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I. Sckagc M Zchmdurger Tageblatt. Sonntag, den 1V. März 1901. 35 Zahrc in Sibirien. Nach den mündlichen Mittheilungen eines verbannten pol nischen Insurgenten von Theodor Hermann Lange. VIII. Eine Reise auf dem Jenisseistrom — Jn Tnrchansk — Getreidehandel mit den Samojeden — Wie die alten Samojeden sterben. Ab und zu hatte ich mit Heimweh zu kämpfen. In folgedessen behagte mir — wie ich schon einmal be merkte — das ruhige Leben nicht. Ich mußte mich betäuben, wollte ich nicht zu Grunde gehen. Daher suchte ich anstrengende Arbeit und wieder eine andere Umgebung. Im Kreise Minussinsk war Anfang der 80er Jahre eine Ernte nach der andern vorzüglich aus gefallen. Getreide war in Massen vorhanden und vie les verdarb, da man die nöthigen Räume zum speichen nicht hatte. Em Kaufmann aus Turhansk kam eines Tages zu mir und erzählte, daß in Turhansk großer Getreidemangel herrsche. Da kam mir der Gedanke, Getreide aufzukaufen und mit Turhansk einen Handel zu beginnen. Ich ließ mir in Abekansk eine starke Barke aus den dicksten Fichtenstämmen bauen. Sie kostete mich 400 Rubel, war 30 Arschin lang, 20 Ar schin breit und 5 Arschin tief. Hier hinein ließ ich 40,000 Pud Getreide, meist Roggen, aber auch Gersten grütze, verladen, miethete mir 20 Leute zum Rudern und fuhr nun nach Turhansk. Alle Lebensmittel mußten wir mitnehmen, berechnet waren sic für einen Monat. Ist das Wetter schön, so gelangt man auf dem Was serwege von Abekansk nach Turhansk schon in 11 Tagen. Aber mitunter werden es auch 25, namentlich, wenn große Sturmwinde herrschen, die auf dem Jenissei nichts Seltenes sind, oder wenn man aufläuft. Im letzten Falle kann man oft 25 Tage lang sich quälen, ehe man in Turhansk landet. Der Jenissej ist auf dieser Strecke durchweg einen Kilometer breit, doch befinden sich daselbst sehr viele kleine Inselchen resp. Sandbänke, welche die Fahrt un gemein erschweren. Ende Mai fuhren wir von Abekansk ab, so spät erst war das Eis gewichen. Wir ruderten wohl drei Tage lang bei günstigem Wetter und hatten uns gar nicht angestrengt, denn das Wasser des Jenissej ist ungemein reißend und der Wind trieb uns strom abwärts. Da auf einmal verspürten wir eine furcht bare Erschütterung und — wir saßen fest auf einer Sandbank. Nun war guter Rath theuer. Alle unsere Bemühungen, die Barke flott zu bekommen, waren erfolglos. Es blieb uns schließlich nichts anderes übrig, als unsere drei Rettungsboote herunter zu lassen, große Plantücher, die wir mit uns führten, auf der nächsten Insel aus zubreiten und das Getreide umzuladen. Es war keine kleine Arbeit. Das Getreide war nicht in Säcke, son dern direct in den Kahnraum der Barke geschüttet wor den. Die Hälfte der Ladung, also 20,000 Pud, muß ten wir auf diese Weise umladen, ehe es uns gelang, die Barke von der Sandbank herunter zu stoßen. Als dies geschehen, ruderten wir sie ins Fahrwasser und mußten nun wiederum in den drei Booten das Getreide von der Insel zurückholen. Darüber verloren wir 6 Tage. Der Rest der Fahrt verlief ohne weitere Aben teuer. Ter Hasen von Turhansk ist ein natürlicher, die Menschen haben nicht viel dazu gethan und Ordnung und Reinlichkeit sind dort unbekannt. Turhansk selbst ist eine kleine Stadt, die ich Nie mandem als Ansiedlungsort empfehlen möchte. Erstens schneit es hier noch im Mai ganz flott und im August fängt cs schon wieder an zu schneien. Die Kälte