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einen Menschen vor dem langsamen Verhungern zu schützen." Ihr tüchtigen und ehrenfesten Handwerker, hat der Mann nicht Recht? Eifert er ferner nicht mit Recht gegen die Ausbeutung der Arbeitskraft seitens der mit Kapitalien versehenen Patentmeister, die einem Gesellen nur immer eine Arbeit, z. V. Knopflöchermachen, thun lassen und ihn dadurch zur Maschine herabwürdigen und zum selbstständigen Betrieb eines Gewerbes untüchtig machen? „Die Gewerbefreiheit", fährt Redner fort, „mag manche Bequem lichkeit für das Publikum darbieten, sie liefert wohlfeile Waaren, aber an dieser Wohlfeilheit klebt vergiftend das Elend und der Jammer des Hand werkers, der seineni Ruin entgegengeht, und ich glaube, es möchten uns unsere wohlfeilen Röcke aus dem Kleiderladen zuletzt unbehaglich auf dem Leibe fitzen, wenn ihre Verfertiger daran verzweifeln müssen, sich auf ehrliche Weise zü ernähren." Billig und schlecht, das ist die Folge der unbeschränkten Gewerbefreiheit für das Publikum. Der Handwerkerstand aber, den Bismarck „den Kern des Mittelstandes" nennt, dessen Erhaltung „zum Bestehen eines gesunden Staatslebens" ihm eben so nothwendig scheint, wie die Schöpfung eines freien Bauernstandes zu Anfang dieses Jahrhunderts — der Hand werkerstand hat Anspruch auf gesetzlichen Schutz durch den Staat. „Es scheint mir billig", sagt Herr von Bismarck, „daß wir zum Schutz des Handwerkers, eines der unentbehrlichsten Glieder im Staatsorganismus, Maßregeln ergreifen, selbst dann, wenn diese Maßregeln für den Einzelnen drückend, beschränkend oder mit Kosten verbunden fein sollten." Er scheut vor dem Zunftzwang nicht zurück, der einer gewissen Sorte von Liberalismus nur unangenehm ist „wegen des mittelalterlichen Beigeschmacks, der kräftigen und geschlossenen Innungs-Korporationen anklebt." Deshalb erklärt er sich für obligatorische Innungen. Werde der Beitritt zur Innung nicht zur Zwangspflicht gemacht, so seien die Vortheile derselben gänzlich hin fällig und blos eingebildet. „Die Vortheile, welche eine Zunft dem Ein zelnen bietet, beruhen auf der Möglichkeit von Ausgaben, und zwar daraus, daß diese Ausgaben nachhaltig gesichert sind; nur dadurch ist es möglich, daß die Korporationen der Innungen dem Einzelnen, welcher der Ver armung ausgesetzt sein könnte, durch Kredit, durch wohlfeilere Beschaffung der Rohstoffe u. dergl. unter die Arme greifen können. Ist die Dauer der Zunft dadurch in Frage gestellt, daß Jeder, der sich reich genug fühlt, um sich nicht an die Zunft anlehnen zu wollen, sich als Patentmcister etabliren kann, oder wenn Jeder, der irgend etwas gelegentlich, etwa bei einen: Zweckessen, übel nimmt, austreten kann, so ist es auch möglich, daß eines guten Tages eine Zunft plötzlich, ehe Jemand es erwarten konnte, aufhört." Zu den Vortheilen, welche eine obligatorische Innung gewährt, gehört erstens die gründlichere Ausbildung des Handwerkers in feinem Fach. Empfohlen wird der Beschluß der Berliner Klempner-Innung, wonach Niemand mehr Lehrlinge halten darf, als er Gesellen hält. Die Lehrlinge sind nicht so viel zu häuslichen Arbeiten, als Dienstmädchen u. s. w. zu verwcrthen, wie oft geschieht; sie lernen dann ihr Metier nicht und gehen als unfähige Gesellen, die kein Mensch gebrauchen kann, in die Welt. „Ein zweiter Uebelstand, welchen ich auch nur durch den Zunftzwang beseitigen zu können glaube, ist die maßlose Konkurrenz. Es heißt heute überall, die Menge muß es bringen, und es kommt daher wesentlich darauf an, wer am besten hungern kann, der hungert seinen Konkurrenten bankerott; wer die unsolidesten Waaren liefert, der macht seinen Nebenbuhler todt. Auch dem kann meines Erachtens nur dadurch begegnet werden, daß die Innung in den Stand gesetzt werde, die Qualität für die fabrizirtcn Gegenstände allgemein zu bestimmen und einen dieser Qualität entsprechenden Preis zu verabreden, der so normirt wird, daß der Handwerker dabei be stehen und nöthigenfalls zurücklegen kann. Es springt in die Augen, daß auch solche Beschlüsse hinfällig sein werden, wenn einzelne Patentmeister sich ihnen nicht zu unterwerfen brauchen." „Einen dritten Grund für den Ruin der Handwerker finde ich in dem Kampfe gegen die Ueberlegenheit eines