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Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 07.10.1883
- Erscheinungsdatum
- 1883-10-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512382794-188310074
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512382794-18831007
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-512382794-18831007
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote
-
Jahr
1883
-
Monat
1883-10
- Tag 1883-10-07
-
Monat
1883-10
-
Jahr
1883
- Titel
- Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 07.10.1883
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WWWWWWMMWMWWWWWMWWWW Arilsgr zum..Lhrmnihkr Anzeiger und StaStbole". Nr. 66. — 3. Jahrgang. BerlagS-Expedition: Alexander Wiede, Buchdruckerei, alio Chemnitz, Theaterstraße 48 (ehemaliges Bezirksgericht, gegenüber dem Casino) Deutschland in politischer Hinsicht vor 100 Jahren und jetzt. Das herrliche Niederwaldfest hat eS den Deutschen überall wieder lebhaft zum Bewußtsein gebracht, was sie am festgeeinten Vaterland besitzen. Solche nationale Festtage sind nothwendig, um von der lebenden Generation allen Kleinmuth zu verscheuchen und sie frisch für kommende Zeiten und noch zu lösende Aufgaben zu erhalten. Nur zu leicht stiehlt sich das Gefühl der Verzagtheit bei uns ein, wenn schon der heutige Tag das reifte, was gestem geplant wurde. Giebt es doch jetzt, nach dem ersten Dutzend Jahren seit Wiederaufrichtung des Reiches, bereits genug Vaterlandsfreunde, die die Frage aus werfen, ob dasselbe auch Bestand haben oder nach dem Tode der großen Helden unserer Zeit wieder auseinanderfallen werde? Mag das Ausland die Dauerhaftigkeit der deutschen Einheit bezweifeln und Alles, was vor 12 und 13 Jahren geschehen ist, als einen Zufall beurtheilen: wir selbst sollten uns von solchen Gedanken immer mehr frei machen und in der Wiederaufrichtung des Reiches vor allen Dingen den Schlußstein einer geschichtlichen Entwickelung erblicken. Vor 100 Jahren war das Wich größer als jetzt; doch gereichte es Deutschland nicht zum Vortheil, daß ^deutsche Fürsten zugleich über große nichtdeutsche Gebiete herrschten, da bei den Fürsten wie bei dem Volke dadurch das nationale Empfinden zurückgehalten wurde. Ein Kurfürst von Sachsen, der zugleich König von Polen war, konnte unmöglich eine deutsche Politik veriolgen. Hannover und Braunschweig waren eng mit England verbunden, Holstein mit Dänemark und Rußland, Nassau mit Omnien u s. w. Wie unmöglich es einem Fürsten ist, zweien Herren zu dienen, sehen wir augenblicklich an Oesterreich, dessen Kaiser weder ganz deutsch, noch ganz magyari ch, weder ganz kroatisch, noch ganz polnisch sein kann. Der außerdeutsche Besitz deutscher Fürsten führte zur Schwächung des Reichsgedankens. Preußen wurde hauptsächlich deshalb zur Führung Deutschlands be fähigt, weil es stets eine deutsche Politik treiben konnte. Als Fried rich der Große zur Theilung Polens mitgenöthigt wurde, fühlte er die Schattenseiten des Erwerbes gleich heraus. Doch mußte er in den sauren Apfel beißen. Als oberstes Regierungsprincip aber galt, in der neuen Provinz nicht nur zu kolonisiren, sondern auch zu ger manisiren. Die Regierung übte Gerechtigkeit gegen ihre neuen Unter- tbanen. Sie hat dem Polenthum aber keine Concessionen zum Nachtheile Deutschlands gemacht. Sehr bezeichnend ist, daß (wie Moritz Busch erzählt) unser jetziger Kronprinz dem Reichskanzler im deutsch-franzö sischen Kriege auf die Bitte, den jungen Prinzen doch die