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Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 24.10.1891
- Erscheinungsdatum
- 1891-10-24
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1878454692-189110247
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1878454692-18911024
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1878454692-18911024
- Sammlungen
- LDP: Zeitungen
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Freiberger Anzeiger und Tageblatt
-
Jahr
1891
-
Monat
1891-10
- Tag 1891-10-24
-
Monat
1891-10
-
Jahr
1891
- Titel
- Freiberger Anzeiger und Tageblatt : 24.10.1891
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E. .. . . , , uSreden zu lassen, damit die Richter sich überzeugen konnten, weß Geistes Kind Amilcare Cipriani ist. Bemerkt sei aus seiner Rede, daß er gleich den übrigen die Zugehörigkeit zu einer verbrecherischen Gesellschaft leugnete, daß er aber au» seinen Umsturzplanen kein Hehl machte. „Tyaten, nicht Worte! ist unser Programm. Und wenn alle so dachten und handelten wie ich, so säßen wir nicht hier und die Richter nicht dort!- DaS Publikum, zu seiner Ehre sei e- gesagt, begleitete diese stolzen Worte mit Heiterkeit. Es ist doch zum Glück noch nicht reif für CiprianiS Weltanschauung. Die Ber- antwortlichkeit für die Unruhen deS 1. Mai schob Cipriani von sich ab, obwohl er seine Propaganda für die Maifeier zugab, und wälzte sie auf einen »Lockspitzel,- den er während der Volksver sammlung auf dem Platz vor Sta. Croce beständig beobachtet habe. Dieser Unglücksrabe soll einen Hellen Anzug getragen, sich immer während in nächster Nähe der Carabinieri befunden uyd einem davon zum Schein einen flachen Hieb mit dessen eigenem Säbel versetzt haben. Dann aber hat der weiße Rabe nach CiprianiS Zeugniß mitten auS den Carabinieri heraus zwei Revolverschüffe abgefeuert, die Cipriani streiften. Und auS der That dieses Böse wichts, der natürlich im Solde Nicoteras stand, soll der ganze Tumult hervorgegangen sein. So malen sich die Dinge in CiprianiS Hirn, der außerdem noch heftige Borwürfe gegen die Behörden richtete, weil sie Briefe an ihn erbrochen Hütten. Aus den Verhören der Nachfolger sei bemerkt, daß Palla zugab, wegen anarchistischer Thaten im Verein mit dem berüchtigten Malatesta vorbestraft, dann nach abenteuerlichem Leben in Südamerika wegen Fälschung in Untersuchung gewesen und von Paris aus, wo ihm die Mittel auSgingen, auf seinen Wunsch vom italienischen Konsulat nach Italien zurückgebracht worden zu sein. Die ihm zugeschriebenen aufrührerischen Reden vom 1. Mai leugnet er und stellt sich als ein unschuldiges Opferlamm der übrigen Angeklagten dar. Nach ihm kommt ein 20jähriger Bursche zum Verhör, der den Richtern sagt, sie hätten gut hier sitzen mit wohlgefüllten Bäuchen und hätten sich nach ihrem letzten üppigen Mahl noch nicht einmal den Mund auSgespült. In dieser Tonart schildert er auch die Vor- > gänge des 1. Mai. Ebenso manierlich benehmen sich die folgen den Angeklagten, unter denen einer ist, der seine ganze Familie mit zu der Volksversammlung bei Sta. Croce genommen hatte, u. A. eine Tochter, die den schönen Namen „Anarchia" führt. In einer philosophischen Erörterung über den Begriff „Uebelthäter" weist er den Richtern und staatlichen Behörden nach, daß nicht er, sondern sie die Missethäter sind, weil sie ihn und die Seinen miß handelt haben. <Äin Nachfolger im Verhör bedauert, daß das Naifest, das so schön begonnen habe — man habe im achtstündigen Arbeitstag geschwelgt —, ein so trauriges Ende fand, und zwar durch die zwei auf Cipriani von dem »Lockspitzel im Hellen Anzug- abgeseuerten Revolverschüffe. Unter einem Höllenlärm schloß die heutige Sitzung. Die gerichtliche Verfolgung des Erzbischofs von Aix findet in der republikanischen Presse Frautreichs