ist natürlich sehr groß. Aber davon abgesehen, ist das Leben in Turhansk überhaupt nicht angenehm. Hierher schickt die russische Regierung nur schwere Verbrecher und auch die Beamten, die dorthin kommen, sind eben Beamte, die man anderwärts nicht gebrauchen konnte und die nun zur Strafe nach Turhansk versetzt worden sind. Tie ganze Stadt besteht aus kleinen Holzhäusern. Doch fehlt es nicht an einer verhältnißmäßig ansehn lichen Carkiew (russische Kirche). Der Zasiadatel (Commifsarius) — dort der höchste Beamte — kam an Bord, um das Getreide auf seine Güte zu prüfen und die Pässe der Arbeiter einzusehen. Nachdem er alles in Ordnung befunden hatte, verließ er mich, nicht ohne vorher in bezeichnender Weise die Hand ausgestreckt zu haben. Als er bei meinem Hände druck ein Papierchen knistern fühlte, verklärte sich sein Gesicht und er geruhte, mich zu einer Magenstärkung in Gestalt eines Gläschens echten Kornbranntwein ein zuladen. Daß ich die Kosten des Gelages, das sich aus dem Gläschen entwickelte, trug, könnte ich füglich als selbstverständlich unerwähnt lassen. Der Beamte revanchirte sich bei mir, indem er die Kosten der Unter haltung trug. Am andern Tage stellten sich auch die Käufer ein. Es kamen Russen, Tungusen, Ostiaken und Samojeden. Letztere sah ich zum ersten Male. Ich kann aber nicht behaupten, daß sie mir gefallen hätten. Obgleich keine große Kälte mehr herrschte, kamen sie vollständig in Rennthierfelle eingenäht an Bord. Nur auf dem Kopfe hatten sie eine Kapuze aus Leinwand. Der Handel ging glatt von Statten. Hier wurde nicht gefeilscht, wie bei den Tataren. Tie Preise sind streng fest. Geld erhielt ich aber nicht, denn das ganze Geschäft beruht noch auf Tauschhandel. Ich empfing für das Getreide gedörrte Fische, Störkaviar und Pelze. Zobel, Bär, allerhand Fuchsbalge, Eichhörnchenfelle, Hermelin u. s. w. Dabei machte ich die besten Ge schäfte. Denn ich hatte nicht nur das zu Spottpreisen im Kreise Minussinsk erstandene Getreide theuer ver kauft, sondern erzielte auch später für die cingetauschten Pelze viel höhere Preise, als sie mir in Turhansk be rechnet wurden. Ich hatte 27,000 Pud Getreide im Detailgeschäft verkauft. Die übrigen 13,000 Pud er stand ein Kaufmann in Turhansk und zwar übergab ich sie ihm auf Credit in Commission. Als im November der Jenissej wieder meterdick gefroren war, kam er mit seinen Hundeschlitten und brachte den ausbedungenen Preis in Fellen. Die Bark, auf der ich nach Turhansk gekommen, mußte ich hier verkaufen, denn stromauf kann man auf dem Jenissej nicht rudern. Das Wasser ist zu reißend, stronaufwärts vermag man nur auf Dampfern zu fahren. Ich erhielt für die Bark, die mich 400 Rubel gekostet hatte, 15 Rubel. Sie wurde als Brennholz erworben. Nachdem ich also meinen Handel beendet, beschloß ich einen Ausflug in die Umgebung der Stadt zu unter nehmen, um die Samojeden näher kennen zu lernen. Einige Kilometer von Turhansk sah ich die ersten An siedlungen der Samojeden. Sie hatten Zelte aus Birken rinde, die oben eine Oeffnung aufwies, durch welche der Rauch abzog und Licht und Luft Zutritt erhielten, ebenso — der Regen. Auch die Winterhäuser wurden mir ge zeigt. Es waren viereckige Holzhäuschen, mit Erde ge deckt, auf der Anfang Juni sich schon langes Gras zeigt. Diese Häuser wiesen Fenster auf, bei denen die Stelle des Glases, Blasen der Renntiere vertraten. Ueber- mäßig hell war es in diesen Häuschen daher