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M eM Wr^eiaE und Tageblatt. Amtsblatt für die königliche» und städtischen Behörden zu Freiberg und Brand. Verantwortlicher Redakteur: Iuliu» Braun in Freiberg. H 276. Erscheint jeden Wochentag Nachmitt. '/,S UHr für den andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mart 2S Ps., zweimonatlich 1 M. bO Ps. und einmonaUichI7d Pf. SS. Jahrgang. Sonnabend, de« 37. November. Inserate werden bis Bormittag 11 Ubr angenom men und beträgt der Preis für die gespaltene Zeile oder deren Raum 1v Pf. 1886. Nachbestellungen ans den Monat Dezember »erden zum Preise von 75 Pf. von allen kaiserlichen Postanstatten sowie von den be kannte» Ausgabestellen und der unterzeichnete« Expedition angenommen. Expedition des Freiberger Anzeiger. Die Eröffnung des deutschen Reichs tages. Mit ungewöhnlicher Spannung sah man diesmal der Eröffnung des deutschen Reichstages entgegen, denn mit Zuversicht erwartete man von der Thronreoe Aufklärung über die allgemeine Lage, besonders aber Darlegung der Gründe, weshalb die Militärvorlage wider Erwarten be schleunigt wurde und die Erhöhung der Friedenspräsenz stärke des Heeres schon am Beginn oeS neuen EtatSjahres mitteten soll. Bei dem Umfang, den die Thronrede be- kusS Erläuterung der jetzige» Lage deS Reichs unter den bewandten Umständen haben mußte, war dem greisen Kaiser der Bortrag derselben nicht zuzumuthen und fiel dem Staats sekretär deS Innern, Staatsministrr v. Bötticher, die Ver pflichtung zu, im Auftrage des Kaisers und in Stellver tretung des Reichskanzlers den Reichstag zu eröffnen. Die Feierlichkeit vollzog sich gestern Mittag 12'/« Uhr im Weißen Saale des Berliner Schlosses unter den üblichen Förmlich keiten. Die von dem Staatssekretär v. Bötticher verlesene Thronrede, von der ein kurzer Auszug bereits aestern unter Depeschen mitgetheilt wurde, hatte folgenden Wortlaut: „Geehrte Herren! Se. Majestät der Kaiser haben mich zu beauftragen geruht, den Reichstag im Namen der ver bündeten Regierungen zu eröffnen. Die wichtigste Aufgabe, welche den Reichstag beschäftigen wird, ist die Mitwirkung bei der ferneren Sicher st ellung der Wehrkraft des Reichs. Durch das Gesetz vom 6. Mai 1880 ist die Friedenspräsenzstärke des Heeres bis zum 31. März 1888 festgestellt worden. Der Bestand unseres Heerwesens bedarf daher der Erneuerung seiner gesetzlichen Grundlage. In der Armee liegt die Gewähr für den dauernden Schutz der Güter des Friedens, und wenn auch die Politik des Reichs fortgesetzt eine friedliche ist, so darf Deutschland doch im Hinblick auf die Entwicke lung der Heereseinrichtungen unserer Nachbarstaaten aus eine Erhöhung seiner Wehrkraft und insbesondere der gegen wärtigen Friedenspräsenzstärke nicht länger verzichten. Es wird Ihnen eine Gesetzvorlage zugehen, nach welcher diese Heeresverstärkung bereits mit dem Beginn des neuen Etats jahres eintreten soll. Seine Majestät der Kaiser hegt in Uebereinstimmung mit den verbündeten Regierungen die Zuversicht, daß die Nothwendigkcit dieser im Interesse unserer nationalen Sicherheit unabweislichen Forderung auch von der Gesammtheit des deutschen Volkes und seiner Vertreter mit voller Entschiedenheit anerkannt werden wird. Eine zweite Vorlage, welche Sie beschäftigen wird, betrifft die Fürsorge für die Wittwcn und Waisen der Angehörigen des Reichsheeres