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F 29«. 39. Jahrgang. Dienstag, den 14. Dezember. Erscheint jeden WochentagRachmitt. '/^Uhr sür den andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mart 25 Pf., zweimonatlich 1 M. SO Pf. und einmonatlich 75 Pf. Inserate werden bis Vormittag 11 Ubr angenom- FH FHF» mm und beträgt der Preis sür die gespaltene Zeile I XX»» oder deren Raum 15 Ps. und Tageblatt. Amtsblatt für die königlichen und städtischen Behörden zu Freiberg nnd Brand. Berautwortticher Redakteur: Julius Braun iu Freiberg. Der kleine Advokat von Amiens. Das neue Ministerium Goblet ist, noch bevor es kon- stituirt war, von den verschiedensten Seiten heftig ange griffen worden, so daß an eine lange Dauer dieses Kabinets raum zu glauben ist. Es bedurfte der eindringlichsten Bitten des Präsidenten Grävy und des Kammerpräsidenten Floquet, um Herrn Goblet zu bMegen, eine Aufgabe zu übernehmen, vor der sein mit den Geschäften gewiß ver trauter Freund Freycinet zurückschreckte, bei deren Lösung außerdem jetzt weniger als je auf Dapk zu rechnen ist. Unter der dritten Republik war bisher den Ministerien nur eine sehr kurze durchschnittliche Lebensdauer beschieden unh seit dem Rücktritt Freycinet hat sich die Situation in Frankreich noch so verschlimmert, daß eine Auflösung der Deputirtenkammer ganz unvermeidlich scheint. Eine re gierungsfreundliche Partei, auf deren Unterstützung Goblet rechnen könnte, giebt es in der französischen Kammer nicht und ob Neuwahlen darin etwas bessern würden, ist min destens fraglich. Floquet hätte wenigstens auf den Bei stand der radikalen Anhänger Clömenceaus rechnen dürfen, der selbst nicht in den Vordergrund treten möchte, und deshalb die Kandidatur Floquets aufstellte. Diese Kandi datur scheiterte aber nicht nur an der Erinnerung an die be kannte russenfeindliche Kundgebung sondem auch an der Furcht des Kammerpräsidenten, daß man von ihm als Konseilpräsidenten die geradezu unmögliche Erfüllung des kommunistischen Programms verlangen könnte, zu dem er sich als Mitglied des Pariser Gemeinderaths und als Seinepräfekt ehemals bekannte. Es ist nur zu begreiflich, daß Floquet es vorzog, den einträglichen und angenehmen Posten eines Präsidenten der Deputirtenkammer zu be halten, statt sich als Leiter des Kabinets rasch zu ver- vrauchen. Warum der willigere Kandidat der Radikalen, der bisherige Handelsminister Lockroy, von Grsvy zurück- aewiesen wurde, ist bis jetzt ebensowenig aufgeklärt, als der Eifer, mit dem Floquet für ein Ministerium Goblet eintrat, dessen Berufung doch die übrigen Radikalen als eine ver letzende Niederlage ihrer Fraktion ansehen und selbst bezeichnen In Wirklichkeit haben die Radikalen zu der bereits von ihnen begonnenen Befehdung des „kleinen Advokaten von Amiens" keinen Grund als dessen langjährige Freundschaft mit dem bisherigen Konseilpräsidenten Freycinet, was ihren Argwohn nährt, daß das Kabinet nur die Firma aber nicht das Wesen wechselte. Die Radikalen verkennen dabei, daß der zwischen ihnen und den opportunistischen Anhängern Ferrys eine Mittelstellung einnehmende Minister Goblet gerade dadurch der geeinete Mann wäre, bei Angriffen der Monarchisten und Klerikalen die gejammten republikanischen Fraktionen zum Sieg zu führen. Sie vergessen, daß dieser bis auf seine Magerkeit vielfach an Adolphe Thiers erin nernde „kleine Advokat von Amiens" nicht nur durch seine große Redegabe, sondern auch durch seine Geistesklarheit und Thatkraft bisher stets eine Stütze der republikanischen Sache war. Am 26. September 1828 in Aire (Pas de Calais) geboren, ließ sich Renöe Marie Goblet 1850 in Amiens