Suche löschen...
Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 07.10.1883
- Erscheinungsdatum
- 1883-10-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512382794-188310074
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512382794-18831007
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-512382794-18831007
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote
-
Jahr
1883
-
Monat
1883-10
- Tag 1883-10-07
-
Monat
1883-10
-
Jahr
1883
- Titel
- Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 07.10.1883
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Chemnitzer Anzeiger und Siablbote. Nr. «8. Sonntag, 7. Oktober. Seite 6. Ms es nun vollends dunkel geworden, begab er sich nach einem Nebenzimmerchen, dessen einziges Fenster nach der Kirchgasse hinaus ging und aus welchem er sich oft mit Rosine über das Gäßchen hinüber auf das Herzlichste unterhalten hatte. Der liebende Gottfried hatte anfangs mit dem schmerzlichen Ge fühl deS Verlassenseins hinüber nach dem dunklen Beißer'schen Hause geschaut, hatte seine sehnsuchtsvollen Blicke mit aller Gewalt, die der Liebe zu eigen, in die Dunkelheit gebohrt, aber nichts als die schwarze Masse der gefühllosen Wand bot sich dar. Um so freudiger aber überraschte cs ihn, als er Plötzlich drüben am wohlbekannten Fenster das leichte Geräusch vernahm, welches das Oeffnen desselben begleitete. Rosine ihrerseits war auch vom Drang ihres liebenden Herzens getrieben, an das Fenster getreten, durch welches man nach? dem Manschen Hause sehen konnte, hatte es geöffnet und dann sah sie sehnsuchtsvoll hinüber nach den Scheiben, hinter denen Gottfried sie so oft gegrüßt. Beide waren nun höchst angenehm überrascht, als sie sich ein ander gegenüber fanden, da doch Jedes das Andere beim Feste ver- «uthet hatte. Draußen in der Welt war zwar Heller Mondschein, aber im Kirchgäßchen, wie auch in den meisten übrigen Gassen der Stadt war eS stockfinster, da die hohen überhängenden Giebel nur eine ganz geringe Spur vom Lichtschein herabließen. So konnte auch Rosine von ihrem Gottfried nichts sehen, als die Augen, die vor Liebe, wie ein paar Johanniswürmchen, in ihr Herz herüberleuchteten. Als Gottfried merkte, wie Rosinchen drüben ihr Köpfchen heraus steckte und leise seinen Namen hauchte, da war er über alle Maßen entzückt. „Sinchen, bist Du es?" hauchte er zurück. „Ja, Gottfried!" „Bist Du allein?" „Ganz allein! Die Magd habe ich fortgeschickt, damit sie ihre Schwester in der Langgaffe besuche, aber ich wollte beinahe, sie wäre dageblieben." „Fürchtest Du Dich, Sinchen?" „Ach ja, ganz entsetzlich!" „Sinchen, ich komme ein wenig hinüber." „Aber die Thür ist ja zugeschlossen!" „Das ist freilich sehr schlimm. Wenn nur die Gasse nicht so breit wäre, daß wir uns erreichen könnten! Wäre eine halbe Elle weniger Zwischenraum, so könnten wir uns bequem küssen." „Mein lieber Gottfried, so lange ich Dich hier am Fenster habe und höre, so lange fürchte ich mich auch nicht. Wir können doch zusammen sprechen und uns an den Händen halten. „Aber schöner wäre es doch, ich könnte ganz hinüber. Doch halt, jetzt kommt mir ein Gedanke. Mein Vater ist Baumeister und ich werde auch einer, darum will ich jetzt zeigen, daß ich schon etwas von meiner Kunst verstehe. „Ich will eine Brücke hinüber nach Deinem Fenster bauen, wie Chemnitz noch keine gesehen hat." „Ja, aber wie soll denn das nur geschehen?" fragte Rosinchen ganz verwundert. „Warte nur einige Augenblicke, bis ich wieder heraufkomme, dann sollst Du die That sehen!" sagte Gottfried und