und der kaiserlichen Marine. Das Bedürfniß dieser Fürsorge ist bereits früher anerkannt worden. Die verbündeten Regierungen glauben nunmehr aus das Zustandekommen dieses Gesetzes um so sicherer rechnen zu dürfen, als die neue Vorlage den hinsichtlich einzelner Modalitäten im Reichstag geäußerten Wünschen wesentlich entaegenkommt. Bei der Bemessung der durch diese Vorlagen bedingten Mehrkosten, wie des im Reichshaushaltsetat veranschlagten Ausgabe-Erfordernisses überhaupt sind die Rücksichten auf die finanzielle Lage nicht außer Acht gelassen. Gleichwohl wird sich eineErhöhung der Matrikularbeiträge und der im Wege des Kredits bereitzustellenden Mittel nicht vermeiden lassen. Neben der durch die Verstärkung unserer Wehrkraft zu Wasser und zu Lande gebotenen Ver mehrung der Ausgaben und den auf rechtlicher Verpflich tung beruhenden Mehraufwendungen auf dem Gebiete der Reichsschuld und des Pensionswesens, bedarf ein be deutender Ausfall an Zuckersteuer aus dem Vorjahre der Deckung. Unter diesen Umständen dauert das dem Reichstag wiederholt dargelegte Bedürfniß einer anderweiten Verthei- lung der Lasten durch Vermehrung der indirekten Steuern nicht nur fort, sondern dasselbe wird in Folge der Erhöhung der Matrikularumlagen noch dringlicher empfunden werden als bisher. Gleichwohl haben die verbündeten Regierungen aus den vom Reichstag über ihre bisherigen Steuervor lagen abgegebenen Voten den Eindruck gewinnen müssen, daß ihre einstimmige Ueberzeugunavon der Nothwendigkeit einer Aenderung in der Art der Beschaffung des öffent lichen Geldbedarfs von der Mehrheit der Bevölkerung und der Vertretung derselben zur Zeit nicht in dem Maße ge- theilt wird, daß übereinstimmende Beschlüsse der beiden ge setzgebenden Körperschaften des Reichs mit mehr Wahr scheinlichkeit wie im Vorjahre in Aussicht genommen wer den könnten. In der Erwägung, daß die Regierungen kein anderes Interesse haben, als das der Nation, verzichtet Seine Majestät der Kaiser darauf, die eigene Ueberzeugung von der Noth wendigkeit der bisher vergebens erstrebten Steuerreform von Neuem zur Geltung zu bringen, so .lange das Be dürfniß nicht auch im Volke zurAnerkennung gelangt sein und bei den Wahlen seinen Aus- oruck gefunden haben wird. Die Weiterführung der auf Grund der Allerhöchsten Botschaft vom 17. November 1881 in Angriff genommenen sozial-politischen Gesetzgebung liegt Seiner Majestät dem Kaiser und seinen hohen Bundesgenossen unablässig am Herzen. Mögm auch einzelne Bestimmun gen der über die Kranken- und Unfallversicherung erlassenen Gesetze verbesserungsfähig sein, so darf doch mit Genug- thuung anerkannt werden, daß die Wege, welche das deutsche Reich auf diesem Gebiete, anderen Staaten voran, zuerst beschritten hat, sich als gangbar erweisen und daß die neuesten Einrichtungen im Allgemeinen sich bewähren. Die nächste Aufgabe für die Entwickelung dieser Einrich tungen besteht darin, die Wohlthaten der Unfallversicherung auf weitere Kreise der arbeitenden Bevölkerung zu erstrecken. Zu diesem Zweck werden Ihnen zwei Gesetzentwürfe vor- aelegt werden. Der eine regelt die Unfallversicherung für die Seeleute, der andere für die bei Bauten be schäftigten Arbeiter, soweit dieselben von der bisherigen Gesetzgebung noch nicht erfaßt worden sind. Erst wenn die Unfallversicherung der Arbeiter hierdurch in einem weiteren