eine sehr verschiedene Beurtheilung; sie wird nur von den radikalen Blättern ohne Ausnahme rückhaltlos gut geheißen, während die gemäßigt repub likanischen Blätter theilweise die Ansicht äußern, daß ein rein administratives oder disziplinarisches Einschreiten gegen den Erz bischof vorzuziehen gewesen wäre. Das »Journal des Dsbats" nennt die Maßnahme die That einer schlechten Politik. Noch schärfer sprechen natürlich die konservativen Blätter ihre Miß billigung über das Vorgehen aus. Der Kriegsminister Freycinet besichtigte gestern eines der neu gebildeten, aus einem aktiven Bataillon und zwei Landwehr-Ba- laillonen zusammengesetzten Mischregimenter, in Troyes. Der Minister erklärte dabei, daß die Bildung der Mischregimenter als vollendete Thatsache anzusehen sei. Die Hauptwirkung der Maß nahme werde sein, daß die Feldarmee Frankreichs dadurch verdoppelt würde. Während der letzten Unruhen in China war bekannt ge worden, daß ein Engländer den Rebellen vom Geheimbunde der »Ko-lao-hui" Waffen und Munition geliefert habe. Diesen Ehren mann, der es allerdings nur wie viele seiner Landsleute bei ähn lichen Gelegenheiten gemacht, hat sein Schicksal erreicht. Es wird hierüber folgende Nachricht gemeldet: »Berichte aus Shanghai melden, daß der Engländer Mason zu zwei Jahren Zwangsarbeit mit einer Strafe von 5000 Dollar, sowie zu Verbannung wegen des Einschmuggelns einer Menge Waffen und Munition, welche für die Rebellen bestimmt waren, verurtheilt wurde. Es wird vermuthet, daß viele Europäer darin verwickelt waren, mit der Absicht, durch diese Verschwörung eine Revolution hervorzurufen. Man glaubt, daß irgend ein Versuch der chinesischen Regierung, die Aufrührer zu bestrafen, wenn sie nicht von einer fremden Truppe unterstützt werde, einen allgemeinen Aufruhr über den ganzen Norden Hervorrufen werde." o. Verbot der Nachtarbeit, außer für solche Industriezweige, die ihrer Natur nach, auS technischen Gründen oder au? Gründen der öffentlichen Wohlfahrt Nachtarbeit erheischen. L. Eine un unterbrochene Ruhepause von mindesten- 36 Stunden in jeder Woche für jeden Arbeiter, v. Verbot deS Trucksystems. 2. Ueber- wachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Regelung der ArbeitSverhältnisse in Stadt und Land durch ein ReichS- ArbeitSamt, Bezirks-Arbeitsämter und ArbeitSkammern. Durch greifende gewerbliche Hygiene. 3. Rechtliche Gleichstellung der landwirthschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den ge werblichen Arbeitern; Beseitigung der Gesinde-Ordnungen. 4. Sicherstellung deS Kvalitionsrechts. 5. Uebernahme der gesammten Arbeiterversicherung durch das Reich mit maßgebender MÜ» Wirkung der Arbeiter an der Verwaltung. Die sonstigen, aber auch nur »zunächst- ausgestellten Pro gramm-Forderungen lauten: 1. Allgemeine- gleiche- direkte» Wahl- und Stimmrecht mit geheimer Stimmabgabe aller über 20 Jahre alten Reichsangehöngen ohne Unterschied deS Ge schlecht- für alle Wahlen und Abstimmungen. Proportional-Wahl- ystem; und bi- zu dessen Einführung gesetzlich« Neueintheilung der Wahlkreise nach jeder Volkszählung. Zweijährige Gesetzt gebungSperioden. Vornahme der Wahlen und Abstimmungen an einem gesetzlichen Ruhetage. Entschädigung für die gewählten Vertreter. Aufhebung jeder Beschränkung politischer Rechte außer im Falle der Entmündigung. 2. Direkte Gesetzgebung durch da» Volk vermittelst des Vorschlags- und Verwerfuugsrechts. Selbst bestimmung und Selbstverwaltung deS Volks m Reich, Staat, Provinz und Gemeinde. Wahl der Behörden durch da» Volk, Verantwortlichkeit und Haftbarkeit derselben. Jährliche Steuer bewilligung. 3.Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. BolkSwehr an Stelle der stehenden Heere. Entscheidung über Krieg und Frieden durch die Volksvertretung, Schlichtung aller internationalen Streitig keiten aus schiedsgerichtlichem Wege. 4. Abschaffung aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung und daS Recht der Ber einigung und Versammlung einschränken oder unterdrücken. 