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Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 07.06.1896
- Erscheinungsdatum
- 1896-06-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1878454692-189606070
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1878454692-18960607
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1878454692-18960607
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- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Bemerkung
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- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Freiberger Anzeiger und Tageblatt
-
Jahr
1896
-
Monat
1896-06
- Tag 1896-06-07
-
Monat
1896-06
-
Jahr
1896
- Titel
- Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 07.06.1896
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Areibevger Anzeiger «nd Tageblatt. Sette 3. — 7. Ium. Lichte offenbaren sich die ZustLnde in dem russischen Zarenreiche. Der Welt erscheint es in ungemessener Ausdehnung und Kraft fülle; übermäßiger Glanz strahlte von seinen Krönungsfeierlich keiten bis in die fernsten Länder, um allen Völkern Kunde zu bringen von dem Glück und der Macht der russischen Krone. Aber die aus den Massengräbern der Zertretenen empordringende Stimme bringt es dem menschlichen Ohr vernehmbar zum Bewußt sein, daß äußerer Schein nur zu oft über das wahre Wesen der Dinge täuscht. Das russische Volk hat sich bei denErönungs- feierlichkeiten auf einer sehr tiefen Stufe der menschlichen Kultur und noch ganz beherrscht von den niedrigsten menschlichen In stinkten gezeigt. Der nachtheilige Einfluß der im reinsten Formalismus erstarrten orthodoxen Kirche und der Halbbildung der sich mehr und mehr in laxer Sittenauffafsung zersetzenden höheren Gesellschaftskreise hat in keiner Weise erziehend und ver edelnd auf das niedere Volk einzuwirken vermocht. Andererseits steht das Beamtenthum noch ganz auf dem alten Standpunkt völliger Korruption und mangelnder Befähigung zur Erfüllung höherer Staatszwecke. Es zehrt am Mark des Landes und sinnt nur darauf, die öffentliche Mark zur Befriedigung persönlicher Habsucht zu verwenden. So hat es natürlich auch die Moskauer Feierlichkeiten gewissenlos als vorzügliche Gelegenheit zur Er zielung persönlicher Vortheile verwerthet. Es wird glaubwürdig versichert, daß russische Beamte selbst die Katastrophe bei Ver theilungen der Geschenke d«S Zaren veranlaßt hätten, um die von ihnen hierbei verübten Unterschlagungen und Veruntreuungen zu verdecken. Ein Augenzeuge schildert die unglaubliche Gleichgültig keit der Beamten nach dem Unglück. Stundenlang lagen die Leichen haufenweise unbeachtet auf der Straße. Ein anderer erinnert an die mangelnde Voraussicht der Polizei bei der Ver- theilung der Lebensmittel. Anstatt Hunderte fliegender Restau rationen aufzuschlagen, hatte man den Ausschank von Bier auf eine ganz kurze Strecke beschränkt. Anstatt die Massen sich ver nünftig vertheilen zu lassen, wurden sie durch die Festordner in das namenlose Unglück geradezu hineingehetzt. Und die, die die Gaben glücklich eingeheimst hatten, verkauften sie sofort wieder für Wenige Kopeken, um Schnaps dafür einzutauschen. Sticht höher steht aber auch die gebildete Welt Rußlands, die trotz des markerschütternden Unglücks sich keinen Augenblick in seinen Festesfreuden stören ließ. Wohin man blickt, wilde Verrohung, tiefste Korruption, volle Entartung der guten Sitten. Ueberall seelische und wirthschaftliche Zerfahrenheit, Verlotterung des StaatSorganismus. Ein auf solcher Grundlage beruhendes Weltenrcich gleicht denn doch zu sehr einem Koloß auf thönernen Füßen und hat noch alle Arbeit zu erfüllen, um sich zunächst selbst zu erhalten, geschweige eine große Weltmission zu über nehmen. Wie ein Mene-Tekel redet