Bestrebnngen betheiligt war, die schließlich mit dem Abschiede des Fürsten Bismarck endigten." — Bekanntlich hatte vr. Kayser sein Avancement erst der Protektion des Fürsten Bismarck zu verdanken. Der sozialdemokratische „Vorwärts" schreibt: „Der pensionirte Reichsrüpel im Sachsenwalde hat wieder einen Rückfall in seine alten Gewohnheiten." Den Anlaß zu diesem pöbelhaften Aus fall gegen den Fürsten Bismarck bildet ein Artikel der „Hamb. Nachrichten", worin gesagt wird, der ehemalige Schiffskoch nnd spätere Speisewirth Schwartz aus Lübeck, der auf dem Gothaer Sozialistentag das Verhalten der Mannschaft des „Iltis" in dem letzten Augenblick, wo sie mit einem Hoch auf den Kaiser in den Tod ging, tadelte, würde, „wenn er sich im Kreise patriotisch denkender nnd fühlender deutscher Marinemannschaften blicken ließe, die verdiente Züchtigung erhalten." Zum Schluß bemerkt der „Vorwärts" noch: „Wir konstatiren nur für den künftigen Kulturhistoriker, daß der brutale Rowdy, der dies geschrieben oder schreiben gelassen hat, in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts achtundzwanzig Jahre lang Haupt der Regierung von Preußen (einst „Jntelligenzstaat" genannt) und zwanzig Jahre lang Haupt der Regierung von Deutschland (dem Vaterland des „Volkes der Denker") gewesen ist." Diese Unverschämtheit des Blattes, dessen Parole das Hinansfliegen für jeden, der gegen die Parteiinter essen muckst, ist, müssen niedriger gehängt werden. Vielleicht sieht sie sich einmal ein Staatsanwalt darauf an, ob wirklich in Deutschland der Mann, dem das Vaterland so Großes verdankt, als „pensionirter Rüpel" und „brutaler Rowdy" beschimpft werden darf. Nicht bloß das sittliche, sondern auch das nationale Em pfinden fordert eine Sühne für eine solche unqualifizirbare Be schimpfung des Mannes, den die ganze Nation verehrt. Am Mittwoch beginnen in Ungarn die Reichstagswahken, denen eine kurze, aber selbst für ungarische Verhältnisse und Ge pflogenheiten ungewöhnlich stürmische Wahlbewegung voran gegangen ist. Es wird der „Voss. Ztg." darüber gemeldet: „Budapest, 24. Oktober. Selbst die mit Ableugnungen so schnell fertigen Offiziösen müssen jetzt meine Nachrichten über die blutigen Wahlausschreitungen bestätigen, ja sie ergänzen sie noch durch die Berichte über neue Ausschreitungen. Der niedere Klerus hetzt im ganzen Lande auf die unerhörteste Weise und scheut sich nicht, selbst die verwerflichsten Mittel in Anwendung zu bringen. Die Volkspartei ist in dieser Wahlbewegung ein mächtiger Faktor geworden, dabei geht sie mit rasfinirter Berechnung und Taktik vor, so daß eS großer Anstrengung bedarf, »m sie aus dem Felde zu schlagen. Ziffermäßig wird sie freilich im nächsten Reichstage nicht viel bedeuten, allein sie ist zu einer Macht geworden, gegen die man sich mit Waffengewalt schützen muß. Man sieht für die am Mittwoch beginnende Wahlwoche blutigen Tumulten entgegen und die Regierung ist vorsichtig genug, in die meist gefährdeten Bezirke Militär zu schicken, das auch aus Oesterreich herbeigeholt wird, weil die im Lande befindliche Truppenmacht kaum genügen dürste, die Ruhe aufrecht zu erhalten. Sehr schlecht steht es um die Apponyische Nationalpartei; sie wird mit sehr verringerter Zahl in das neue Abgeordnetenhaus einrücken und sehr leicht kann es ihr gelingen, daß ihr Führer selbst, von seinen Stammwählern in Jaszbereny abgewiesen, gänzlich vor der Thüre bleibt. Die anderen oppositionellen Parteien machen die größten Anstrengungen, ihren früheren Stand zu erhalten, mehr oder weniger dürste es ihnen auch gelingen. Sicher ist jedoch, daß die liberale Partei ein zahlreicheres Kontingent als je inS Parlament entsenden wird. Schon der erste Wahltag, an dem ungefähr 300 Bezirke wählen, wird der liberalen Partei eine große Mehrheit im Hause sichern." — Dem unparteiischen Beurtheiler ist der verjudete ungarische Liberalismus nicht sympatischer als daS chauvinistische ungarische Römlingsthum.' Die