5. Abschaffung aller Gesetze, welche die Frau in öffentlich und privatrechtlicher Beziehung gegenüber dem Manne benachtheiligen. 6. Erklärung der Religion zur Privatsache. Abschaffung aller luswendungen auS öffentlichen Mitteln zu kirchlichen und religiösen Zwecken Die kirchlichen und religiösen Gemeinschaften sind als »rivate Vereinigungen zu betrachten, welche ihre Angelegenheiten vollkommen selbständig ordnen. 7. Weltlichkeit der Schule. Obligatorischer Besuch der öffentlichen Volksschulen. Unentgelt lichkeit des Unterrichts, der Lehrmittel und der Verpflegung in den öffentlichen Volksschulen, sowie in den höheren BildungS- anstalten für diejenigen Schüler und Schülerinnen, die kraft ihrer Fähigkeiten zur weiteren Ausbildung geeignet erachtet werden. 8. Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistande». Rechtsprechung durch vom Volk gewählte Richter. Berufung in Strafsachen. Entschädigung unschuldig Angeklagter, Verhafteter und Verurtheilter. Abschaffung der Todesstrafe. 9. Unentgelt lichkeit der ärztlichen Hilfeleistung einschließlich der Geburtshilfe und der Heilmittel. Unentgeltlichkeit der Todtenbeftattung. 10. Stufenweis steigende Einkommen- und Vermögenssteuer zur Be streitungaller öffentlichen Ausgaben, soweit sie durchSteuern zu decken sind. Selbsteinschätzungspflicht. Erbschaftssteuer, stufenweise steigend nach Umfang des Erbguts und nach dem Grade der. Verwandt schaft. Abschaffung aller indirekten Steuern, Zölle und sonstigen wirthschastspolitifchen Maßnahmen, welche die Interessen ver Allgemeinheit den Interessen einer bevorzugten Minderheit opfern. Herr Liebknecht bezeichnete in seiner Rede das Programm als dasjenige des „Proletariats". Die „Nat.-Ztg.- tbeilt deshalb auch das nachfolgende kleine Augenblicksbild mit, welches ihr ein Freund des Blattes übersendet, der zufällig die Führer der „Proletarier" auf dem Bahnhof von Erfurt sah; er schreibt: Als heute, Mittwoch Mittag, die Delegirten deS sozialdemokratische« Parteitages nach allen Gauen des — wenn es noch erlaubt ist, diesen Ausdruck zu brauchen — Vaterlandes heimreisten, bot der Erfurter Bahnhof manch' interessantes Bild. In Erwartung der Züge nach Ost nnd West saß eine größere Anzahl auserwühlter Genossen beisammen, zumeist um Herrn Singer gruppirt, der sich, mit der Würde eines Königs, vom Kellner die Zigarre an zünden ließ, ohne auch nur mit einer Handbewegung zu danken. Wozu übrigens auch, da doch im sozialdemokratischen Zukunst»- staale ein Jeder seine Pflicht erfüllen wird, ohne Dank dafür zu erwarten! — »Fahren Sie auch mit nach Berlin?" fragte Herr Singer mehrere eintretende Genossen. „Jawohl." In der Sprache der gegenwärtigen Gesellschaft heißt das: „So fahren wir also zusammen." Für mich als Philologen hatte es Interesse, zu er fahren, ob das auf gut sozialdemokratisch auch so zu verstehen wäre. Die Sprache des Zukunftsstaates ist überhaupt seitens derFachmänner noch nicht hinreichend erforscht. Der Zug wurde gemeldet, und auf dem Bahnsteig fanden sich die Genossen wieder zusammen. Der Zug fuhr ein, Herr Singer griff an den Hut und — sank behaglich in die roihen Kissen eines Abtheils erster Klaffe. Verwundert blickte ich aus ein noch feuchtes Exemplar des neuen sozialdemokratischen Parteiprogramms, das ich mir soeben erobert halte, fand aber für Vas Geschehene keine Erklärung darin. Von „Wassen" zwar allerlei, sogar die Forderung nach „Abschaffung der Klaffenherr schaft und der Klassen selbst." Aber das konnte doch mit den ! Eisenbahnllaffen nichts zu thun Haden; so unverständig, einen ! Zusammenhang zwischen ihnen und den Klaffen der heutigen