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DAPIERVERARBEITUNG ■ Buch gewerbee^ Berliner Typographische Gesellschaft Hntiqua gegen Fraktur Im großen Saal des Papierhauses versammelte sich am 21. Fe bruar auf Einladung der Berliner Typographischen Gesellschaft eine große Zahl von Gelehrten, Künstlern, Schulmännern und Fach leuten, um über die dem Reichstage vorliegende Petition des Vereins für Altschrift zu beraten. Außer dem Berichterstatter vor der Kommission des Reichstages, Prof. Dr. Stengel, M. d. R., waren die Hauptvertreter der verschiedenen Ansichten erschienen, so daß der Vorsitzende der Typographischen Gesellschaft, welcher die Versammlung um 9 Uhr eröffnete, eine lange Rednerliste verlesen konnte. Er bat die Herren, welche zu sprechen wünschten, sich in Rücksicht auf die geringe verfügbare Zeit möglichst zu beschränken. Herr Erler erläuterte nochmals den gegenwärtigen Stand der An gelegenheit, und dann berichtete Prof. Dr. Stengel, M. d. R., über die Petition des Vereins für Altschrift an den Deutschen Reichstag. Er führte etwa folgendes aus: Die Petitionskommission empfiehlt dem Reichstag folgende beiden Beschlüsse: 1. Die allgemeine Zulassung derAltschrift, vor allem der Hand schriftform, im amtlichen Verkehr der Reichsbehörden zu erwirken. 2. Ein gleiches Vorgehen sämtlicher Bundesregierungen herbeizufiihren, sowie auch zu veranlassen, daß allgemein der erste Schreibleseunterricht in den Volksschulen mit der leichteren Altschrift beginne, der Unterricht in der schwereren Bruchschrift (Fraktur) dagegen auf die späteren Schuljahre verschoben und möglichst bald auf das Lesenlernen beschränkt werde. Redner zeigte der Versammlung ein dickes Buch mit vielen Tausenden von Unterschriften deutscher Lehrer, welche diese beiden Forderungen unterstützen. Er weist darauf hin, daß die Kinder der Volksschule bisher gezwungen sind, acht Alphabete im ersten Schuljahr zu erlernen und bemerkt, daß bei Vergleichung der Hand schriften von Schülern sich auf der Brüsseler Weltausstellung ge zeigt habe, daß die Handschriften deutscher Kinder im Durchschnitt schlechter seien als die aus den Ländern, in denen nur die lateinische Schrift gelehrt wird. Die Petitionskommission will mit beiden Forde rungen eine allgemeine Schriftreform anbahnen, ohne jedoch irgend einen Zwang auszuüben. Die Begründung der Kommission umfaßt etwa 70 Seiten, von denen der Berichterstatter nur einige anführt. Beide Forderungen werden aber nicht nur ihrer eigenen Be rechtigung halber erhoben, sie wollen vielmehr gleichzeitig eine prinzipielle Schriftreform anbahnen. Diese Schriftreform läuft auf die allmähliche — keineswegs aber zwangsweise — Verdrängung der Fraktur, der geschriebenen sowohl wie der gedruckten, aus dem alltäglichen Gebrauch hinaus. Dagegen wenden sich die Anhänger der Fraktur mit großer Lebhaftigkeit und sprechen von Lateinschriftzwang, von Ausrottung der deutschen Schrift usw. Ob und wieweit die Fraktur als deutsche Schrift angesprochen werden kann, ist eine wissenschaftliche Frage. Wissenschaftlich steht fest, daß die Fraktur erst im späteren Mittelalter aus der spät lateinischen Schrift sich entwickelt hat. Zuerst sogar in Frankreich, nicht in Deutschland. Die Franzosen im 16. Jahrhundert bezeichneten sie ebenso als französische, wie wir sie noch heute deutsche Schrift nennen. Wir sind die letzte Nation, welche sie beibehält. Die Alt schrift dagegen ist karolingischen, also deutschen Ursprungs, und in den 60er Jahren des 15. Jahrhunderts haben deutsche Drucker in Deutschland und in Italien zuerst runde Typen verwendet. Seit Leibniz datieren die Bestrebungen auch für Werke in deutscher Sprache, diese Typen zu verwenden und als Schreibschrift die spitze Kurrent durch die runde Kursiv zu ersetzen. 1797 verfaßte der preußische Kabinettsminister von Alvensleben ein ausführliches Memoire, in welcher er diese Reform warm befürwortete und Biester, der dieses Memoire 1798 in den Berlinischen Blättern veröffentlichte, bemerkte dazu: „Jeder denkende Patriot muß sich freuen, daß die Sache auf solche Weise in Anregung gebracht ist." Der Begründer deutscher Sprachwissenschaft Jakob Grimm schrieb von Mitte der 20er Jahre des v. Jahrhunderts an ausschließlich Altschrift, die amtliche Ortographischc Konferenz von 1876 sprach sich mit 12 gegen 4 Stimmen für allmählichen Uebergang zu ihr aus. I Es fragt sich also nur, ob es auch noch heute zweckmäßig ist, diesen Vorschlag in die Tat umzusetzen. Das bejaht der Altschrift- verein, und deshalb stellte er zur Anbahnung der Reform seine beiden recht bescheidenen und die spätere Entwicklung noch durchaus nicht festlegenden Forderungen. Als Zweckmäßigkeitsgründe kommen für ihn insbesondere pädagogische, hygienische, wirtschaftliche und nicht zum mindesten auch nationale in Betracht. Die Altschrift ist deutlicher, Augenärzte führen die Kurzsichtigkeit der Deutschen auf die Fraktur