verschwand vom Fenster. Sie harrte nun sehnsüchtig auf sein Wiedererscheinen und dachte hin und her, auf was für Art Gottfried wohl den Brückenbau zu Stande bringen werde. Bald erschien er wieder und rief hinüber: „Jetzt gieb Acht! Sinchen. Ich schiebe Dir ein Bret hinüber. Lege es auf den Fensterstock und halte es fest, dann komme ich da rauf hinüberspaziert. Laß es aber nur ja nicht rutschen!" Sie fühlte bald das Ende des Breies, das er vorsichtig hinüber schob; sie faßte es schnell mit beiden Händen und zog es heran. Der kühne Baumeisterssohn schwang sich, so wie er merkte, daß die Brücke drüben festen Stützpunkt gefunden hatte, gewandt durch das enge Fenster und griff schon drüben nach dem Fenstersims, da o Schreck! senkte sich das Brett jäh nach abwärts — Rosinchen halte es zu weit an sich gezogen — der unternehmende Held und Lieb haber stürzte in die Tiefe und Rosinchen bemerkte mit Entsetzen, daß sie nur noch das leere Bret in den Händen hielt. Und vor Schreck ließ fie auch dieses fallen. Gottfried aber fiel sehr glücklich. Er kam ganz bequem auf einen Wagen zu sitzen, der mit Grünfutter gefüllt war und den der Eigenthümer eines der nächsten Häuschen in der Kirchgasse eben ent leeren wollte. Als der biedere Nachbar Hellmann vor sich den wuchtigen Fall hörte, von dem sein Wagen krachte und als dann das Bret mit lautem Getöse auf das harte Pflaster aufschlug, glaubte er in seinem Schrecken, die Kirchgasse stürze ein, ließ den Wagen, den er unter den Trümmern zerschmettert wähnte, stehen und stürzte mit aller Schnelligkeit fort, um sich zu retten und schrie laut: „Zu Hilfe! Rettet Euch! Die Häuser stürzen zusammen!" Rosine war im ersten Augenblick ganz starr vor Schreck, sie wäre beinahe zusammengebrochen. Doch ihre rüstige Natur und mehr noch die Angst um Gottfried gaben ihr bald die Besinnung und Kraft wieder. Sie begann sofort aus dem Fenster hinab nach Hilfe zu schreien, worin sie unten vom Nachbar Hellmann treulich unter stützt wurde. Und durch dies schreckliche Schreien der Beiden wurden die näch sten Anwohner der Gaffen geweckt und alle glaubten im ersten Schreck, es geschähe ein großes Unglück, und als man die Worte Hellmann's: „Häuser stürzen zusammen!" vernahm, da ergriff alle Leute eine furcht bare Angst und Aufregung. Man befürchtete mindestens, es sei ein Erdbeben ausgebrochen. Der schreckliche Lärm drang bald hinauf zu dem Thürmer. Die ser lugte erschreckt hinab, konnte jedoch von Feuer oder aufsteigendem Rauch keine Spur entdecken; doch hatte er eben lebhaft von einem Erdbeben geträumt, das man ihm kürzlich beschrieben hatte, und so kam er schnell auf den Gedanken, eine solches wüthe unten in der Gegend der Kirchgasse, weil man dort so schrecklich jammerte und von Häusereinstürzen schrie. Er stürzte denn eilig nach dem Glockenstrang, und bald erklang die Sturmglocke dröhnend durch die Stadt, sodaß im Nu die ganze Einwohnerschaft auf den Beinen war. Etliche, die sich schon zu Bett begeben hatten, stürzten im bloßen Hemd auf die Gasse, die Mütter schrieen mit ihren Kindern um die Wette und die Stadtsoldaten an den Thoren bekamen vom furcht baren Schrecken den Wadenkrampf. Viele aber meinten, der jüngste Tag sei über Chemnitz hereingebrochen. Der Tumult drang auch schnell zu dem Festhaus, wo man eben äußerst laut und lustig war. Als das Sturmläuten vernehmlich ward und Stichworte, wie Häusereinstürzen, Erdbeben und ähnliches heraufdrangen, da ward schnell die ganze Gesellschaft stumm und der Bürgermeister, der eben mitt.n in einem launigen Toast