Civil-Trauung deS Kronprinzen von Italien und der Prinzessin Helene wurde am Sonnabend im Ballsaale des Quirinal vollzogen. Bei der Trauung wirkte der Präsident des Senats, Farini, als Standesbeamter, der Ministerpräsident Marchese di Rudini als Notar der Krone; der Herzog von Aosta und der Graf von Turin waren die Trauzeugen. Der Kronprinz und die Prinzessin Helene sprachen das Ja mit lauter Stimme und unterzeichneten sodann die in zwei Exemplaren angefertigte Trauungsurkunde. Nach Beendigung der bürgerlichen Trauung im Quirinal bewegte sich ein glänzender Zug sechsspänniger Galakutschen nach der Kirche Sta. Maria degli Angeli. In den Straßen, woselbst Fenster und Ballone reichen Flaggenschmuck trugen, wogte eine begeisterte Menschenmenge. Als der Zug den Quirinal verließ, präsentirten die spalierbildenden Truppen, Kanonen donnerten, die Glocken läuteten und Hochrufe auf daS neuvermählte Paar, wie auf daS Königspaar, ertönten überall. Im Innern der Kirche, die sich mit ihrem breiten, bänkelosen Schiff wie selten eine für repräsentative Zwecke eignet, entwickelte sich von 10 Uhr ab ein farbenprächtiges Bild. In dem unteren Raume waren gegenüber dem Altäre die Plätze für die Königliche Familie und deren Gäste, unmittelbar dahinter die für die Minister und die Spitzen der Behörden, die Generale und die Adjutanten des Königs reservirt, und goldstrotzende Uniformen mit breiten Ordensbändern wetteiferten an Pracht mit den goldgestickte« Fracks. Zu beiden Seiten des Altars und an den Ecken der Altarnische und der Tribünen standen gruppenweise die stattlichen Königskürassiere, die unbeweglich, wie Bildsäulen bis zum Schluffe der Ceremonie ausharrten. Unter den Ministern fiel die hohe Gestalt Rudinis auf, der das Collier des Annunziaten-Ordens über dem grünen Bande des Mauritius-Ordens trug. Auch Crispi war mit diesem Orden geschmückt. In der Diplomaten- Loge war der deutsche Botschafter Herr von Bülow anwesend, neben ihm erregten der türkische Botschafter und der österreichisch ungarische im Magnaten-Kostüm die Aufmerksamkeit, die drei vorderen Reihen der unteren Seitentribünen wiesen jederseits reichen Damenflor auf, bei dem weiße und cremefarbene Toiletten vorherrscht. — Außer zwei Geistlichen hielten der Herzog von Aosta, der Prinz von Turin und der Prinz Mirko einen schmalen, goldbefranzten, weißseidenen Baldachin mit hochgehobenen Armen über dem Brautpaare, während der Prior Piscicelli von San Nicola in Bari die Ceremonie vollzog. Auffallend war, daß Prinz Mirko, obwohl nicht katholisch, als Trauzeuge fungirte. In Orgeltönen und Gesang verhallte allmählich die feierliche Stimmung, und nachdem die Neuvermählten noch den geistlichen Segen empfangen hatten und von allen Seiten ihnen und dem Königspaar, sowie dem Fürsten Nikita Glückwünsche dargebracht waren, leerte sich unter Vorantritt des Hofes das Gotteshaus, und der Zug begab sich zum Quirinal zurück. — Der König hat einen Erlaß unterzeichnet, betreffend eine Amnestie für gemeine, politische, militärische und finanzielle Vergehen. Das „Wolss'sche Telegraphen-Bureau" verbreitet eine Aus lassung des „Times"-Korrespondenten in Rom, der auf eine „weit verbreitete Mißstimmung" hinweist, die in Italien dadurch erregt werde, daß Italiens Interessen beständig denen Deutschlands untergeordnet würden, und auf das daraus folgende Gefühl, daß Italien durch das Verbleiben im Dreibünde wenig zu ge winnen habe. Als englisches Stimmungssymptom ist die Bemer kung des „Times"-Berichterstatters nicht uninteressant, sachlich dürste die Beobachtung unzutreffend sein. Wollte man abschätzen, wer vom Dreibunde bisher größeren Nutzen gehabt hat, Italien oder Deutschland, und wer mehr materielle Opfer gebracht hat, so dürfte Italien doch wohl zu einem recht günstigen Geschäfts- Abschluß kommen. Die „Times"-Politiker hegten den Wunsch, daß Italien den Dreibund aufgebe und sich dem englischen „Schutze" anvertraue. Wie es mit diesem Schutze bestellt sein würde, da von kann die Dongola-Expedition erzählen, die angeblich zur Unterstützung der Italiener, thatsächlich aber als Vormarsch auf Nadine. Bon B. von der Lancken. (41. Fortsetzung.) (Nachdruck verboten.) Ein Brief von der Gräfin Dynar war bald eingetroffen, sie schrieb: „Pareiken, den 15./12. 