zurück. Die Erhaltung und Ausbreitung der deut schen Sprache, der Weltverkehr Deutschlands erheischen den Ueber gang zur Weltschrift. Die zweierlei Schriftgattungen nötigen die Druckereien zu doppeltem Typenvorrat. Auch die Bedenken von künstlerischer Seite sind hinfällig. Um den unerschöpflichen und für unsere Zeit noch ganz ungehobenen Formenreichtum der deutschen Schrift zu sichern, brauchen wir nicht, wie Rudolf Koch verlangt, der gewöhnlichen Fraktur den breitesten Raum in unserem Schriftwesen dauernd einzuräumen. Im Akzidenz- und Kunstdruck werden die verschiedenen neueren Abarten der Fraktur, die sich übrigens alle der Antiqua annähern, in der ganzen Welt verwendet. In England besonders werden der artige Zierschriften reichlich verwendet. Mir liegt auch ein der artiges Zirkular aus Italien vor. Die Beseitigung der Fraktur aus dem ersten Schulunterricht würde auch in hohem Grade die Erhaltung der deutschen Sprache im Auslände unterstützen. Kinder deutscher Auswanderer, welche die Volksschule besuchen, lernen dort keine Fraktur und können daher nur schwer in Fraktur gedruckte Bücher lesen. Jedenfalls ziehen sie die fremdsprachlichen Bücher, schon der ihnen verständ licheren Schrift wegen, vor, und lernen so ganz unmerklich Charakter und Ideenkreis der Fremdsprache, während das Deutsch in den Hintergrund gedrängt wird, und häufig schon in der zweiten Gene ration verschwunden ist. • Auch für die Missionen in unseren Kolonien bedeutete es eine Erleichterung ihrer Arbeit, wenn sie keine Fraktur schrift mehr lehren brauchen. Die Fraktur ist aber gar keine deutsche Schrift, da die kleinen Buchstaben erst in nachrömischer Zeit entstanden sind, aus denen wiederum die Schrift hervorging, die zuerst die unter dem Namen Karolingisch bekannte Form annahm. Erst allmählich entwickelte sich die gotische Bruchschrift, die im Mittelalter von allen Völkern mit lateinischer Bildung geschrieben wurde. Aber sie wurde nach und nach überall zugunsten der Antiquaschrift wieder aufgegeben. Die Südeuropäer, Italiener und Spanier, machten hiermit den An fang, im 16. Jahrhundert folgten die Franzosen, im 17. Jahrhundert die Engländer, im 18. Jahrhundert die Polen und Schweden und im 19. Jahrhundert Dänemark und Norwegen. Der Widerstand gegen alleinige Benutzung der Antiqua fand seine Hauptstütze im Fürsten Bismarck, der auf Grund falscher Anleitung in seiner Jugend sein Lebenlang der Meinung war, die Fraktur bilde eine den Deutschen charakteristische Schrift. Lebhafter Beifall folgte dem Redner, und Herr Hochschul professor Dr. Friedrich Seesselberg bemerkte als zweiter Redner, daß die Frage nach der Ausschaltung der Fraktur in Druck und Schrift möglichst ruhig und sachlich überlegt werden müsse. Dann sagte er etwa folgendes: Ich halte es hierin mit Nietzsche, wenn er sagt: „Alles, was noch nicht leben und nicht vorwärts kann, das soll man noch selbst mit umstoßen helfen, damit die weitere Entwicke lung nicht aufgehalten wird.” Es schweben mir dabei auch die alten Volkstrachten als Beispiel vor, die es in manchen Gegenden noch gibt, die aber auf die Dauer nicht zu halten sind und nur zivilisatorische Rückständigkeit bezeugen. Mit bloßer Antiquarienfreude kommt kein Volk vorwärts. Als ich die bestechend klingenden Argumente der Lateinschrift- Förderer las, war ich geneigt, auch diese Schriftfrage von dem gleichen Gesichtswinkel aus zu betrachten. Ich habe aber bei diesem Anlaß näher über die Lage nachgedacht und bin zu der Gewißheit gelangt, daß wir gar nichts Fataleres tun könnten, als uns des überaus wert vollen Besitzes zu entäußern. Ich habe seitdem auch das stoffreiche Buch Adolf Reineckes über „Die deutsche Buchstabenschrift” gelesen und mich überzeugt, welch gewichtigen Empfehlungen psychologischer Natur der deutschen Fraktur zur Seite stehen. Hier schaltet sogar jede Parteistellung völlig aus, denn hier stehen für jeden einzelnen andere — ideale oder wirtschaftliche Interessen auf dem Spiele. Es ist überdies unwiderleglich erwiesen, daß das Ausland unsere Fraktur sehr gut liest und sie bei Inschriften, welche stark wirken sollen, sogar bevorzugt. Eine Unzahl von Zeitungen der ganzen Welt, nicht nur in den nordischen Ländern, wie England, Schweden, Norwegen und Dänemark, sondern auch in Frankreich, Italien, Spanien, Portugal, Brasilien haben Kopftitel in deutscher Fraktur (soll wohl heißen „gotischer Schrift”. Schriftleitung). Wie seltsam wäre es nun, wenn man in Deutschland selbst, in dem Lande der ältesten Buchdruckerkunst, gegen die überall anerkannte Schrift vorgehen wollte! Weit erheblicher noch kommt die künstlerische und die psycho logische Seite der Angelegenheit in Betracht. Die lateinische Schrift ist kalt und unpersönlich und alle Versuche, ihr eine seelisch höhere Ausdrucksfähigkeit zu geben, sind gescheitert. Die deutsche Fraktur aber hat unbegrenzte psychische Beweglichkeit, sie ist, je nach Wahl