Ge sellschaft zu behaupten, könnten ja höchstens ganz reaktionäre Menschen sein. Nein, auf dem Boden dieses Programms hat ein echter Sozialdemokrat ganz recht, sich in der Billetwahl nach der j Größe seines Portemonnaies zu richten, wenngleich freilich der ! böse Staat mit den Ueberschüssen der Eisenbahnen nichts Besseres zu beschaffen weiß, als Waffen zur Vertheidigung eines über wundenen Standpunktes. Daher auch war auf den Gesichtern der anderweitig einsteigenden Genoffen kein Ausdruck des Erstaunen» I zu bemerken. Es besteht in der Sozialdemokratie gar Kin Unter- I schied zwischen Theorie und Praxis, das ist ein ganz ungerechter i Vorwurf. — Dem schlichten Manne aber sollte dieses kleine Bild i doch zu denken geben und ihn aufklären über die Echtheit der i herrlichen Gemälde von Gleichheit und Brüderlichkeit auS dem l nicht mehr fernen sozialistischen Wunderland. Wenn es selbst verständlich erscheint, daß der Präsident eines sozialdemokratischen Parteitages aus solche Weise sich von seinen Mit-Delegirten ab- 1 sondert, läßt sich dann erwarten, daß jener klassenlose ZukunstS- staat verwirklichen werde, was man der Menge vorzuschwindeln wagt? Wer sich's bequem machen kann, der thut'S; so war e» und so wird es wohl bleiben. Daß der greise Kaiser Wilhelm in einem eisernen Feldbette schlies und starb al» ein Soldat, beweist nichts dagegen, denn er war ein „Tyrann". Die Sozial demokraten sind eben Menschen. OeriNches unv Sächsisches. Freiberg, de« 23. Oktober. — Ueber dieAusammensetzuna ver Erste« u«vZ»eit<« . Sächsischen Kammer wird zur Beseitigung vielfach angeregter Eine von etwa 4000 Setzern und Druckern gestern (Donners tag) Abend in Berlin abgrhaltene Versammlung nahm einstimmig eine Resolution an, welche, „da die Prinzipale kein Berständniß für die Forderungen gezeigt und über 500 Gehilfen gemaßregelt hätten," den Vereinsmitgliedern empfiehlt, zum 24. Oktober daS ArbeitSverhültniß zu kündigen und die Festsetzung der künftigen Lohn- und Arbeitsverhültnisse dem Vorstande deS UntrrstützungS- vereinS deutscher Buchdrucker zu überlassen. Die Haupt forderungen sind neunstündige Arbeitszeit und 33'Prozent Lolalzuschlag. Ueber diePrügelstrafe sürRohheits-Verbrechen schreibt heute die »Konserv. Kvrresp.": Durch die Tagespresse gebt eine Mittheilung, nach welcher unser Kaiser, empört über die durch den Heinze'schen Mordprozeß an» Licht getretenen Abscheulichkeiten den Wunsch ausgesprochen habe, energische AuSkehr zu halten. Gleichzeitig wird rrwähnr, daß an maßgebender Stelle die Noth wendigkeit der Prügelstrafe für Zuhälter erkannt worden sei und daß die Einführung derselben geplant werde. Im Lande ist daS Verlangen nach Wiedereinführung der körperlichen Züchtigung für Rohheits-Verbrechen progressiv gewachsen. Nicht allein in den Kreisen der Juristen und der Gesängnißbeamten, soudern auch in weilen Kreisen der Bevölkerung wird der Mißstand, daß die Ge- sängnißstrafe ausgehört hat, abschreckend zu wirken, lebhaft empfunden. Wenn daher die Regierung mit einem diesem Umstand Rechnung tragenden Gesetzentwürfe vortreten sollte, so würde sie im Lande großen AnNang finden, und es wäre nicht ausgeschlossen, daß auch im Parlament eine Mehrheit für Wiedereinführung der Prügelstrafe gewonnen werden könnte. Tas Gesängniß muß wieder wirklich Strafanstalt werden und nicht wie' heutzutage theilweise von den Sträflingen als Verpflegungsstälte betrachtet werden können; insbesondere aber den jugendlichen Verbrechern muß der Aufenthalt in den Gefängnissen so verleidet werden, daß sie später nicht mehr die geringste Lust zu einer Wiederkehr ver spüren. Lesen die „Kriminalstudenten" aber, wie beispielsweise das Dienstmädchen Machus, das des Mordes damals schon über führte Scheusal, im Grfängniß ein aus einer bekannten Restau ration herbeigeholtes