nieder, wo er erst Stabträger und 1870 General advokat wurde. Schon im Jahre 1869 wirkte er als Mit begründer des demokratischen Blattes „Progrss de la Somme" und als Mitglied des Generalraths für den nordöstlichen Kanton des Somme-Departements. In der Nationalver sammlung schloß er sich der Gruppe der „Union Rspubli- caine" an. Im Februar 1876 siel er bei der Stichwahl in Amiens durch, siegte aber bei den im Oktober des nächsten Jahres stattgefundenen Wahlen und gehörte nur zu der republikanischen Mehrheit der Kammer. Nachdem Goblet im ersten Ministerium Frchcinet 1879 den Posten eines Unterstaatssekretärs der Justiz bekleidet hatte, wurde er im zweiten Kabinet Freycinet Minister des Innern, er hielt im Frühjahr 1885 im Kabinet Brisson das Porte feuille des Unterrichts und der schönen Künste, das ihm auch in dem dritten Ministerium Freycinet verblieb. Gerade auf diesem wichtigen Posten bewährte Goblet eine schätzens- werthe Charakterfestigkeit und Unabhängigkeit der Gesinnung, die ihm viel Ehre aber auch viele Feinde verschaffte. So stand Goblet in Unterrichtsfragen mit den ihm sonst wenig sympathischen Anhängern Ferrys fest zusammen und brachte das bekannte Elementarschulgesctz durch, welches den Laienunterricht sicherte und das ihm deshalb die Kle rikalen nie vergeben werden. Mit derselben Zähigkeit ver- theidigte er aber auch das von den Radikalen hart ange- gnffene Kultusbudget, wofür ihm die in ihrer Haß uner bittliche Rechte der französischen Kammer zwar wenig Dank weiß, gleichzeitig aber auch der radikale Führer Clemenceau j Feindschaft geschworen zu haben scheint. Bei diesem ehr geizigen Nachahmer des Volkstribunen Gambetta ist eine nach beiden Seiten hin unabhängige Gesinnung die schlech teste Empfehlung und dürfte es ihm gar nicht unangenehm sein, daß der linke Flügel der Radikalen, die sogenannten Jntransingenten, sich bereits in Schmähungen gegen das neue Kabinet ergehen. Wie dem „Fr. Journal" aus Paris geschrieben wird, lautet die lange Ueberschrift eines neuen Hetzartikels der Rochefort'schen „Lanterne" wie folgt: „Die geheime Regierung des Herrn v. Freycinet. Fort setzung der Jntriguen des Elysäe. Goblet Pseudonym von Freycinet. Herr Floquet ist gefovpt. Warum man Herrn Goblet gewählt hat. Die Schützlinge der Rechten." Unter diesem vielsagenden Titel wird dann ein ganzer Berg von Anklagen gegen Goblet, Grüvy und Frevcmct geschleudert. Nicht ein einziger politischer Grund wird gelten gelassen für die Beseitigung Floquet'S; auch nicht der aus der auswärtigen Politik sich ergebende. Rochefort verspottet vielmehr mit Bezug auf denselben das neue Kabinet als „Iss kourZons äs l'ätrkurgsr", die „Gepäckwagen des Aus landes." Wenn man wegen dieser letzten Verdächtigung des Mi nisterium Goblet für ein deutschfreundliches oder mindestens für ein solches halten wollte, dessen auswärtige Politik als eine durchaus friedliche angesehen werden könne, so wird man sich in einem verhängnißvllen Jrrthum befinden. In diesem Kabinet haben der Kriegsminister Boulanger und der Marineminister Tube ihre früheren Plätze behalten, so daß nicht nur das radikale, sondern auch das chauvinistische Element in dem neuen Kabinet hinreichend vertreten ist. Die meiste Schwierigkeit machte die Besetzung des Minist eriums des Auswärtigen. Am Freitag hatten Goblet und Freycinet deshalb eine lange Besprechung mit dem ehemaligen Botschafter in Berlin, de Courcel, der aber dabei blieb, daß er die Uebernahme des ihm angebotenen Ministerpostens ablehnen müsse. Im Laufe des Abends geschahen nun erneute Schritte, um Duclerc zur Annahme des Portefeuilles des Auswärtigen zu bestimmen. Da