18 . . Lieber, sehr geschätzter Freund! Ich danke Ihnen für den lieben Bries, der nach verhältniß- mäßig langer Zeit wieder einmal Nachricht von Ihnen und den lieben Ihrigen brachte — gute Nachricht, was ja die Hauptsache ist. Alle gesund, zufrieden, einen glücklichen Familienkreis bildend. Gott erhalte es so! Und nun zur Hauptsache, zu dem Angelpunkt Ihres Schreibens und meiner heutigen Antwort. Dieser Angelpunkt ist das schöne junge Mädchen, von dem Sie nur Anfang des Herbstes schon einmal berichteten, ohne den Namen zu nennen; damals hofften und fürchteten Sie, daß sie zur Bühne gehen könne, diese gemischten Ahnungen sind nun Wirklichkeit geworden. Ich theile Ihre Ansichten vollkommen und danke Ihnen, daß Sie mir das volle Vertrauen bewahrt haben. Die Familie von Tönning ist eine arme, aber alte und angesehene; der Schritt, den das Mädchen thut, ist eigentlich schon mehr ein „Sprung" in eine ganz fremde Welt, in eine Welt, die für ein junges, mit persönlichen Vorzügen reich ausgestattetes Wesen viele Gefahr birgt, er ist groß und außergewöhnlich. Daß das Mädchen aber diesen „Sprung" einem „Schritt" in eine Ehe vorzieht, die sie weder aus Achtung noch aus Liebe schließen kann, nur um glänzend versorgt zu sein, das beweist einen streng sitt lichen und auch idealen Charakter, und einem solchen kann man schon immerhin etwas znmuthcn. Ich kenne die junge Novize nicht; nachdem, was Ihre Tochter nach Ihrem Diktat' über sie schreibt, denke ich, sie wird, ist die Künstlerin größer in ihr als daS Weib, um des Edlen willen, das in jeder „Kunst" liegt, über das Häßliche und Gemeine hinwegschreiten, das ihr ans dem Wege zur Höhe begegnet, oder, ist das Weib vorwiegend, bald umkehren, ohne Schaden zu nehme», die Scylla und Charybdis der verschiedenen Versuchung passiven und sich eine neue Bahn suchen, die zur Selbstständigkeit führt. Was ich im Uebrigen für Ihren Schützling thun kann, das geschieht, das Inkognito muß streng gewahrt werden, sagen Sie das dem Fräulein von Tönning, nnd sagen Sie ihr auch, daß sie sich ohne Scheu und vertrauens voll an mich wenden darf, daß ich mich freue, sie kennen zu lernen. Menschen, die nicht nach der Schablone zugeschnitten sind, die den Muth haben, für ihre Ueberzeugung voll einzutrcten, haben mir immer besonders gut gefallen! Doch genug des Plauderns, einen warmen Händedruck für Sie, nebst Tochter, Ihrem Sohw und Enkeln. Ihnen rufe ich, lieber Hobrecht, noch ganz besonders — in Erinnerung an unsere Schweizerreise — ein treugemeintes „Behüt' dich Gott" zu und zeichne wie stets, als Ihre alte, aufrichtige Freundin Asta Dynar." Hobrecht war von diesem Brief äußerst befriedigt und gab ihn Nadine zu lesen. Den Tag vor ihrer Abreise verlebte Nadine in der Familie Bleuel. Von ihrer „Pensionsmutter" nnd den übrigen Damen hatte sie sich am Morgen desselben verabschiedet. Frau Alfieri- Tanjy entließ sie noch mit einigen gutgemeinten Rathschlägen und Wünschen, denen sich die Anderen höflichkeitshalber an schlossen, so recht „warm" war Nadine aber mit Keiner geworden, und der Abschied verwischte sich gegenseitig sehr rasch. Anders war es in der Bellevuestraße, wo man die Scheidende mit ganz besonderer Liebe umfing. Emanuel Hobrecht zog das junge Mädchen beim Lebewohl sagen in seine Arme und berührte leise ihre weiße Stirn mit einen Lippen, indem er sagte: „Was treue Freundschaft thun konnte, Sie vor Gefahren zu schützen und Ihnen den Anfang eines schweren Berufes zu er- eichtern, Nadine, es ist geschehen, das Weitere sei Gott befohlen." Das Ehepaar geleitete Nadine zur Bahn; das Billet wurde gelöst und Nadine in