war, ließ das erhobene Weinglas fallen. Doch das allgemeine Starren dauerte nur einen Augenblick, dann eilten alle Gäste ängstlich und besorgt nach dem Ausgang, denn Jeder fürchtete für sein Haus und seine Angehörigen. Auch Beißer's und Matz's waren besorgt, es möge ihre Häus lichkeit gefährdet sein, und sie geriethen in heftige Angst, als Jemand in der Nähe, nach dem Ort des Feuers gefragt, zur Antwort gab: „Im Kirchgäßchen ist's!" Da eilten die beiden Elternpaare so sehr sie konnten, um schnell nach Hause zu kommen. Frau Beißer namentlich war in größter Sorge um ihr Rosinchen, das mit der Magd allein zu Hause war. Als sie den Markt betraten, konnten sie nicht mehr vorwärts, weil sich so viele Menschen in der Nähe des Rathhauses nach der Klostergasse hin angesammelt hatten. Was eigentlich los war, wußte Niemand, aber einige erfindungsreiche Köpfe hatten bald verschiedene Nachrichten über die Ursache des Aufruhrs ausgeheckt. Ein Theil erzählte, es seien mehrere Häuser der Klostergasse eingestürzt, andere, bei Beißer's wäre Feuer ausgebrochen und die Bewohner des Hauses eien erstickt. In der Kirchgasse war Alles in größter Sorge, da doch jeden Augenblick noch niehr einstürzen konnte. Sich selbst von der Größe des Unglücks zu überzeugen, daran dachte Niemand im ersten Schreck, olles jammerte und schrie mit Hellmann. Doch einige furchtlose Männer kamen bald auf die Idee, durch das Gäßchen vor nach dem Heerd des Verderbens zu gehen ; aber sowie sie diesen Entschluß laut werden ließen, stürzten ihre Weiber heran und bestürmten und be- chworen die Kühnen, sich doch nicht muthwillig in die furchtbare Gefahr zu begeben, denn es könne doch aller Augenblicke noch mehr einstürzen. Diesen Warnungen konnten die Leute nicht widerstehen, aber man mußte doch wissen, was überhaupt von der Klostergaffe übrig geblieben war, und deshalb begab man sich bald durch die kleine Brüdergasse über den Holzmarkt herum nach der Klostergasse zu; voran ging Hellmann, der ja das Unglück zuerst wahrgenommen hatte. Er stieß bald auf Beißers, denen es noch nicht möglich gewor den war, den Menschenknäuel zu durchdringen. „Grüß Euch Gott, Herr Nachbar!" rief er beim Anblick der Der Schwur Wladimir's. „Ich weiß recht Wohl," sagte die Lehrerin, „daß ich mehr von Euch Allen lernen kann, als ich Euch zu sagen vermag, und ich Würde sicherlich zögern, Euch meine Ansichten mitzutheilen, wenn wir nicht seit lange übereingekommen wären, uns nichts zu verheimlichen; denn der Unbedeutenste kann eine plötzliche, glückliche Eingebung haben. Dieser schmeichlerische Eingang wurde günstig ausgenommen; Einige nickten beifällig und zustimmend mit dem Kopfe. „Ich kann nicht wissen, wie der Vorschlag, den ich mache, be- urtheilt wird in dem Kreise, in welchem wir leben, von der Gesell schaft, der wir angehören. Es ist mir im Grunde auch gleichgültig. Die Heiligkeit des Zweckes läßt nicht weniger bedenklich in der Wahl der Mittel sein. Uebrigens will ich bei meinem Handeln, welches allein nur der Revolution gewidmet ist, des biblischen Spruches gedenken: „Du wirst Alles verlassen, Vater und Mutter verlassen!" Was die Bibel zu dem Mädchen sagt, welches auf dem Punkte steht, sich zu verheirathen ich sage es von Denjenigen, die sich der Zukunft der Menschheit angelobt haben." Diese Tirade wurde lebhaft beklatscht; entschieden kannte Parlowna ihr Publikum: dieses war gewonnen. „Ihr wißt Alle daß der Graf Rostow gestorben ist. Wer von Euch zweifelt, daß, wenn sein ungeheueres Vermögen in unseren Händen Wäre, wir an Macht