Duclerc bei seiner Wei gerung beharrte, wurde erst dem Botschafter Decrais in Wien und dann an den Gesandten Billot in Lissabon die telegraphische Aufforderung gerichtet das Ministerium des Auswärtigen übernehmen. In Folge der allseitigen Ab lehnungen beschloß das neue Kabinet gestern endlich, daß Goblet neben dem Ministerium des Innern das Auswärtige vorläufig selbst verwalte. Von seinen bisherigen Kollegen sind Boulanger, Aube, Lockroy, Granet, Develle und Sarrien geblieben, wobei der Letztere für das Portefeuille des Innern das Justizportefeuille eintauschte. Neu treten Berthelot als Unterrichtsminister und Dauphin als Finanzminister ein, während Freycinet, Sadi Carnot und Demole aus dem Ca- binet ausscheiden. In der am Sonnabend stattgehabten Sitzung der fran zösischen Deputirtenkammer verlas der neue Konseilpräsident Goblet eine von seinem Kabinet vereinbarte Erklärung, wo nach das Ministerium hinsichtlich der auswärtigen Politik die von dem vorigen Kabinet eingeschlagene, von den Kam mern gebilligte Richtung einhalten werde. Die innere Politik anlangend, würden die gewünschten Reformen in der Session 1887 vorgelegt werden. Das Ministerium werde bemüht sein, das Vertrauen der Kammer weniger durch zahlreiche Versprechungen zu erreichen, als jede Zusage gewissenhaft auszusühren; die Kammer möge ihr Vertrauen dadurch be weisen, daß sie vorläufig ein Zwölftel der Jahreseinkünste bewillige. Goblet beantragte sodann die Vertagung der Kammer bis Dienstag, an welchem Tage die provisorischen Kredite bewilligt werden sollen. Die Kammer ging auf den Wunsch des Konseilpräsidenten um so bereitwilliger ein, als man die Forderung einer provisorischen Bewilligung von drei Zwölfteln erwartet hatte. Die neuesten Pariser Blätter äußern sich aber nach wie vor über das neue Kabinet sehr ungünstig, da die Ernennung des Opportunisten Dauphin, eines intimen Freundes von Jules Ferry, zum Finanz minister, die Absicht Goblets verräth, das neue Kabinet zu einem Koalitions-Ministerium zu machen. Tagesschau» Freiberg, den 13. Dezember. Trotz deS vertraulichen Charakters der Verhandlungen der von dem deutschen Reichstage zur Berathung der Mili- tärvorlage eingesetzten Kommission, bleibt nur ein kleiner Theil der Vorgänge in dieser Kommission der'Oeffentlichkeit vorcnthalten. Das allgemeine Interesse für die von der Reichsregierung in Aussicht gestellten Aufklärungen ließen eine j vollständige Geheimhaltung unmöglich erscheine«. I« d« am Sonnabend stattgefundenen Sitzung der Kommission verglich der Kommissar des KriegsministerS, Major Hab erling, die Stärke der Armem von Deutschland, Frankreich und Rußland, um nachzuweisen, daß ziffernmäßig die französische und deutsche HeereSmacht ziemlich gleich groß seien, die russische aber etwas höher stehe. Die Zahl der Uebungstage in der französischen Armee sei aber erheblich größer, als die in der deutschen. In Frankreich entzögen sich dem Dienste jährlich höchstens 6000, bei uns dagegen 40000 Mann. Kein französischer Kriegsminister habe sich gescheut, dm Etat bedeutmd zu überschreiten. Wenn dann nachträgliche Genehmigung ertheilt werden sollte, befand sich immer eine andere Person an der Spitze und die Genehmigung wurde gegeben. Nach Aeußerungen des Kriegsministers WannowSky setze Rußland bei seiner Organisation einen Krieg mit Oester reich, Deutschland und Rumänien voraus und suche damach seine Präsenzstärke einzurichten. Der Redner erörterte weiter, daß die Uebungen der Ersatzreserve I. Klaffe eigentlich keine Vermehrung der Kriegsstärke darstellen, sondem nur, da da jetzt durch die Eisenbahnen Mobilmachung und erster Schlachttag sehr nahe