großen Betriebskapitals. Dieser Ueberlegenheit des Kapitals kann nur durch die Assoziation der Innung begegnet werden, indem die Assoziation in den Stand gesetzt ist, diejenigen Vortheile, welche einen: großen Kapitale sich darbieten, zu verschaffen; z. B. die großen und massenhaften Einkäufe von Rohprodukten und andere Ersparnisse, welche ich Wohl nicht näher an zuführen brauche. Es liegt aber aus der Hand, daß die Assoziationen, Welche sich mit Unterstützung der Einzelnen auf diese Weise betheiligen wollen, nur dann wirksam sein werden, wenn sie ihre Dauer gesichert sehen, wenn sie im Stande sind, Lokale zu acquiriren, Schulden zu machen, Ge schäfte auf Zeit abzuschlicßen, ohne annehmen zu müssen, daß die ganze Innung plötzlich unvermuthct in ihr Nichts verschwindet." Wie damals, so wird man auch heute ausrusen: Aber eine solche Beschränkung der persönlichen Freiheit ist des Menschen ja unwürdig! Wie kann ein „Rechtsstaat" solchen Zwang ertragen! Wohlthaten werden nicht aufgedrungcn. Durch den Zunftzwang wird sich der verrufene Kasten geist wieder ausbildcn u. dergl. Auf alle diese Einwendungen wird der antworten können, dem das Gesammtwohl über alles geht, dem der Handwerkerstand höher steht als der Vortheil des Einzelnen, der nicht will, daß der Einzelne sich auf Kosten der Gesammthcit bereichere. So sollte wenigstens ein Staats mann denken, der das große Ganze im Auge zu behalten hat, so staats männisch dachte Herr von Bismarck. „Wohlthaten", sagt er, „werden allerdings aufgedrungen und sind oft zum Gedeihen und zum Wohle des preußischen Staates aufgedrungen, ganz besonders in Gestalt der Gemein- heitstheilungen u. dergl. Ein Kastengeist findet nur da statt, wo eine Kaste besteht, Welche jeden Anderen ihrer Natur nach ausschließt oder ihm den Eintritt verwehren kann, wie sich z. B. alten stiftsmähigen Adel Niemand geben konnte, der nicht darin geboren war." Wir können leider nicht die ganze Rede abdrucken, so lehrreich das sür die heutigen Kämpfe sein würde. Darum könnet: wir auch nur noch kurz Hinweisen auf die Vergleichung des Zunftzwanges mit dem Schutzzoll. Dient der Schutzzoll dazu- die Fabrikanten zu bereichern, so soll der Zunft zwang dazu dienen, „von dem ganzen großen Gewerbestande Elend und Anarchie abzuhalten." „Ich kann mich nicht überzeugen, daß wir eines Schutzes gegen die Auswüchse übertriebener inländischer Konkurrenz nicht mit demselben Rechte bedürfen wie eines Schutzes gegen das Ausland." Damals wünschte, nach den Angaben Bismarck's, die Majorität der Handwerker im Verhältniß von 5 zu 1 den Zunftzwang eingeführt zu sehen. Steht es heute nicht ganz ähnlich? Hoffen wir, daß die Vertreter des Großkapitals und die Advokaten der Börse in der Minderheit bleiben, daß vielmehr die Bestrebungen der konservativen Partei, die bereits mit gutem Erfolge gekrönt sind, zum Wohle des Handwerkerstandes mehr und mehr zu einen: gedeihlichen Ziele durchdringen. Nichts gelernt und viel vergessen! Wenn sich einmal ein Gffchichtsfmscher die freilich undankbare Auf gabe stellte, die Geschichte der Fortschrittspartei zu schreiben, so würde er sicherlich obigen Satz als Motto voransetzen müssen. Ja, sie haben in der That nichts gelernt, die Herren Fortschrittler, das beweisen sie täglich durch die Artikel in ihren Zeitungen, durch die Wahlreden ihrer Führer, durch ihr ganzes Gebühren und Verhalten in allen politischen Angelegenheiten. Sie haben nichts gelernt in der äußeren Politik, denn noch bei jeder bisher aufgetauchten Frage hat die Fortschrittspartei und ihre Presse von vornherein immer eine Stellung eingenommen, welche der spätere Verlauf der Sache als die unrichtigste erscheinen ließ, welche überhaupt im gegebenen Falle hätte gewählt werden können, und bei deren etwaiger Aneignung die Regierung nur Mißerfolge zu verzeichnen gehabt haben würde; sie haben nichts gelernt in der inneren Politik, denn sie haben kein Verständniß gezeigt für die Bedürfnisse des arbeitenden Volks, für das Wohl des Landmanns, des Handwerkers, des Industriellen. Sie haben die Lehren der Geschichte nicht verstanden und haben nicht gelernt, auf den Pulsschlag des öffent lichen Lebens zu horchen, denn sonst würden sie wissen, daß die über wiegende Mehrheit der Bevölkerung sich im