zunehmen würden? Ich gehe noch weiter. Mil den Millionen des Grafen leben wir, haben einen Hebel; ohne sie fahren wir fort im Staub zu kriechen." Die Zuhörer schienen mächtig gefesselt; die Rednerin fuhr fort „Die Erbin des Grafen ist Niemand anders, als eine meiner Schülerinnen, eine Freundin von mir, Gräfin Stasia. Ich habe be schlossen, sie an Einen von Euch, meine Herren zu verheirathen, und es wird geschehen, wenn Sie kein Hinderniß finden, wenn Sic einwilligen." Deutlich und klar, obschon kurz gefaßt, machte diese Rede einen enormen Eindruck. Vor den Augen der Nihilisten schwebte ein ganzes politisches System; sie fühlten sich schon kräftiger, sie fühlten sich unter einer festen Hand. Die Führung, welche die Korrespondenzen der Verbannten der Flüchtlinge so dringend verlangten, sie glaubten sie jetzt antrcten zu können. Die Einen, welche als höchsten Zweck den Umsturz des Be stehenden auf Kosten des Werdenden sahen, applaudirtcn aus Fana tismus und die Andere i, sich schon dem Schmutz und Elend entrissen sehend, stimmten aus Egoismus und Habsucht bei. Sie war gewandt, > diese Frau, die cs verstanden hatte, alle diese Gefühle anzuregen, all diesen Ehrgeiz zu wecken, all diese Lahmheit aufzustacheln. Parlowna war sich ihres Sieges bewußt, ihre grauen Augen leuchteten und sie erschien weniger häßlich, selbst für Wladimir, der sie natürlich verabscheute. Der Präsident beantragte sogleich, ein Hoch auf Parlowna und Danksagung, was auch in das Protokoll ausgenommen wurde. Ribowski erklärte sogar in einer Rede, daß dieser Abend eine historische Bedeutung erhalten werde und daß ihre Nachkommen einstens in dieses kalte, kahle Zimmer wallfahren würden, 'wo Parlowna durch ihre Worte der Revolution einen neuen Schwung gegeben habe. Nachdem die Begeisterung sich einigermaßen gelegt hatte, be gannen die Männer an sich selbst zu denken, und jeder fragte sich, wer derjenige sein werde, auf den die Wahl Parlowna's fallen werde. Ribowski hatte von sich selbst eine vortreffliche Meinung und war nicht weit entfernt zu glauben, daß er die Idee früher wie Parlowna gehabt habe; unbewußt warf er ängstliche Blicke auf die Lehrerin. Diese, mit ausgezeichneter Gewandtheit, hütete sich wohl, mehr zu sagen; sie wartete, bis man sie fragen werde. Die Männer fühlten unbestimmt, daß Fragen an sie stellen über ihre Wahl, ihr zu viel Macht zuerkennen hieße; sie hatte schon einen unleugbar überwiegenden Einfluß; was würde daraus entstehen, wenn man ihn durch solche Unterordnung bestätigte? Und dann, die Meisten, Feinde des Servilismus, hätten sie sich nicht dazu verstehen können, so viel Gewalt, einerlei, welchem von ihnen, einzuräumen; um so weniger wollten sie einer Frau sie zugestehen. Ribowski stand auf. „Ich glaube, dem allgemeinen Wunsche entgegen zu kommen, wenn ich einen Vorschlag mache." „Ja, ja, macht den Euren! Jeder soll den seinigen Vorbringen." „Mir scheint, daß bei einem, für die Partei so wichtigen Falle man nicht so leichthin einen Entschluß fassen sollte; daß derjenige von uns, dem die Mission zu Theil werden wird, zu Gunsten der Re volution über ein so bedeutendes Vermögen zu verfügen, nur durch das Loos bestimmt werden kann. Seid Ihr meiner Ansicht?" „Ja, ja," schrieen die begeisterten Männer. Serge, Wladimir und Parlowna hatten geschwiegen. „Nicht alle haben mit Ja geantwortet," fuhr Ribowski mit einigem Mißtrauen und in halb bedauerndem, halb gereiztem Tone fort. „Ja wohl," sagte Parlowna. „Nie wird ein solcher Vorschlag meine Zustimmung erhalten." „Und warum? Erklärt