nicht, aber das war ein Glück, denn dies Halbdunkel verhüllte gnädig den starrenden Schmutz. Ich konnte Männer und Frauen nicht unterscheiden. Beide Geschlechter sind gleich häßlich und sind in dieselbe Kleidung gehüllt. Schließlich bemerkte ich, daß einige der Samojeden Bündel auf dem Rücken trugen, die sich bei näherer Besichtigung als kleine Kinder entpuppten. Nun wußte ich, welches die Frauen waren, ich brauchte nur auf jenen ominösen Bündel auf dem Rücken zu achten. Die winterliche Kopfbedeckung der Samojeden reizte mich zum Lachen. Es ist eine Kapuze aus Fellen, in der nur schmale Oeffnungen für Augen und Mund sich befinden, zum Schutz der Nase ist eine Pelzklappe angebracht. Tie tollste Faschings-Maske sieht nicht so absonderlich aus wie diese Kopfhülle der Samojeden. Die Samojeden waren mir gegenüber sehr gastfreund lich. Ich brauchte nur in ein Zelt zu treten, so wurde ich auch gleich zum Essen und Trinken eingeladen. Toch das Essen bereitete ich mir selbst, gerade wie bei den , Tataren, denn hier wie da war die Sauberkeit unbe kannt. Tie Frauen der Samojeden haben nicht zu schwere Arbeit zu verrichten. Sie besorgen nur die Wirthschaft und da sind sie schnell fertig. Die Männer fangen im Sommer Fische, — die von den Frauen ge dörrt oder zwecks Thranbereitung gepreßt werden — und gehen im Winter auf die Jagd. Tie Fische sind sehr schmackhaft und fett. Die Samojeden sind außer ordentlich verträglich und fühlen sich durchweg unge mein glücklich. Diese Versicherung gaben sie mir sehr häufig und ich gewann auch dieselbe Ueberzeugung. Ihrem Glaubensbekenntniß nach gehören die Samojeden der orthodoxen Kirche an, d. h. pur vräro Zu Lloupsiti. Im Herzen sind sie Heiden. Nur in den seltensten Fällen trifft man einen von ihnen in der Cerkiew (russigen Kirche) an. Sie glauben au den Teufel — also an einen bösen Geist und ihre Priester sind zu gleich Nerzte. Auch ihre Trauungen werden selten durch die Popen (russischen Priester) vollzogen. Sie heiraten in der Stille und die Ceremonicn, die sehr einfach sind, übt der Schamane aus. Scheidungen sind bei ihnen an der Tagesordnung, ebenso der Frauenraub. Ich lernte übrigens nicht nur die Samojeden in der Nähe Von Turhansk kennen, sondern hatte im nächsten Jahre auch Gelegenheit, sie im hohen Norden auf der> Insel Jamalja im Karischen Meere zu beobachten. Ich schloß mich einer kleinen Handelsexpedition an, die bis nach Jamalja ging, um Tauschhandel zu betreiben. Der Handel ging ganz gut und interessant war das Leben unter jenen Samojeden gleichfalls. Ihre Sitten und Gebräuche waren so ziemlich dieselben, wie die ihrer Stammesgenossen am Jenissej. Nur etwas will ich hier mit erwähnen, das ich betreffs des Todes der Samojedengreise erfuhr und von dem ich glaube, daß es meine geneigten Leser interessiren dürfte. Auf der Insel Jamalja im Karischen Meere saß ich eines Abends im Jahre 1885 mit einem alten Samo jeden. Wir blickten hinaus auf das glitzernde, eisige, stille Meer und sprachen von der Vergänglichkeit alles Irdischen. „Früher," begann der Samojede bedauernden Tones, — „es ist noch nicht so lange her, daß wir Alten uns nicht mehr darauf besännen — herrschte bei uns Samo jeden eine selten schöne Sitte, das Leben zu beenden. Wenn ein alter Samojede fühlte, daß seine Augen er löschen wollten und die geliebte, heimische Tundra nichr mehr so recht sehen konnten, wenn er bemerkte, daß seine Ohren den Tritt seiner