denn auch die furchtbare Katastrophe zu dem russischen Volke selbst; wird es die Warnung des Himmels vernehmen? In Minsk hat der Krönungstag ebenfalls einen traurigen Abschluß gefunden. Im Gouvernementsgarten brach während des Volksfestes am Abend das Geländer einer Brücke über den Swislotsch-Flnß ein. Infolge des großen Volksandranges stürzte eine Menge Menschen ins Wasser; viele von ihnen ertranken. Oertliches und Sächsisches. Freiberg, den 6. Juni. — Die mehrfach erwähnte Reise Ihrer Majestäten des Königs unv der Königin nach England, woselbst bekanntlich das Königspaar einen mehrwöchentlichen Aufenthalt zum Gebrauche eines Seebades zu nehmen gedachte, unterbleibt auf ärztlichen Wunsch. Das Befinden Sr. Majestät des Königs hat in den letzten Wochen mehrfach zu wünschen übrig gelassen. Herr Geh. Medizinalrath vr. Fiedler ist während des jetzigen Aufenthalts der König!. Majestäten in Sibyllenort wiederholt dahin berufen worden, um von Sr. Majestät dem König hinsichtlich des vor zwei Jahren in Erscheinung getretenen, große Schonung ge bietenden Leidens konsultirt zu werden. Da die englische Reise unterbleibt, so dürfte der Aufenthalt der König!. Majestäten nach Rückkehr aus Sibyllenort zumeist im Lustschloß Pillnitz ge nommen werden. — Auch dieses Jahr wird Te. König!. Hoheit Prinz Max zum Besuche in der väterlichen Villa zu Hosterwitz erwartet. — Nach einer jüngsten Entscheidung des Reichsgerichts ist jede Störung von kirchlichen Gottesdiensten strafbar, selbst wenn keine Unterbrechung oder Störung der Funktionen des Geistlichen herbeigeführt wurde; ebenso ist die Mitwirkung an der Störung durch lautes Sprechen, Lachen, auffallendes Singen strafbar. Die Strafe lautet auf Gefängniß bis zu 3 Jahren. — Stadtverordnetenfitzung am 5. Juni. Es gelangen zunächst einige Registranden - Eingänge zur Erledigung. Das Kollegium nimmt Kenntniß von einem Schreiben des Rathes, worin derselbe mittheilt, daß er nach dem Vorschläge des Gas- und Wasserausschnsses die Frage wegen Herstellung eines Ver- kanfsladens in der Gasanstalt bis zur endgiltigen Entschließung über die Errichtung des Elektrizitätswerkes auf sich beruhen läßt. — Den ersten Gegenstand der Tagesordnung bildet ein Bericht über das vom Rath zur Genehmigung an das diesseitige Kol legium herübergelnngte Statut und die Hausordnung für das städtische Armenhaus. In Bezug auf das Statut ist der Rath allenthalben den hierzu gefaßten Beschlüssen des Stadtverordneten kollegiums beigetreten; nur die Kgl. Kreishauptmannschaft hat bei Z 4 eine Streichung vorgenommen. Betreffs der Hausord nung ist der Nath, entgegen dem Vorschlag des Kollegiums, in einem Punkte bei seinem ursprünglichen Beschluß stehen geblieben. Das Stadtverordnetenkollegium genehmigt einstimmig und ohne Debatte das Statut und die Hausordnung für das städtische Armenhaus. — Zur Berathung kommt sodann ein Nathsbeschluß wegen der Ggrnisonvermehrung. Es gelangt ein an Herrn Bürgermeister vr. Beck gerichtetes Privatschreiben von unter richteter Seite zur Verlesung, aus dem hervorgeht, daß vorläufig keine Aussichten dafür vorhanden seien, daß die Stadt Freiberg bei der bevorstehenden Umformung der vierten Bataillone eine weitere Garnison wieder erhalten werde. Der Rath hat indessen beschlossen, da die Entscheidung über die Vertheilung der drei neu zu bildenden Regimenter für Sachsen beim Kriegsministerium noch nicht getroffen worden ist, trotz aller bis jetzt verlautbar gewordenen Annahmen an zuständiger Stelle, also beim Kgl. Kriegsministerium, behufs Herbeiziehung einer zweiten Garnison nochmals dahin vorstellig zu werden, daß die Stadt Freiberg be reit ist, in jeder Hinsicht für die Unterbringung des Militärs die nöthigen Zugeständnisse zn machen und sich in aller Weise zur Erreichung des gedachten