Euch näher." (Fortsetzung folgt.) Beißer'schen Eheleute. „Ihr habt rechtes Unglück! Aber wie kommt es, daß Ihr hier steht? Wart Ihr nicht zur Zeit des Unglücks in -urem Haus?" „In unserem Haus? Ist denn da ein Unglück geschehen?" fragten nun Beißers aufs Höchste bestürzt. „Daß Gott erbarm! Es ist eingestürzt, und Eures Nachbars, des Matzen seines ebenfalls!" antwortete Hellmann. „Herr Jesus und alle Heiligen!" schrie Frau Beißer, „und unsere Rosine, mein armes Kind, was ist aus ihm geworden?" „Nanu, tröstet Euch, Frau Nachbarin! Sie wird hoffentlich kei nen Schäden genommen haben. Ich hörte sie zwar recht mörderlich schreien, als die Giebel stürzten, aber sie wird nun gewiß heraus und in Sicherheit sein!" Währenddem war unter dem drängenden Volk immer mehr Be wegung geworden. Man war begierig, zu erfahren, was denn nur eigentlich los sei, und Aller drängte hin nach der Seite, wo die Klostergasse einmündete. Da wurde am Rathhause ein Fenster geöffnet. An demselben erschien ein Stadtherold, der mit einigen schmetternden Trompeten stößen die lärmende Menge zum Verstummen brachte und dann mit seiner dröhnenden Stimme herabrief: „Beruhigt Euch, Nachbarn, und begebt Euch nach Hause! Es ist weder Feuer noch Erdbeben in der Stadt und der ganze Lärm ist ohne Ursach gewesen!" „Gott und allen Heiligen sei's gedankt!" riefen Beißers. „Aber Nachbar Hellmann, woher habt Ihr denn erfahren, daß unser Haus eingestürzt sei?" „Straf mich Gott!,S> ist doch wenigstens ein Stück vom Giebel heruntergestürzt! Ich Hab es mit meinen eigenen Augen ge hört und mit diesen Ohren gesehen!" rief Hellmann in höchstem Eifer. „Stücken, so groß, wie Hausthürcn flogen herunter, und ein Krachen gab's, wie von zehn Donnerschlägen! Könnt Euch deß versichert halten! Mein Wägelchen mitsammt dem frischen Futter ist verschüttet worden!" „Nun wollen wir doch schnell heimgehen uud sehn, wie es steht!" sagte nun Beißer, und sie gingen ihrem Hause zu, da inzwi schen auf dem Markte Platz geworden, weil sich die Menge nach den beruhigenden Worten des Herolds bald zertheilte und heim begab. Unterwegs trafen Beißers wieder mit Matzens zusammen. Ob wohl sich beide Familien wegen der zu herzlichen Freundschaft ihrer Kinder innerlich feindlich gesinnt waren, zeigten sie doch äußerlich gegen einander die größte Freundlichkeit, und so rief denn auch jetzt Frau Matz, als sie die Nachbarsleute erblickte, in wärmstem Tone: „Ach, liebe Frau Nachbarin, haben wir um Euretwillen Angst aus standen, als wir hörten, daß bei Euch Feuer sein solle!" „Ach wir danken's euch von Herzen", erwiderten Beißers, „ihr seid immer freundlich und theilnehmend gegen uns!" „Es wäre doch zu schrecklich gewesen," sagte nun Frau Matz und würde noch viele Theilnahme und Ergriffensein wegen der Ge fährdung ihrer Nachbarn an den Tag gelegt haben, wenn nicht eben plötzlich Rosine auf ihre Eltem zugestürzt wäre und sie mit Heftig keit umarmt hätte, so daß Herr Beißer, der etwas korpulent war, laut ächzend aufschrie: „Sine, Du erwürgst einen doch vor lauter Freude." „Ach liebster Vater, ich bin ja auch so glücklich, daß ich euch wiedersehe I Glaubte ich doch, es könne auch euch Schlimmes wider fahren sein, da wir hier schon so bedroht waren." „Aber was ist denn hier geschehen?" fragten nun die Eltem wieder neugierig. „Ach, wißt ihr denn noch nicht, daß Gottfried aus dem Fenster gestürzt ist?" „Das ist ja schrecklich! Aber wie konnte denn das geschehen? Lebt er noch?" fragten Beißers während Matzens in heftigem Schreck sogleich nach ihrem Hause