erheblichen Maße der Durchführung näher gebracht sein wird, kann dazu übergegangen werden, auf der Grund lage der neu geschaffenen Organisationen den arbeitenden Klassen ein entsprechendes Maß der Fürsorge auch für den Fall des Alters und der Invalidität zuzuwenden. Zur Erreichung dieses Zieles aber werden Aufwendungen aus Reichsmitteln erforderlich werden, welche bei unserer der zeitigen Steuergesetzgebung nicht verfügbar sind. In voller Würdigung der Bedeutung des Handwerkerstandes für die allgemeine soziale Wohlfahrt sind die verbündeten Regierungen mit Interesse den Bestrebungen gefolgt, durch welche das deutsche Handwerk seine korporativen Verbände zu stärken und seine wirtschaftliche Lage zu heben trachtet. Ueber die Wege, welche die Gesetzgebung in dieser Richtung einzuschlagen hat, schweben Erwägungen, welche zur Zeit noch nicht zum Abschluß gelangt sind, welche aber die Aussicht eröffnen, daß es gelingen werde, zu einem den berechtigten Interessen dieses Standes entsprechenden Er gebniß zu kommen. Die gesetzlich vorgeschriebene Revision des Servis tarifs und der Klassenemtheilung der Orte ist in der letzten Session des Reichstags nicht mehr zum Abschluß gekommen. Die darauf bezügliche Vorlage wird Ihnen daher aufs Neue zur Beschlußfassung zugehen. Auch der in der vorigen Session nicht zur endgültigen Berathung gelangte Gesetzentwurf über die Errichtung eines Seminars für orientalische Sprachen wird alsbald wieder einaebracht werden. Der Reichstag hat seinen auf eine Er mäßigung der Gerichtsgebühren und eine Revision der Gebührenordnung für Rechtsanwälte gerichteten Wünschen wiederholt Ausdruck gegeben. Die angestellten Ermittelungen haben, abgesehen von einzelnen Bestimmungen des Gerichtskostengesetzes über die Werthfestsetzung, das Bedürfniß einer Aenderung der bestehenden Genchtskosten- sätze nicht erkennen lassen. Dagegen theilen die verbündeten Regierungen die Ansicht, daß die Gebührenordnung für Rechtsanwälte ohne Beeinträchtigung der berechtigten In teressen dieses Standes in einigen Ansätzen eine Ermäßigung erfahren kann. Es wird Ihnen daher ein entsprechender Gesetzentwurf vorgelegt werden. Die Beziehungen des deutschen Reichs zu allen aus wärtioen Staaten sind freundlich und befriedigend. Die Politik Seiner Majestät des Kaisers ist unausgesetzt dahin gerichtet, nicht nur dem deutschen Volke die Segnungen des Friedens zu bewahren, sondern auch für die Erhaltung der Einigkeit aller Mächte den Einfluß im Rathe Europas zu verwerthen, welcher der deutschen Politik aus ihrer be währten Friedensliebe, aus dem durch diese erlangten Ver träum anderer Regierungen, aus dem Mangel eigener Interessen an schwebenden Fragm und insbesondere aus der engen Freundschaft erwächst, welche Seine Majestät der Kaiser mit den beiden benachbarten Kaiser- Höfen verbindet. Auf Allerhöchsten Befehl Seiner Maje stät des Kaisers erkläre ich im Namm der verbündeten Regierungen den Reichstag für eröffnet." Nachdem Herr von Bötticher geendet und die Session für eröffnet eimärt hatte, brachte der Präsident der vorigen Session, Herr von Wedell-Piesdorf, daS Hoch auf ven Kaiser aus, in das die Anwesenden dreimal lebhaft ein« stimmten. Die Thronrede wurde von dm Versammelten schweigend angehört. Um 12*/, Uhr war die Feierlichkit beendet. Tagesschau. Freiberg, dm 26. November. Den gestern