Zweckes entgegenkommend zu verhalten. Das Kollegium tritt diesem Beschlusse bei. — Die Rechnungs- Deputation berichtet weiter über 14 verschiedene Rechnungen aus dem Jahre 1893, die sämmtlich vom Kollegium debattelos und einstimmig richtig gesprochen werden. — In gleicher Weise tritt das Kollegium dem Nathsbeschluß bei, betreffend die Anlegung eines besonderen Kontos für die an der Straße 0 liegenden städtischen Grundstücke und die MMung oeyewm mit den, dem Stockmühlenbesitzer Richter gezahlten 20000 Mk. — Der Rath fordert die Verwilligung von 7700 Mk. für Herstellung einer Feuertelegraphen-Anlage. Die Sache ist schon im Jahre 1889 Gegenstand der Berathung im Stadtverordneten-Kollegium ge wesen. Damals wurde aber die Vorlage, weil man daS Be- dürfniß für die Anlage nicht anerkannte und auS Gründe« der augenblicklichen Lage, abgelehnt. Zweck der Anlage ist, die Nach richt eines Brandes noch rascher, als es gegenwärtig geschieh^ zur Kenntniß der Feuerwehr zu bringen. Die Feuermelder sollen mehr oder weniger öffentlich angebracht werden, doch bat man davon abgesehen, für die Anlage solche Apparate zu wählen, die Jedermann zugänglich sind, weil m diesem Falle, wie im Laufe der Berathung hervorgehoben wird, gerade für Freiberg die Möglichkeit häufigen Mißbrauchs vorauSzusehen wäre. Es sollen vielmehr verschließbare Apparate angebracht werden, für welche eine entsprechende Anzahl Schlüssel an geeignete Personen zur Abgabe gelangen sollen, sodaß nur der Inhaber eines solchen Schlüssels in der Lage ist, den Apparat iu Thätigkeit zu setzeu. Hinsichtlich der Ausführung ist mit einer Berliner Firma ein . Vertrag in Aussicht genommen, in welchem unter anderem die Bedingung enthalten ist, daß die Ausführung selbst einer hiesigen Firma übertragen werden, während die Leitung der Unter nehmerin verbleiben soll. Das Kollegium tritt dem Beschlusse des Rathes bei. — Dasselbe geschieht hinsichtlich deS Naths- beschlusses über Verwilligung von 750 Mr. für Fortführung der Reinwasserleitung bei der Regulirung der Saubach. — Seit mehreren Jahren hat das Freiberger Realgymnasium eine fortschreitende Steigerung der Schülerzab! aufzuweisen, sodaß sich gegenwärtig für die Quinta der Anstalt die Einführung einer Parallelklasse als nothwendig erweist. Der Realgymnasialausschuß hat sich für die Trennung der Quinta ausgesprochen. Der Rath hat in diesem Sinne beschlossen tmd die Annahme eines Hilfslehrers mit einem Jahresgehalt von 1500 Mk. genehmigt. Das Kollegium stimmt diesen Nathsbeschluß einstimmig und debattelos zu. — Weiter tritt das Kollegium den Rathsbeschlüssen hinsichlich der Deckung des Fehlbetrages bei der Rechnung der Arbeitsanstalt auf 1895 von 740 Mk. a«S der Armenkasse und Erhöhung der von Privaten zu zahlenden Arbeitslöhne von 18 auf 20 Pf., sowie in Bezug auf unentgelt liche Ueberlassung deS Kaufhaussaales für die Diocesenversamm- lung und für die Hauptversammlung des HauptvereinS der Gustav- Adolf-Stistung undVerwilligung von300M.ru den Kosten dieseSFesteS bei. — In der Zeit vom 8. bis 10. August findet in Freiberg die Generalversammlung des sächsischen Beamtenvereins statt. ES sind von betheiligter Seite für diesen Zweck bislang 200 Mark gesammelt worden. Der Rath hat in Gewährung eines Gesuches der Beamtenschaft beschlossen zu den Kosten der gedachten Generalversammlung die Summe von 300 Mk. zu bewilligen. Das Kollegium schließt sich dem einstimmig und debatteloS an.