polnische Sprache erlernen zu lassen, damit sie sich wie die früheren Hohen- zollernkönige mit den braven Unterthanen in Posen in deren Mutter sprache unterhalten könnten, erwiderte: sie (die polnisch redenden Unterthanen) sollen deutsch sprechen lernen! Wie buntscheckig das „große" deutsche Reich vor 100 Jahren beschaffen war, darüber erzählt Emil Friedberg in der Monatsschrift „Nord und Süd": „Heute zählen wir 25 deutsche Staaten, vor 100 Jahren er freute sich Deutschland der Zahl von 1780. Davon waren 314 am Reichstage bethciligt, die übrigen, die reichsritterlichen Gebiete, waren nach obenhin unberechtigt, aber in ihnen wurden doch auch die Unter thanen mehr schlecht als recht nach dem Gutdünken ihrer Herrscher regiert. Der Umfang des Fürstcnthums Liechtenstein im früheren deutschen Bunde, mit seinen vier Quadratmeilcn Gebiet, seinem Hauptdo-se Vaduz und seiner Verfassungsurkunde, die als Bedingung der Wähl barkeit des Abgeordneten „verträgliche Gemüthsart" verordnet, hat Manchen zun» Spott gereizt. Aber Liechtenstein war ein Großstaat gegenüber von Staatswesen, wie das alte deutsche Reich sie in bunter Fülle aufwies. Da gab cs z. B. ein Burggrafenthum Rheineck. Es umfaßte ein Schloß, ein Paar Höfe, zwölf arme Unterthanen und als werthvollstes Inventar einen Juden, der die Steuerlast seines Vater landes trug. — In der Grafschaft Wittgenstein hatte jeder der spärlichen Unter thanen jährlich 12 Sperlingsköpfe der Staatsbehörde einzurcichcn oder statt dessen Geld zu zahlen, und die Bewohner der Hauptstadt Lasphe erhielten erst durch das Reichskammcrgericht die Befugniß, ihre Wagen- Die Nihilisten. Historische Novelle nach Jules Lavigne von T. Witli- (Fortsetzung.' Mit seinem scheinbar friedlichem Wesen erweist der Gardevoi eigentlich Niemand Gutes, da er aber auch nicht schadet, so ist er geachtet. Man kann sich nicht enthalten zu lächeln, wenn man ihn sieht, umgürtet mit einem unschädlichen Säbel, bei der geringsten Veran lassung laut schreiend, als ob er Alles vernichten wolle, und nie ver nichtet er etwas. Er würde auch keine Fliege auf die Polizei führen. Man hat versucht, diese Leute eine bedeutendere Rolle spi-len zu lassen, ihnen Anweisungen zu geben über die Art zu beobachten, zu spionircn, aber umsonst! Die Gardevoi, die anstelligsten, haben große Augen geinacht nnv nichts gesehen. Obschon die Nihilisten ganz genau die Natur dieser ruhigen Geschöpfe, bestimmt den Thron und den Altar zu schützen, kannten, ergriffen sie nichtsdestoweniger aus Grundsatz einige Vorsichtsmaßregeln. Aus Grundsatz, aber auch der Tradition wegen: Alle Verschworenen liebten es von jeher, sich eine gewisse Wichtigkeit beizulegen. Es ist möglich, daß eine Regierung gar keine Notiz von gewissen unbedeutenden Seelen ober Comitee's nimmt; aber gerade je mehr sind sie geneigt, das Gegentheil von sich zu glauben, mit je mehr Vorsicht umgeben sie sich. Es war interessant zu sehen, mit welcher affectirtcn Sorglosig keit und mit welchem totalen Sichgchenlasscn die Nihilisten ankamen; sobald sie ihre Augen nach allen Richtungen hatten schweifen lassen, konnte man beobachten, mit welcher hastigen Art sie die hundert Stufen der Treppe hinansticgen, die zu dem Berathungszimmcr führte. Pünktlichkeit wurde verlangt, sie war eine Bestimmung des Programmes und der Verbrüderung. Ohne Pünktlichkeit war man eingebildeten Gefahren ausgesetzt, man konnte jeden Moment erwarten, überrascht zu werden Sobald Jedermann zur rechten Zeit auf seinem Posten sich