Herzen von ihnen abgewendet, daß selbst die sonst durch gleißendes Wort und rhetorisches Talent leicht zu bethörcnde Jugend dem hohlen Fortschritts-Phantom längst den Rücken zugekchrt hat. Und vergessen? — Vergessen haben sie vor allem, wie oft sie sich schon unsterblich bloß gestellt haben, wie absolut unproduktiv sie bisher auf dem Felde der Gesetzgebung gewesen, wie häufig die Ereignisfe ihre Norher sagungen widerlegt haben. Wie sich aber im Leben so häufig die größte Thor- heit mit den: höchsten Selbstbewußtsein und dem größten — Mundwerk zu parcn Pflegt, so sehen wir auch bei der Fortschrittspartei trotz ihrer nachweis lichen politischen Impotenz eine bis zum Komischen getriebene Ueber- fchätzung des eignen Könnens und Leistens und ihr Gebühren erinnert nicht selten an die Fabel vom Esel in der Löwenhaut. Dabei kommen aber der Fortschrittspresse — ebenso wie es Menschen giebt, denen die besten Witze, die sie hätten erzählen können, stets erst auf der Treppe beim Hin- abstergen einfallen — ihre weisesten Eingebungen auch erst immer dann, wenn ein gleicher oder ganz ähnlicher Gedanke von der Regierung oder anderen Parteien bereits längst gefaßt und zur öffentlichen Diskussion ge stellt worden ist. Daß die Einigung Deutschlands durch Blut und Eisen kein Originalgedanke des Fürsten Bismarck, sondern ihm durch die wieder holten fortschrittlichen Schützen-, Turner- und Sängerfeste eingcblasen war, ihm selbst aber kein anderes Verdienst dabei zufallt, als daß er an das von der Fortschrittspartei sorgsältigst vorbereitete Einigungswerk noch gerade die letzte Hand anlegte, das ist für den richtigen Fortschrittsmann nach gerade zum Dogma geworden. In gleicher Weise hat sich die weite Vor aussicht und kluge Berechnung der Fortschrittspartei bei allen politischen Fragen bis in die neuste Zeit gezeigt. Die Idee einer Steuerreform und des damit verbundenen thcilweisen Klassensteuer-Erlasfes, wie die Regierung denselben vorschlug, war ja in den Augen der Fortschrittspartei natürlich eine ganz verfehlte und wurde von den Führern wie in ihrer Presse auf das Heiligste als gänzlich umnotivirtes und dilettantenhaftes Projekt an gegriffen. Daß aber jetzt nach thatsächlich eingctretenem Erlasse jeder Fort schrittsredner seinen gläubigen Zuhörern versichert, daß nur durch das mann hafte Auftreten der Opposition der Regierung dieser Steuererlaß abgerungen sei, das versteht sich von selbst. — Die Samoa-Vorlage der Regierung war den Fortschrittsblättern zufolge geradezu lächerlich. Was hat Deutschland in der Südsee zu suchen? Und welcher Triumph endlich, als es gelang, die Vorlage zu Fall zu bringen! —- Nachdem man nun später gewahr geworden, daß die Stimmung in den weitesten Kreisen im Lande dem Plane doch günstig war, nachdem man aus den ausländischen Blättern entnommen, daß man sich dort über das ablehnende Neichstagsvotum wunderte, da ertheilen jetzt dieselben fortschrittlichen Blätter der Regierung die wohl meinende Mahnung, ihrer Pflichten eingedenk, endlich den Weg der Kolonial politik zu beschreiten, den man doch fortschrittlicherseits schon so oft und dringend angerathen. — Als der Fürst Bismarck der sozialen Frage näher trat, als er erklärte, daß die Gesetzgebung nicht nur dazu da sei, Aus schreitungen zu züchtigen, sondern denselben durch weise Maßregeln vorzu beugen und berechtigten Ansprüchen zu genügen, als er die Mängel der gegenwärtigen Armenpflege, die Schäden in der Berliner Kommunal verwaltung mit fester Hand und sicherem Griff auideckte, hei, wie summten und brummten da die Fortschritts-Wespen, in deren Nest er gegriffen, daß es eine Lust war! — Staatssozialistisch! Revolutionär! Das waren noch die mildesten Urtheile über das Vorgehen des Fürsten, die man in der Fortschrittspresfe zu lesen und von den Parteiführern zu hören bekam. Als sich's aber nun ergab, daß das Wort des Fürsten im Lande gezündet hatte, wie der Funke im Pulverfaß, als es sich nicht todtschweigen ließ, daß eine mächtige sympathische Bewegung im Volke den Bestrebungen des Kanzlers entgegenkam, da schrieb diese selbige Fortschrittspresse, die bisher Alles in der Armenpflege und der Berliner Stadtverwaltung tadellos und Wunderschön gefunden hatte, mit hohem Pathos: „Die Frage einer besseren