Beefsteak, das sie „mit größtem Appetit ver zehrte," vorgesetzt erhielt, wie kann da solchen Leuten, die moralisch ! verkommen sind und nur materiellen Genüssen nachjagen, eine, Gesängnißstrafe noch als Strafe erscheinen? Ueber den Anarchisten Prozeß, der sich in der italienische« Hauptstadt adspielt, schreibt man der „Köln. Ztg." vom 19. Okt.: Drei lange Sitzungen wurden in Sachen der anarchistischenMai- feier bereits gehalten, und man darf auch ohne einen Blick aus den Thermometer, der 25 Grad zeigt, wohl sagen: die Betheiligten lassen sichs Alle sauer werden. Vom Sitz des hohen Gerichts hofs bis in den äußersten Winkel des dicht gefüllten Zuschauer raumes ist Alles Leben und Bewegung und nicht nur die Ver- lheidiger, sondern auch das Publikum wirkt in diesem seltsamen Schauspiel mit einem Eifer mit, als ob es dafür bezahlt würde Auch das von dem ersten Maiprozrß her wohlbekannte zweijährige Baby ist auf dem Arm der Mutter bereits wieder im Zuschauer raum erschienen und hat nach dem Armsünderbänkchen hin „Babba!" gerufen. Eine „Komödie" hat der Angeklagte Cipriani die Verhandlung heute genannt, und er hat wohl nicht ganz Un- recht, nur sucht er die Schauspieler wo anders als wir sie finden. In dem Wunsche, daß die „Komödie", wenn wir es nun einmal so nennen sollen, bald zu Ende gehen möge, wird demselben An geklagten Jedermann beistimmen, denn für solche Massenversamm- lungen von Angeklagten, Advokaten, Schutzleuten, Journalisten und Publikum bietet der alte Justizpalast nur höchst ungenügenden Raum. Man hat die 62 Angeklagten in einer Art Käfig derart zusammenpferchen müssen, daß sie nicht nur selbst lebhaften Ein spruch dagegen erhoben, sondern auch in der gemäßigten Presse kräftige Unterstützung gefunden haben. Aber zu ändern wird es nicht sein und wenn die Angeklagten sammt ihren verehrlichen radikalen Anwälten nicht selbst so klug werden, die Verhandlungen ihrerseits möglichst abzukürzen, so werden sie wohl noch bis gegen Weihnachten täglich einige Stunden in ihrem Käfig zur Schau sitzen müssen. Denn es sind über 300 Personen zu vernehmen und über dreißig radikale Rechtsanwälte wollen reden. Das läßt sich nicht in wenigen Tagen erledigen. Schwarzseher haben schon die Befürchtung ausgesprochen, daß bei gleicher Fortdauer des Be suchs im Zuhörerraum bald in Rom eine Geschäftsstockung und Hungersnolh ausbrechen würde, denn von den Leuten, die da täglich von 10 bis 5 Uhr dem Anarchistenprozeß lauschen müssen, kann man unmöglich verlangen, daß sie gleichzeitig arbeiten und Geld verdienen. Der bisherige Gang der Verhandlungen giebt keine Hoffnung auf raschen Verlauf. Erst heute haben die Ver nehmungen der Angeklagten begonnen und bei Nr. 6 wurde nach 4 Uhr die Sitzung vertagt. Die beiden ersten Sitzungstage hatten nur das bemerkenswerthe Ergebniß, daß der Gerichtshof sich für zuständig erklärte; denn die Zuständigkeit für politische Prozesse war ihm von den Angeklagten und deren Vertheidigern bestritten worden, wobei sich der Advokat und Abgeordnete Santini, der wohlbekannte Festredner von Nizza besonders hervorthat, indem er sich auf einen Vorgang in Ancona berief, wo der Appellhof sich geride eben in einem gleichen Prozesse unzuständig erklärt habe. Santini, der sich mit Vendemini in die Vertheidigung des Hauptanarchisten Cipriani theilt, hatte aber mit seinen Ausführungen kein Glück bei dem hohen Gerichtshof und so konnte denn heute die eigentliche „Komödie" beginnen. Ganz passend wurde sie mit dem Verhör Ciprianis selber eröffnet, es folgten der fahnenflüchtige Bäckergeselle Palla und noch vier junge Burschen sozialistischen und republikanischen Bekenntnisses. Beim reiferen Alter scheinen die Lehren Ciprianis weniger Eingang zu finden als beider „bildungsfähigen" Jugend. Der Altersstufe der Angeklagten entsprach