-,- Ein weiterer Nathsbeschluß betrifft die Verwilligung von 80 Mk. zu den Kosten des GemeindetageS in Zittau und die Beschickung desselben. Der Rath hat die fragliche Summe gewährt und als Abgeordnete die Herren Bürgermeister vr. Beck, Stadträche Börner nnd Heisterbergk gewählt. DaS diesseitige Kollegium tritt dem Nathsbeschluß bezüglich der Verwilligung bei und be schließt seinerseits, ebenfalls drei noch vorzuschlagende Vertreter zu entsenden. — Die Rathsbeschlüsse, betreffend käufliche Urber lassung von 24 Quadratmetern Areal des vormals Breithauptschen Gartens an den Fleischermeister Fehre, den Kaufvertrag zwischen der Stadtgemeinde Freiberg und Gebr. Funke über Areal des Friedhofes und schließlich betreffend eine Verwilligung von 300 Mk. für Anschaffung von 20 neuen Bänken für die Kinder wiese stimmt das Kollegium einstimmig und debatteloS zu, dagegen lehnt es die Verwilligung von 180 Mk. für Herstellung eines gepflasterten Ueberganges auf der Schillerstraße gegeu 8 Stimmen ab. — Schluß der Sitzung um */,9 Uhr. — Für den Bäckereibetrieb tritt am 1. Juli eine neue Verordnung auf Grund des 8 120« der Gewerbe- Ordnung in Kraft, die in der Hauptsache Folgendes bestimmt: Der Betrieb von Bäckereien und solchen Konditoreien, in denen neben den Konditorwaaren auch Ääckerwaaren hergestellt werde«, unterliegt, sofern in diesen Bäckereien und Konditoreien zur Nachtzeit zwischen achteinhalb Uhr Abends und fünfeinhalb Uhr Morgens Gehilfen oder Lehrlinge beschäftigt werden, folgenden Beschränkungen: 1. Die Arbeitsschicht jedes Gehilfen darf die Dauer von zwölf Stunden oder, falls die Arbeit durch eine Pause von mindestens einer Stunde unterbrochen wird, einschließlich dieser Pause die Dauer von dreizehn Stunden nicht überschreiten. Die Zahl der Arbeitsschichten darf für jeden Gehilfen wöchentlich nicht mehr als sieben betragen. Außerhalb der zulässigen Arbeits schichten dürfen die Gehilfen nur zu gelegentlichen Dienstleistungen und höchstens eine halbe Stunde lang bei der Herstellung des Vorteigs (Hefestücks, Sauerteigs), im Uebrigen aber nicht bei der Herstellung von Waaren verwendet werden. Erstreckt sich die Arbeitsschicht thatsächlich über eine kürzere als die im Absatz I bezeichnete Dauer, so dürfen die Gehilfen während des an bei zulässigen Dauer der Arbeitsschicht fehlenden Zeitraumes auch mit anderen als gelegentlichen Dienstleistungen beschäftigt werden Zwischen je zwei Arbeitsschichten muß dem Gehilfen eme ununter brochene Ruhe von mindestens acht Stunden gewährt werden 2. Auf die Beschäftigung von Lehrlingen finden die vorstehender Bestimmungen mit der Maßgabe Anwendung, daß die zulässig» Dauer der Arbeitsschicht im ersten Lehrjahre zwei Stunden, in zweiten Lehrjahre eine Stunde weniger beträgt, als die für di» Beschäftigung von Gehilfen zulässige Dauer der Arbeitsschicht und daß die nach Ziffer 1 Absatz 3 zu gewährende ununterbrochen» Ruhezeit sich eben um diese Zeiträume verlängert. 3. Ueber di» unter den Ziffern 1 und 2 festgesetzte Dauer dürfen Gehilfen unt Lehrlinge beschäftigt werden: ») an denjenigen Tagen, an welche» zur Befriedigung eines bei Festen oder sonstigen besondere» Gelegenheiten hervortretenden Bedürfnisses die untere Vev waltungsbehörde Ueberarbeit für zulässig erklärt hat; b) außer dem an jährlich zwanzig, der Bestimmung des Arbeitgebers über lassenen Tagen. Hierbei kommt jeder Tag in Anrechnung, ar den« auch nur ein Gehilfe oder Lehrling über die unter de» Ziffern 1 und 2 festgesetzte Dauer beschäftigt worden ist. Auck an solchen Tagen, mit Ausnahme des Tages vor dem Weihnacht^ Oster- und Pfingstfest, muß zwischen den Arbeitsschichten de» Gehilsen eine ununterbrochene Ruhe von mindestens acht Stunden den Lehrlingen- eine solche von mindestens zehn Stunden im erste» Lehrjahre, mindestens neun Stunden im zweiten Lehrjahre ge währt werden. Die untere Verwaltungsbehörde darf die Ueber arbeit (a) für höchstens zwanzig Tage im Jahre gestatten. 