einem Damen-Coupe zweiter Klasse unter gebracht, noch ein Händedruck mit den Zurückbleibenden ge wechselt, noch Grüße aufgetragen für den geliebten Meister, für die Kinder — ein schriller Pfiff ertönte, der Zug setzte sich lang sam in Bewegung. Lisi Bleuel legte ihre Hand in den Arm des Gatten und Beide traten ein paar Schritte zurück. Nadines in Thränen schimmernde Augen ruhten auf ihnen, und zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie etwas wie Neid. „Glückliche Frau," dachte sie, „die wohl geborgen ist im eigenen Heim und in der Liebe eines geliebten Mannes." * * Das Dampfroß brauste in die Nacht hinaus, durch die ge frorenen Scheiben war dem jungen Mädchen der Blick in die Außenwelt versperrt; sie vermißte es auch nicht, sie hatte so viel zu denken, lehnte sich in die Kissen zurück und schloß die Augen; langsam rann Thräne auf Thräne über ihre Wangen. Gar zu gewaltig war der Umschwung in ihrem Dasein, gar zu fremd und verändert das Leben, wie es jetzt vor ihr lag. — Wenn der Herzog sie so sähe, so ganz allein auf sich ange wiesen, so schutzlos! Unwillkürlich dachte sie an die Tage ihrer Brautzeit: der Schmerz, der zuerst ihre Seele bewegt hatte, als sie den Entschluß faßte, dem Punzen zu entsagen, dieser Schmerz war merkwürdig rasch gewichen, seit sie erkannt, daß seine Neigung zu ihr wohl ganz ohne edle Regung gewesen, daß er in ihr nur das Weib geliebt hatte, das ihm nur als solches begehrenswerth erschienen war. . Ihre Reisegefährtinnen waren Russinnen, die sich wenig um sie kümmerten, so konnte sie ungehindert ihren Grübeleien nach hängen. In Kreuz war es, wo sie, nach einer Tasse Kaffee Ver langen tragend, ausstieg und das Buffet zu erreichen suchte. Es hatte angefangen zu schneien, auf dem nicht allzu hell erleuchtete» Bahnhof drängten sich Menschen, die ihr, meist in schwere Pelze gehüllt, die Köpfe unter umfangreichen Pelzmützen geborgen, in der unsicheren Beleuchtung einen seltsam grotesken und fremd artigen Eindruck machten; russische und polnische Sprachlaute trafen ihr Ohr. Thee, Grog, Rum, Kognak waren die begehrtesten Getränke. Nach vielen vergeblichen Bemühungen gelang eS Nadine endlich, eine Tasse Thee zu erobern, dann flüchtete sie zurück in ihr Coups und versuchte zu schlafen, und der Traum gott umgaukelte sie bald mit den lieblichsten Bildern ihrer Ver gangenheit; sie träumte von Herzog LouiS, von ihrer Fahrt zu Hofe als seine Braut, — die Misere des Lebens lag für wenige Stunden, so weit, so weit von ihr. — Die Jugend hatte ihr Recht geltend gemacht, Nadine erwachte erst in Dirschau, und nachdem sie sich hier durch ein Frühstück gestärkt, setzte sie ihre Reise fort und erreichte gegen zehn Uhr Morgens Elbing. Ziemlich rathlos stand sie auf dem nicht sehr belebten Bahnhof, ein eisiger Wind pfiff und trieb ihr den mit kleinen Eisschloßen vermischten Schnee ins Gesicht, gegen den selbst der dichte Gazeschleier keinen genügenden Schutz bot. Nach einer geschlossenen Droschke sah Nadine sich vergebens um, nur Schlitten von meist etwas primitiver Art standen zu ihrer Ver fügung. „Nach dem ersten Hotel!" befahl Nadine kurz, wickelte sich in ihren pelzbesetzten Mantel und hatte eben Platz genommen, als das leichte Gefährt auch schon mit ihr der Stadt zusauste. Der Bahnhof in Elbing liegt etwas entfernt von der Stadt, und Na dine konnte, bis sie ihr Ziel erreicht, die preußische Kälte und die preußischen Winde genügend kennen lernen. Kellner und Wirth empfingen die anscheinend sehr vornehme junge Dame mit aller Devotion, und Nadine wurde in ein hübsch ausgestattetes Zimmer geführt, das aber längere Zeit nicht geheizt sein mochte, denn eS war eine bitter kalte und eingeschlossene Luft in demselben. Na dine klapperten buchstäblich die Zähne im Munde; nachdem sie sich etwas restaurirt hatte, wünschte sie zu frühstücken. Der Wirth schlug ihr vor, zu diesem Zweck sich nach unten in den Specse- saal zu bemühen. (Fortsetzung folgt.)