Rennthierheerde und die Früh lingsrufe des Schwanes nicht mehr hörten, wenn er empfand, daß sein Blut nachließ, schnell in den Adern zu kreisen, so bat er seinen ältesten Sohn zu sich: „Mein Sohn," sprach er, „rufe Deine Kinder, sage, daß die Weiber im Zelte schweigen und höre, was ich Dir zu sagen habe." Da trat Stille ein im Zelte, die Weiber senkten die Köpfe, der Sohn setzte sich dem Vater gegenüber und dieser begann: „Lange lebe ich schon, sehr lange. Wievicle Sommer, wieviele Winter, das weiß ich nicht. Nur das weiß ich, daß meine Augen die Tundra nicht mehr zu erkennen vermögen, daß meine Ohren den Schwan nicht mehr deutlich hören und daß mein Blut mich kältet, anstatt zu wärmen .... Stehe auf, mein Sohn, nimm meine besten Rennthiere, spanne sie vor meinen schönsten Schlitten und fahre hinaus in die Tundra, rufe dort die Leute zusammen und mache es ihnen kund, daß ich nicht länger mehr auf Erden leben will." Tie Weiber erhoben sich, holten den Schlitten und reichten dem Sohne die besten Kleider. Nachdem er sich geschmückt, fing er die schnellsten Rennthiere ein, spannte sie vor den Schlitten und fuhr dahin wie der Wind, um die Samojeden zusammen zu rufen. Er rief sie lange. Nicht einen Tag, nicht zwei fuhr er umher, eine ganze Woche lang, oft noch länger. Wenn er ein Zelt erblickte, so kehrte er ein und überallhin trug er die Botschaft seines Vaters. Tie Samojeden kamen ihm entgegen, besahen seine Rennthiere und fragten, was er brächte. Er entgegnete Allen: „Mein Vater, der alte Tyko, läßt Euch sagen, daß er nicht länger auf dieser Welt bleiben will." Die Samojeden beriethen uun miteinander, lobten den alten Tyko und erzählten sich, wie er sein ganzes Leben in der Tundra zugebracht. So fuhr Tyko's Sohn in der Tundra umher und wo er nur einen Menschen erblickte, Alle lud er ein und Jeder versprach zu kommen, um den Alten noch einmal zusehen, nicht nur Verwandte und Freunde, sondern auch Fremde. Der Sohn kehrte in das Zelt seines Vaters zurück und erstattete ihm Bericht, lieber den Alten kam eine seltene Freudigkeit, als er hörte, daß er so viele Gäste empfangen würde. Nun entwickelte sich eine große Ge schäftigkeit. Die Weiber bauten das Zelt auf einer freundlichen Anhöhe auf und zwar mit vielen Stangen, damit Platz darin sei. Dann kochten sie die schönsten Leckerbissen, gruben Fische und Fleisch aus der Erde und bereiteten die Speisen aufs Schmackhafteste. Jetzt kamen auch die Gäste an, stellten ihre Schlitten vor dem Zelte auf, trieben ihre Rennthiere zu denen ihres Wirthes und traten in das Zelt hinein. Das Zelt war bald voller Menschen. Junge, Alte und auch Weiber. Sie alle sprachen mit dem alten Tyko, erzählten ihm von der Vergangenheit, von seiner Jugend, von allen denen, die mit ihm alt geworden waren. Aber sie erwähnten nur die Lebenden, von den Todten wurde kein Sterbens wörtchen gesprochen. Man aß und trank, lachte und schwatzte und vergaß, wozu man gekommen. Da zog der Alte heimlich sein Messer aus der Scheide und drückte es, ohne daß es Jemand gewahr wurde, seinem besten Freunde oder auch seinem Sohne in die Hand. Dann sprach er lustig weiter und tauschte Erinnerungen aus. Und wie der Alte mitten im heitersten Plaudern war, und seine Gäste lauter und immer lauter wurden, ging Jener still ins Freie hinaus. Tort stellte er sich gegenüber der Stelle auf, wo der Greis saß, nahm > einen Anlauf warf sich auf das Zelt, durchbrach es und