4.A» Sonn- und Festtagen darf die Beschäftigung von Gehilfen uni Lehrlingen auf Grund des 8 105 e der Gewerbeordnung und de in den" 83 105« und 105k a. a. O. vorgesehenen Ausnahme bewilligungen nur insoweit erfolgen, als dies mit den Bestimmungei u nter den Ziffern 1 bis 3 vereinbar ist. In Betrieben, in denen Gehilfen und Lehrlingen für den Sonntag eine mindestens vier- ndMUizigMaLWe, spätestens am Sonnabend Wend um 10 Uhr schästigt und ein Einkommen von 3000 bis 3300 Mark hat. Gegenwärtig zahlt derselbe, den Gesellen in der höchsten Lohn- klasse gerechnet, 7 Mark 80 Pfg., in Zukunft würde er zahlen 30 Mark. Ein Beamter, der gar keine Arbeiter beschäftigt, würde bei einem Einkommen von 6000 Mark in Zukunft anstatt 160 Mark Staatseinkommensteuer 240 Mark zu zahlen haben. Soll daS etwa „gerecht" sein? Berechtigtes Aufsehen erregt eine Schrift des englischen Ge schichtsschreibers William Hartpole Lecky über Demokratie unv Freiheit. Der selbst weitgehenden freiheitlichen Volks rechten zugeneigte Verfasser stellt sich auf Grund der geschicht lichen Erfahrungen freimüthig den herrschenden demokratischen Schulmeinungen entgegen, daß Freiheit und Gerechtigkeit, — sichere Erkenntniß des politisch Zweckmäßigen und freiwillige Uebung der politischen Pflicht, nur dort Platz greifen könne, wo das Volk selbst souverän über seine Geschicke entscheide, und wo jedem erwachsenen Staatsbürger die ganze Fülle der politischen Rechte unterschiedslos verbürgt sei. Der englische Geschichts schreiber »nacht sich zum offenen Gegner deS allge meinen Wahlrechts. Er erklärt es für grundfalsch, daß jeder Mann im Staate eine Stimme, und zwar die gleiche wie fein Nachbar haben soll; er bezeichnet eS auch als thöricht und gefährlich, daß die Regierung, wie in England, Frankreich und Itaker», aus den Reihen der gewählten Volksvertreter entnommen wird. Die Zahl der wirklich Klugen ist nach seiner Meinung stets gering, die der Unwissenden stets übergroß; wo also die durch ihre Zahl überwiegenden ungebildeten Bolksklassen den Ausschlag geben, gelangt natürlich auch die Unbildung in die Parlamente. Man stelle, sagt er, einen charaktervollen und ge bildeten Gentleman in einer allgemeinen Volksversammlung einein großmäuligen Klopffechter gegenüber, und bei freier Wahl wird mit Sicherheit der letztere gewählt werden: vermehrte Unwissen heit in Wahlversammlungen hat sich aber noch nie in vergrößerte Fähigkeit im gewählten Parlament umgewandelt. Alle Beispiele aus der Geschichte sprechen gegen die demokratischen, aus allge meinen Wahlen hervorgegangenen Parlamente. Lediglich unter dem Drucke der Macht der modernen Parteihäuptlinge kommt jetzt die parlamentarische Vertretung zu Stande, — unter der Wühlarbeit jener Elemente, die die Volksmassen umschmeicheln und deren Gunst durch die fadesten Versprechungen zu gewinnen suchen. Auf diese Weise muß, wie Lecky betont, die Demokratie nothgedrungen zum Gegentheil der Freiheit werden. Das allge meine Wahlrecht ist die Quelle der Staatszersetzung, und wenn es obenein noch geheim geübt wird, ein Hebel für die Verleitung deS Volkes zur Heuchelei und Hinterhältigkeit. Es ist auf die Dauer unhaltbar. Die Verfügung des Berliner Polizeipräsidenten, daß die Ge schäftsleute außer der eingetragenen Firma den vollständigen Namen deS Inhabers auf die Firma zu setzen haben, war, wie man auS Jena schreibt, Gegenstand einer Frage bei der letzten an dortigen Oberlandesgericht abgehaltenen Rechtskandidaten prüfung. Der Rechtskandidat, an den diese Frage gerichtet war, erklärte diese Verfügung nach dem deutschen Handelsgesetzbuch für ungesetzlich was der Examinator für richtig bezeichnete. Die „N. Fr. Pr." berichtet: „Großes Aufsehen ruft eine antisemitische Kundgebung hervor, die gestern nach der Fron leichnamsfeier stattgefunden hat. Das Publikum begrüßte den Kaiser von Oesterreich und die Erzherzoge, die nach beendeter Feier von der Stefanskirche fortfuhren, durch Abnehmen