auch ihr Auf treten. Keck, herausfordernd und selbstbewußt, so standen die Apostel der That vor ihren Richtern, deren Nachsicht und Wohl wollen sie doch recht sehr nöthig hätten. Als Mumien mußten sich von einem der Herren Anarchisten sogar die Behörden des Königreichs bezeichnen lassen, und wenn man dabei etwas be wundern konnte, so war es die Ruhe und Langmuth des Vor sitzenden. Seine Geduld wurde schon durch den ersten Angeklagten Cipriani auf eine 'harte Probe gestellt. Nicht genug, daß dieser sich seiner früher« Bestrafung rühmte und kühn aussprach, seine Verurtheilung zur Zwangsarbeit wegen Todtschlags sei von der öffentlichen Meinung mißbilligt worden, wofür seine zweimalige Wahl in der Romagna (!) Beweis sei, hat er heute auch noch eine Der Schluß des sozialdemokratischen Parteitags. Nachdem die Zeit des Erfurter Parteitags der Sozialdemo kratie größtentheils durch die Debatten der Führer mit der Oppo sition der „Jungen" und mit Herrn v. Vollmar in Anspruch genommen worden, ist die Beschlußfassung über das revidirte Parteiprogramm sehr kurz abgemacht worden: nach einer Rede des Herrn Liebknecht wurde es ohne Weiteres angenommen. Es unterscheidet sich von dem bisherigen Programm bekanntlich haupt sächlich durch die Streichung der spezifisch Laffalle'schen Zuthaten, welche s. Z. zum großen Aerger von Marx, Engels und Genoffen in dem Etnigungsprogramm der ehemals getrennten Laffalleaner und Eisenacher stehen geblieben waren: das eherne Lohngesetz, hie Produktiv-Genossenschaften mit Staatshilfe rc. Das prinzipielle Ziel der Sozialdemokratie wird in der Einleitung des revidirten Programms wie folgt bezeichnet: „Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigenthums an Produktionsmitteln —Grund und Boden, Gruben undBergwerke,Rohstoffe,Werkzeuge, Maschinen, Verkehrsmittel — in gesellschaftliches Eigenthum, und die Um wandlung der Waarenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebene Produktion, kann es bewirken, daß der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesell schaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klaffen au» einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle ber höchsten Wohlfahrt und allseitiger, harmonischer Vervollkommnung werde." Ueber die künftige Einrichtung dieses sozialistischen Staates oder vielmehr — denn Herr Liebknecht bezeichnete es als einen großen Vorzug, daß von einem Zukunfts-Staat in dem Programm überhaupt nicht die Rede ist — der sozialistischen Gesellschaft hat man sich in Erfurt „ausgeschwiegen". Auch das Programm giebt darüber keinerlei Auskunft. Es fordert „zunächst" zum »Schutze der Arbeiterklaffe": 1. Eine wirksame nationale und internatio nale Arbeiterschutzgesetzgebung auf folgender Grundlage: u. Fest setzung eine» höchstens acht Stunden betragenden NormalarbeitS- tages. d. Verbot der ErwerbS-Arbeit für Kinder unter 14 Jahren. Eigenthümlich« Zustände scheinen sich in der Stadt Neisse mehrstündige anarchistische Programmrede gehalten und dieselbe so entwickel« zu wollen. Dir »Bresl. Ztg:" berichtet darüber: Der reichlich mit wüsten Angriffen auf den Staat gespickt, daß der dortige GastwirthSverein hat vor einiger Zeit beschlossen, 5 Mark Vorsitzende allen Grund hatte, ihn ruhig auSreden zu lassen, Belohnung an Jeden zu zahlen, der einen ohne Konzession mit - - —" — - - - -- - - Spirituosen handelnden Kaufouuw anzeigt. Bei der Behörde find bereits 16 Denunziationen eingelausen. Nunmehr haben die Reisser Kaufleute den Entschluß gefaßt, in gleicher Weise gegen diejenigen Gastwirthe vorzugehen, welche die Polizeistunde über schreiten oder Hazardspiele dulden. Und die Fleischerinnung hat beschlossen, gegen diejenigen Gastwirthe vorzugehen, welche außer dem Hause Wellwurst verkaufen!
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