eingefunden hatte, wurden die Thüren sogleich geschlossen, man hatte Niemanden mehr zu erwarten und konnte in Ruhe die Hoffnungen der Partei besprechen. Diesen Abend war man bald vollzählig, Ribowski wurde zum Präsidenten gewählt und die Verhandlungen begannen. Zuerst wurde die Correspondenz gelesen; im Allgemeinen behan deln diese Briefe besiimmte Thema's, in übcrcingekommcnen Aus drücken, damit, wenn jemals durch einen bösen Zufall die Correspon denz gefnnden würde, die Polizei angeführt wäre und nicht erfahren könnte, um was es sich handele. Dieses Mal waren mehr, re Briefe aus Zürich und aus den schmiere nicht bloS beim Landesherm kaufen zu müssen, schmerzlich beneidet von den gräflich Fürstenberg'schen Unterthanen, die bei 10 Thaler Strafe, jedes Jahr einen Kalender bei ihrem Potentaten er stehen mußten. Unter den Reichsstädten aber figurirten Wind-Heim, Kaufbeuren, Weil, Wangen, Pfullendorf, Leutkirch, Giengen, Buchhorn, Aalen, Buchau mit 100^> und Bopfingen mit 1600 Einwohnern, die Köln, Hamburg, Frankfurt ebenbürtig waren, und die auf der Kars aufzufinden man schon ein gewiegter Geograph sein mußte. Gelbst Reichsdörser existirten. Der zur Ohnmacht verdammte deutsche König, der den Titel eines römischen Kaisers trug, bezog 13,884 fl. 32 kr. Jahresgehalt. Die Zeiten, in denen, wie noch unter Friedrich I. die Reichseinkünfte des Königs 60 Tonnen Gold, will sagen 6,000,000 Thaler betragen hatten, waren längst dahin. HumorPisch-salyrische Plauderei. (Von hier und dort.) Von der althergebrachten und vielgerühmten Höflichkeit der Fran zosen scheint heutzutage herzlich wenig übrig geblieben zu sein; wenig stens wir „deutschen Barbaren" können uns nicht darüber beschweren, daß uns unsere gallischen und zugleich galligen Ncnybarn durch ein übergroßes Maaß von Höflichkeit beschwerlich fallen. Während wir bis anno 70 bei ihnen nur als „tetvs eniiees", als „deutsche Quer köpfe" figurirten, sind wir nach dieser Zeit zu „Sauerkrauteffern," Uhrendieben," zu „flachshaarigen Barbaren" und „deutschen Tar- taren" avancirt, von den andern Titeln ganz zu schweigen, mitjdenen uns die heutige französische Liebenswürdigkeit noch zu belegen Pflegt. Nun, der germanische Michel setzt sich über Deratiges mit seiner bekannten Zuvorkommenheit und Gelassenheit hinweg und außerdem kann er sich jetzt damit trösten, in Niemand Geringerem als dem König von Spanien einen Leidensgefährten in dieser Beziehung gefunden zu haben. Ja, auch König Alfonso weiß von der modernen französischen Höf lichkeit ein Lied zu singen und von den Redensarten, mit denen der Pariser Janhagel den Einzug des spanischen Herrschers in die „Hauptstadt der Welt" begleitete, steht nichts i» Alberti's Compli- mentirbuch. Diese Franzosen und in opeoio die Pariser — sie sind doch in Wahrheit eine querköpfige Nation! Darum, weil dem Könige von Spanien ein deutsches Ulanenregiment — und nun gar das in Straßburg garnisonirende — verliehen worden ist, sind die Franzosen rein aus dem Häuschen und darum haben es die Pariser für gut befunden, geg-n ihn nach der Weise der Gassenjungen zu demonstriren! Ein sehr billiges Gaudium für den Abschaum der „i-i-uxi« »Ml»," — glücklicherweise hat sich der spanische Herrscher die Sache nicht allzu sehr zu Herzen genommen, er hat die de- und wchmüthige Ent schuldigung Grevys' angenommen und damit basta. Doch nein, nicht ganz basta — für die Franzosen nämlich, sie werden schon noch merken, was ihnen die Flegelhaftigkeit der Pariser gegen den Souverain der