eilten. „Ach, kommt doch mit hinüber zu Matzens, wir werden da sehen, wie er sich befindet." „Gewiß! Das müssen wir! Es ist unsre Pflicht als Nachbarn" war die Antwort und die Familie Beißer begab sich zu Matzens. Sie fanden Gottfried wohl und gesund in der Stube sitzen, worüber man sehr erstaunte, während Rosine darüber große Freude empfand. „Wie glücklich ist es doch abgelaufen!" sagte man mit vieler Rührung, Aber nun wurde die Frage laut: „Wie kam es und auf welche Art ist Gottfried herabgestürzt?" Gottfried und Rosine schwiegen darüber. Da wurde die Frage eindringlich wiederholt. Da begann endlich Gottfried: „Ja, daran war meine Ungeschicklichkeit schuld!" „Wieso denn?" fragte man allseitig. Während dessen war Rosine ein Gedanke gekommen, der die Sache auf eine befriedigende Weise lösen und schließen konnte. Schnell begann sie jetzt: „Um meinetwillen ist der brave Gottfried heruntergefallen. Als der Feuerlärm anfing und Alles schrie, hier sei Feuer, da ward mir schrecklich bang. Ich wollte hinaus, doch die Thür war verschlossen; ich glaubte bald, unser Haus breune, und da rannte ich von einem Fenster zum andern und schrie: „Rettet mich, das ich hinauskann!" Da kam Gottfried mit der Leiter und wollte mich zum Fenster hinab bringen. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte hinunter und ich wäre ihm sicher nachgestürzt, wenn nicht die Magd eben dazugekommen wäre und mich festgehalten hätte." Dies Alles erzählte Rosine mit größter Lebhaftigkeit und nun eilte sie auf Gottfried zu, erfaßte seine Hände und rief in herzlichstem Tone: „Liebster, bester Gottfried! Du hast mir beigestanden und wolltest mich retten, da ich ganz verlassen war und mich verloren glaubte und Du konntest dadurch beinahe selbst umkommen. Wie bist Du so gut. Ich werde es Dir zeitlebens danken!" „O Rosine, ich würde mein Leben zehnmal für Dich wagen, wenn ich Dich in Gefahr wüßte. Aber wißt ihr was, liebe Eltern, ich bin der Rosine so recht von Herzen gut und sie selber mag mich auch gern. Ist es nicht so Rosine?" Sie ward ganz roth und nickte ein wenig und Gottfried fuhr fort: „Wir sind also einig und möchten gern Zusammenkommen. Vcrehrtester Herr Beißer und Wertheste Frau Beißer, ich bitte Euch recht von Herzen, seid ja darum nicht böse und gebt mir Rosine. Und ihr, liebe Eltern, laßt es geschehen und gebt uns Euren Segen." Die zwei Elternpaare schwiegen darüber. Frau Beißer aber dachte in ihrem Herzen mit einigem Unwillen: „O, wären wir doch gar nicht hierher gegangen; dann wäre es nicht zu solchen Er klärungen gekommen. Rosine aber ist daran schuld, sie hat uns erst hereingezogen" und Frau Beißer warf der Tochter einen sehr un zufriedenen Blick zu. Doch diese mochte ihre Meinung errathen. Sie lief schnell zu der Mutter hin, ließ sich vor ihr nieder uud sah mit recht bittenden Augen zu ihr auf, während sie leise sagte: „Mütterchen, siehe, der Gottfried ist so gut, er wollte mir gleich beistehen, als er mich in Gefahr wußte und ich habe ihn ja auch so sehr lieb." „Aber was wird denn mit dem Doctor, den Du hcirathen sollst?" fragte die Mutter halb unwillig. „Ach, der hat sich auch nicht um mich gekümmert. Denke doch, er ist nicht einmal gekommen, um zu sehen, wie es uns ergeht und man hat doch auf allen Gassen ausgerufen, daß bei uns Feuer sei." Das hatte Frau Beißer noch gar nicht bedacht und dieses Zeichen von Gleichgültigkeit des Doctors gegen sie entschied ihr Ur- thcil. Tie Waage ihrer Gunst veränderte ihre Stellung. Die Schale
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)