zusammenfallen, ein bester vorgebildetrS Rekrutenmaterial schaffen. Er bekämpfte ferner die Behaupt ungen Richter's über die Stärke der französischen Armee und wie- auf die Pläne des GmeralS Boulanger hin, der die französische Arme« kriegstüchtiger zu machen suche. Bei Be- urthellung der russischen Heeresstärke müsse man auch die irregulären Truppen in Europa in Rechnung ziehen, ebenso die sog. Lokaltruppen, dmn der Kriegsminister WannowSky wolle auch diese kampftüchtig machen. Im Jahre 1879 sei eine bedeutende Vermehrung der Infanterie, im Jahre 1883 eine solche der Kavallerie in Rußland befohlen wordm. Auch die Artillerie, die Jngenieurtruppen und Hilfsabtheilungen sind dort vermehrt worden. Die russische Reichswehr, der sog. Landsturm sei jetzt organisirt; das Eismbahnsystem sei gerade nach dem Westen hin, nach Deutschland und Oesterreich ganz musterhaft entwickelt und entwickele sich noch weiter. Aus einem Artikel der „Mosk. Ztg." wies der Redner nach, wie groß und kräftig die russische Armee dastehe, wie sie ein mächtiger Verbündeter und ein furchtbarer Feind sei. Ein Plewna scheine jetzt unmöglich. Außerdem verfüge Rußland über ein ungeheures Menschenmatcrial. Die Reserve betrage 1516 000 Mann, die Reichswehr 2 900000 Mann. Wenn man Alles in Allem betrachte, ständen den 2 Millionen Truppen, die Deutschland im äußersten Falle stellen könnte, 5 Millionen französische und russische Mannschaften entgegen. Die österreichische Heeresstärke stellte der Redner ganz im Sinne deS Kriegsministers dar. Der Kriegsminister General Bronsart von Schellendorf nahm darauf noch selbst das Wort, um einige Angaben des Kommissars als besonders vertrauliche zu bezeichnen. Hierauf trat eine Pause ein. Sodann nahm der Abg. v. Wöllwarth daS Wort und sagte, er wolle über die Weltlage gar nichts erfahren, denn er Wiste davon genug. Die Aggressiv stärke der Gegner sei gewachsen. Man könne die Vorlage nicht ablehnen, wenn die verantwortliche Kriegsverwaltung sie sür nothwendig erkläre; man möge die bittere Pille möglichst schnell verschlucken. Abg. Hasenclever konstatirte, daß seine Partei in der Vertheidigung des Vaterlandes keiner anderen nachstehe, nur wolle sie ein anderes System der Vertheidigung. Die Vor lage ziele gar nicht aus die Abwendung einer bevorstehenden Gesahr, sondern auf eine dauernde Belastung hin. Wäre der Reichskanzler anwesend und würde sagen, daß eine momentane Gefahr bestehe, dann wäre er sofort bereit, Alles zu bewilligen. Wenn in Frankreich nur 6000, in Deutschland 40 000 sich der Dienstpflicht entzögen, so sei dies ein beschämendes Re sultat. Der Kriegsminister möge nicht so drängen, sondern abwarten, welchen Einfluß die Wähler während der Ferieu auf die Abgeordneten ausüben würden. Der Kriegsmmister Bronsart von Schellendorff erklärte darauf, daß die deutsche Neigung zum Herumwandcrn die große Zahl der Manquements verschulde. Abg. Richter wendete sich zunächst gegen Wöllwarth, der wo möglich noch mehr bewilligen möchte als die Regierung fordere, und konstatirte aus der Rede des Majors Haberling, daß die Dienstzeit der Kavallerie ver längert werden solle, dadurch, daß die Rekrutenvakanz auf höre. Er suchte ziffernmäßig nachzuweisen, wie durch indirekte Etatsveränderungen, z. B- Nichteinstellung der RegimentS- musiker, eine Vermehrung geschaffen würde. Wenn man die Vorlage bewillige, würden an Dispositionsurlaubern circa 20,000 Mann wieder eingezogen; die Vorlage beginne also mit einer Verlängerung der Dienstzeit. Die soeben mitge- theilte Kriegsstärke von 1'/? Millionen Mann stehe im Gothai- schen Kalender; in Wahrheit aber seien wir viel stärker, wenn