spanischen Nation eingebrockt hat. In der That, die Franzosen sind nachgerade Meister in der allerdings nicht schweren Kunst geworden, sich mit aller Welt zu verfeinden; denn von uns Deutschen ganz zu schweigen, haben sie sich schon mit den Engländern wegen Madagascar und mit den Italienern wegen Tunis sozusagen in den Haaren gelegen und nun bringt sie die häßliche Pariser Affaire auch noch im Gegensatz zu Spanien, wo man über die König Alfonso zu Theil gewordene Behandlung natürlich nichts weniger als entzückt ist. Wenn das so weiter geht, so wird Frankreich wohl bald gänz lich auf dem europäischen Jsolirschemel sitzen, den es überhaupt jetzt scheu mehr als zur Hälfte occupirt, allerdings haben sie noch die edlen Magyaren zu Freunden, und auch an die russische Freundschaft klammern sich die französischen Chauvinisten mit einer merkwürdigen Zähigkeit. Nun, was den Franzosen das Wohlwollen der Ungarn in 1>raxt nützen soll, ist unerfindlich, und die russisch-französische Freund schaft ist bei Lichte besehen, auch wenig mehr als einen Heller werth, so daß die Franzosen eigentlich recht hübsch auf dem Trockenen sitzen würde», hieß es einmal: „Mann in Noth"; wenn sie dies nur auch endlich einsehen wollten! 7. Oktober 1883. Der Glückslall im KirchMchen. Gegenden des Urals eingelausen. Zürich ist, wie bekannt, vorzugs weise der Aufenthaltsort von russischen Flüchtlingen. Dort hat der berühmte Agitator Bakounine viele seiner Landsleute, verbannte und freiwillig ausgewandcrte, um sich versammelt. In dem Ural lebten die Arbeiter in den Bergwerken von Sibirien, die unglücklichen De- portirtcn, ohne Zukunft, ohne Familie, ohne Glück. Der einzige Trost bei ihrem harten und elenden Schicksal für sie ist, an ihre Freunde, an diejenigen Verwandten, die ihnen treu geblieben sind, zu schreiben; durch die Post befördert, würden diese Briefe nur entstellt und un vollständig ankommcn und den Empfänger verdächtigen. (Forts, f.) Deshalb werden alle diese Correspondenzen auf indirektem Wege so sicher, sicherer noch, als durch die kaiserliche Post befördert. An jenem Abend trugen alle den gleichen Charakter, Vorwürfe, Verwün schungen, gotteslästerliche Hoffnungen, verbrecherische Wünsche. Alle stimmten darin überein: „Unser Reich wird nie kommen; wir haben dazu keine Aussichten, wenn wir nichts als unsere Ideen habe», wir brauchen kühne Leute, ergebene Werkzeuge, befähigte und vor Allem reiche Anführer. Wir besitzen nichts und deshalb sind wir nichts." Jedesmal, wenn einer der Briefe damit schloß und bei allen war cs fast immer das gleiche Ende, schüttelten die Anwesenden den Kopf und murmelten: „Das ist wahr! Das ist wahr!" Serge und Wladimir, noch ganz erfüllt von den Projccten Parlowna's, bewunderten innerlich die Feinheit und den Spürsinn der Lehrerin. Diese wartete, bis ihre Reihe kam, sie hatte sich zu einer Mittheilung angcmeldet. Man kannte sie in dem Kreis, man wußte, daß sic nicht sprechen würde, ohne Bestimmtes zu sagen, so mit erwartete man etwas Ernstes, Unerwartetes. Nachdem man das Vorlescn der Briefe und der Zeitung „Der Anfang", aus welcher wir Auszüge geben werden, sobald der Gang der Erzählung es er fordern wird, vorüber war, begehrte Parlowna das Wort und bei allgemein herrschender Stille entwickelte sie die Pläne, welche wir schon kennen. Man muß sich nicht in romantischem Lichte den Ort der Ver handlungen, oder die Verhandlungen vorstellen. Diese versammelten jungen Leute und jungen Frauen, obschon allen Categorien des