zusammengetretenen deutsche« Reichstag begrüßte die ministerielle „Nordd. Mg. Ztg.' mit folgende» Worten: „Der Reichstag wird zu einer Session eröffnet, die eine der inhaltreicheren in der PorlamentSgeschichte d«S deutsch« Reichs zu werd« verspricht. Nach dem, was über die Auf gaben bekannt geworden ist, welche den gewählt« Vertreter» des deutschen Volkes gestellt fein werd«, sind diese Aufgaben vielseitige und gewichtige. Es wird sich darum handeln, die Sozialreform weiter auszubauen; es werden die wirthschaft- lichen Interessen des Reiches und seiner Bewohner nach all« Seiten hin wahrzunehmen sein und ein gewichtiges Wort wird der Reichstag zur Wehrfrage auszusprechen hab«. ES ist ein berechtigtes Wort, daß der Mensch mit sein« höher« Zwecken wächst, und so glauben wir auch hoffen zu dürfen, daß dieser Reichstag, der schon in den vorhergehenden Sessio nen mitunter sich selbst zu überwinden vermochte, den größeren Zwecken, deren Erfüllung das Vaterland dies Mal von ihm erwartet, sich gewachsen zeigen wird. Zur Erfüllung dieser Hoffnung wird es allerdings nöthig sein, daß der Cliqumgeist in den die Entschlüsse des Reichstag beherrschenden Parteiung« mehr noch überwunden werde von jenem Geiste des Patriotis mus, der als höchstes Gesetz das Wohl und die Kräftigung des Reiches betrachtet. Leider darf man nicht mit gewisser Zuversicht sagen, daß diese Hoffnungen in allen Stücken ihre Erfüllung finden werden. Aber nachdem dieser Reichstag, dessen Mehrheit unter der Parole prinzipieller Opposition ge wählt worden ist, trotzdem schon Beweise dafür gab, daß die in dm praktischen Bedürfnissen des Reiches liegmde Kraft größer ist, als die von den Theorie« doktrinärer Parte»- Programme ausgehende, so ist die Erwartung berechtigt, daß gerade den jetzt an ihn hernntretenden größere» Zwecken gegen über die sachliche Beur« Teilung der Dinge zu ihrem voll« Rechte gelangen möchte. In diesem Sinne begrüßen wir den Reichstag beim Beginn seiner Arbeit und werden keine größere Gcnugthuung kennen, als nach Abschluß derselben bezeugen zu können, daß auch er, dessen Lebensdauer mit der an brechenden Session aller Voraussicht nach zu Ende geht, sich um das Vaterland wohl verdient gemacht habe." * Um zwei Uhr Nachmittags eröffnete gestern der Präsident von Wedell-Piesdorf die Sitzung des deutsche» Reichstages und berief die vorläufigen Schriftführer. Von Vorlagen waren bereits eingegangen: der Haushaltsetat für 1887/88, das Anleihe-Gesetz, das Servistarif-Gesetz, die Uebersicht über die Ausgaben und Einnahmen für l.886/87, eine Denkschrift über die Ausführung der seit 1885 erlassen« Anleihegesctze, und das Gesetz über die Friedenspräsenzstärke deS Heeres. Der Namensaufruf ergab nur 1S7 Anwesende; das Haus war also beschlußunfähig. Heute Nachmittag 2 Uhr findet die Präsidentenwahl statt. — Der dem Reichstage zu gegangene Gesetzentwurf über die Friedensprä- senz stärke des Heeres stellt diese Stärke vom 1. April 1887 ab bis zum 3l. März 1894 auf 468409 Mann fest, wobei die Einjährig-Freiwilligen nicht mitgerechnet sind. Die Infanterie wird in 534 Bataillone, die Kavallerie in 465 Es» kadrons, die Feldartillerie in 364 Batterien, die Fußartillerie in 31, die Pionniere in 19, der Train in 18 Bataillon« formirt. Die auf die bisherige Zahl der Truppentheile Bezug habenden Bestimmungen des Reichsmilitärgesetzes tret« am