der Hüte. Als jedoch die Prunkwagen des Bürgermeisters Strobach und der beiden Bizebürgermeister sichtbar wurden, schrie ein Theil der Zuschauer mit unverkennbar demonstrativer Absicht: „Hoch Strobach! Hoch Lueger!" Diese auffallende Kundgebung Pflanzte sich vom Stefansplatz über den Graben und Kohlmarkt fort. Der Eindruck war so verletzend, daß Protest rufe im anwesenden Publikum laut wurden. Der verwegene Zweck dieser Kundgebung ist klar genug. Das Gerücht, daß eine antisemitsche Kundgebung stattfinden werde, war schon früher verbreitet. Die „N. Fr. Pr." fügt hinzu, daß Lueger kürzlich bei einer in Gegenwart des Kaisers veranstalteten Kirchenbaufeier ebenso absichtsvoll begrüßt wurde wie gestern. Ein gleicher Ber- such wurde bei der Enthüllung des Mozartdenkmals unter nommen." — Das ist die „über allen Zweifel erhabene Loyalität" der Antisemiten! NeguS Menelik scheint es mit der Auslieferung der italienischen Gefangenen nicht eilig zu haben. Er ist sich ganz klar darüber, welch starken Druck die Thatsache der Gefangenschaft vieler hundert Italiener auf Regierung und öffentliche Meinung in Italien aus übt, und daß er mit diesen Gefangenen vielleicht das wirksamste Mittel in der Hand hat, einen Frieden, wie er ihn will, zu er zwingen. Er sucht sich ihrer darum nach Möglichkeit zu ver sichern und hat, wie aus Asmara gemeldet wird, alle seine Unter feldherren angewiesen, ihre Gefangenen nach Entoto in Schoa zu schicken, sie aber gut zu behandeln, damit sie dort in gutem Zustande einträfen. Den Erben der sogenannten Rechte des französischen Kaiser reichs, den Prinzen Victor, trifft ein gerechtes Schicksal. Er warf sich bei Lebzeiten seines Vaters, des Prinzen Jerome Napoleon, zum Thronforderer auf, in böswilligstem Ungehorsam gegen seinen Vater, den er verleugnete, über den er harte Tadelsworte zn sprechen wagte, dem er die schuldige Sohnesachtung roh ver weigerte. Jetzt wird ihm mit ähnlicher Münze heimgezahlt. Seine früher eifrigsten Anhänger sagen sich rücksichtslos und höhnisch von ihm los und erklären öffentlich, Prinz Victor sei cchts, könne nichts, habe nichts und es sei von ihm schlechter- -ings nichts zu erwarten. Die „Autoritö" war das Hauptblatt der Imperialisten. Paul de Cassagnac, dessen Leiter, ist nun mit Waffen und Gepäck zum Orleanismus übergegangen. Er nahm den Brief des Herzogs von Orleans, der die Vereinbarkeit des allgemeinen Stimmrechts mit dem Erbkönigthum von Gottes Gnaden verkündet, zum Anlaß oder Vorwand, um seine Schwenkung auszuführen. Der „Petit Caporal" sucht noch einigermaßen für den Prinzen Victor Stimmung zu machen, aber er thut es auf fallend lau und schlapp und der Augenblick ist wahrscheinlich nahe, woselbst Herr Cuneo d'Ornano dem Beispiele Cassagnacs folgen wird. Der Hauptgrund, der gegen den Prinzen Victor spricht, ist, daß er nichts hat. Sein eigenes Einkommen aus dem Pflicht- theil von der väterlichen Erbschaft beläuft sich etwa auf 10 000 Francs. Von seiner Mutter, der Prinzessin Clotilde, der Prinzessin Mathilde und der gewesenen Kaiserin Eugenie bekommt er starke Zuschüsse, die cs ihm möglich machen, in Brüssel auf einem Fuße von 60 000 Francs jährlich zu leben. Aber sür seine Anhänger, seine Parteigliederung, für Blätter, für Wahlen hat er keinen Pfennig und so kann er natürlich gegen den Herzog von Orleans nicht aufkommen, der die Hunderte Millionen seiner Familie hinter sich hat. Die Bouapartisten sind nicht gewohnt, für ihre politischen Ueberzeugungen Opfer zu bringen; sie ver langen, daß diese Ueberzeugungen sie nähren. Je mehr Einzelheiten über die schreckliche Katastrophe in Moskau, bei der nach dem „Standard" 3600 Menschen zu Grunde aeoamen sind, bekannt werden, in einem um so bedenklicheren
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