Tschin (Rang) ancehörend, und dennoch von den gleichen antisocialen Gedanken bewegt, waren nicht in schlimmer Absicht zusammen gekommen. Sic hielten sich für die Apostel eines neuen Rcgierungssystems, einer neuen Religion. Die Discussionen waren heftig, aber nicht giftig; ihre Worte athmeten Haß, Eifersucht, Wuth, Ironie, aber vor Allem Glauben. An jenem Abend bei dem Studenten RibowSki bemerkte man nichts von dem Sichgehenlaffen, dem leichten Ton einer Tabagie; die Eine «lte aber wahre Chemnitzer Geschichte - von L. Jnngmann. Vor mehreren Jahrhunderten gab es in unsrer lieben Vaterstadt noch keine so breiten Straßen, wie sie heutzutage Mode sind. Da war Alles so gemüthlich beisammen und die meisten Gaffen waren so schmal, daß sich ihre Anwohner bequem die Hände aus den Fenstern herüber und hinüberreichen konnten. Als Anklänge an jene goldnen Zeiten besitzen wir nur noch daS Markt- und das Zuckergäßchen. In der Klostergaffe wohnten damals als Nachbarn der Stadt- baumeistcr Matz und der wohlhabende Tuchmachermeister Beißer. Der letztere hatte eine recht nette neunzehnjährige Tochter Rosine, erster« aber einen um mehrere Jahre älteren Sohn, Namens Gottfried. Zwischen den Häusern dieser beiden genannten Bürger hindurch führte das Kirchgäßchen, das jedoch damals noch bei Weitem nicht die statt liche Breite von heute hatte. Gottfried Matz war ein sehr einnehmender junger Mann und als solcher im Besitz des nachbarlichen Rosinenherzchens. Schon lange waren auch die beiden jungen Leute darüber einig, daß sie zusammen einst ein Paar werden mußten, obwohl Frau Beißer diesem Plane entgegen war, denn Rosine sollte nach dem Plane ihrer Mutter ein mal eine Frau Doctorin werden. Zwar Herr Beißer selbst stimmte in diesem Punkte nicht mit seiner Frau überein. Als diese sich zum ersten Male darüber ge äußert, daß seine Rosine die Frau des Doctors Bumrianus werden sollte, hatte ihr der Gatte entgegengehalten, daß doch die Tochter eigentlich nicht für einen so gelehrten Mann paffe; da sei doch z. B. der Gottfried Matz ein viel passenderer für das Mädchen. Aber da kam er schön an. Frau Beißer fuhr sehr zornig auf, sah ihn mit funkelnden Augen an und rief in ihrem schärfsten Tone, denn sie war die Herrin im Hause: „Was, Du willst Dich in die Angelegenheiten von Rosine's Heirath mischen? Die Tochter gehört der Mutter und ich habe allein zu bestimmen, wen sie heirathet. Wenn wir Söhne hätten, so könntest Du über die verfügen, doch das Mädchen geht Dich nichts an." Nach dieser energischen Rede seiner Frau schwieg Herr Beißer. Es war ja von jeher so im Hause, daß sie ihren Willen durchsetzte und Herr Beißer war zu friedfertig, um ihr ernstliche Opposition zu machen. Sie lebten so ganz zufrieden und glücklich zusammen. Rosine freilich ihrerseits war mit dem ihr von der Mutter be stimmten Bräutigam nicht zufrieden. War doch Doctor Bumrianus bereits über 40 Jahre alt, sein Aeußeres flößte ihr Furcht und Wider willen ein, und wenn er sprach, mischte er eine Menge lateinischer Worte in alle seine Reden, sodaß es Rosinen ganz unmöglich war, sich mit ihm zu unterhalten. Auch Stadtbaumeisters bemerkten nur ungern die Annäherung ihres Sohnes an die Tochter des Tuchmachers, sie hatten ebenfalls für ihn eine viel passendere Partie in Aussicht genommen. Aber wie es oft vorkommt, so waren die jungen Leute von ihrer beiderseitigen Neigung zu sehr eingenommen und verblendet, als daß sie sich gehorsam dem Willen der Eltern fügen konnten und wollten. Eines Abends nun gab es in der Stadt ein großes Festessen, zu welchem alle hervorragenden Bürgersfamilien und darunter auch Matzens und Beißers geladen waren. Matzens nun, welche voraussetzten, daß auch Nachbar Tuch machers ihr Töchterlein mitnehmen würden, beschlossen aus diesem Grunde, ihren Gottfried zu Hause zu lassen, während hinwiederum Frau Beißer ihrem Töchterlein befahl, zu Hause zu bleiben, damit sie bei dem Feste nicht etwa mit dem Nachbarssohne zusammen- kommen möge. Rosine war nun in ihrem Herzen recht betrübt darüber, daß sie allein zu Hause sitzen mußte, während ihr Gottfried dort im Festsaal gewiß auch traurig sein und sich nach ihr sehnen mochte. Und umge kehrt, war auch für Gottfried der Gedanke gar peinlich, daß Rosinchcn in der großen Gesellschaft gewiß von allen jungen Bürgerssöhnen recht umschwärmt sein werde, während er betrübt am Fenster stand ünd nach den vier Heiligen an den Pfeilern der Jakobskirche hinüberschaüte. Mienen waren bald ernst, bald lächelnd; aber in der Ausdrucksweise der Rede konnte man nichts Unpassendes oder Leichtfertiges finden. Eher noch hätte man den Ernst der Ueberzeugung herausgehört; und gerade dies läßt die Sectirer so gefährlich erscheinen. Nicht aus Laune, Eitelkeit, Begeisterung handeln sie, sondern aus einem unwiderstehlichem Verlangen nach Veränderung, nach Um wälzung. Wir wollen jetzt auseinandersetzen, was man in Rußland eigent lich unter Nihilisten versteht. Es giebt derer von verschiedener Gat tung und verschiedenenen Categorien. Es giebt bewußte Nihilisten und Nihilistinnen, die nicht wissen daß sie es sind; die guten Nihilisten und die schlechten. Der Russe neigt austz Charakteranlage zu Gegensätzen, zu dem vollständigsten Skeptizismus, die allgemeine Ansicht geht dahin, daß jeder Russe unter seinem kalten Aeußcrn, man mag es sich noch so eisig, stumm und starr denken, wie man will, eine Seele besitzt, die bereit ist, jedes Joch abzuschütteln, oder auf sich zu nehmen, jedem Jrrthum zugänglich oder verschlossen, jedem Vorurtheil und jeder Art von Aber glauben geneigt. Die Männer und die Frauen sind so, besonders die Frauen; wenn Veränderungen in Rußland in's Werk treten, so sind es die Frauen, die sie vorbereitet haben. Somit ist in Rußland als Nihilist bezeichnet und erkannt: Jeder, der auf irgend eine Weise irgend welche politisch-soziale Veränderung wünscht; Jeder, der sich berufen glaubt, den Gang der bestehenden Verhältnisse und besonders die Handlungen der Regierung zu be sprechen; Jeder, der dem Westen nachgeahmte Verbesserungen oder Neuerungen möchte eingeführt sehen; jeder Denker, jeder Philosoph; jedes Individuum, dessen mehr oder weniger emanzipirter Geist den neuen oder umstürzenden Ideen zugänglich ist; jedes Individuum, welches klagt, sich beengt, nicht an seinem Platze fühlt. Schließlich — wenn man es deutlich sagen muß — in Rußland würde jeder Franzose Nihilist genannt werden, denn jeder Franzose würde nur mit dem Leben die Errungenschaften der Revolution verlieren wollen. Run, wie wir schon sagten, giebt es zwei Klaffen von Nihilisten: die Unbewußten, die zerstreut einzeln leben und an kein Handeln denken; die Bewußten, die Verbindungen, Sekten gestiftet haben und eine dichter werdende Masse bilden. Unter diesen giebt eS so weit Vorgeschrittene, um mit Sachkenntniß Verschwörungen einzuleiten ünd spezielle Gebräuche zu haben. Mit diesen werden wir uns beschäftigen, aber wir wollen vorerst Parlowna hören. n
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