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2970 PAPIER-ZEITUNG Nr. 79 25 Jahre Reichs-Unfall- und Invalidenversicherung Ein Fest, das in der Unternehmerschaft Deutschlands das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit wecken muß, wurde am i. Oktober anläßlich des 25jährigen Bestehens der Reichsunfallversicherung und mit ihr der Berufsgenossen schaften im Reichstag zu Berlin begangen. Es erhielt be sondere Weihe durch Enthüllung eines Denkmals für Bödikei, den ausgezeichneten ersten Präsidenten des Reichs versicherungsamtes. Unsere sozialpolitische Gesetzgebung ist ein Feld für Versuche geworden und hat viele Wandlungen erlebt. Be sonders an der Krankenversicherung ist viel geändert worden, und auch jetzt, bei Beratung der Reichsversiche- rungsordnung, ist man sich einig darüber, daß die Kranken versicherung am dringendsten der Reform bedarf. Dagegen hat sich die Unfallversiche rung durchaus bewährt, und in den 25 Jahren ihres Be stehens haben die Berufs genossenschaften den An sprüchen und Erwartungen genügt, die der Gesetzgeber und die Wissenschaft an sie geknüpft hatten. Sie haben sich von politischer Betäti gung ferngehalten, ruhig und sachlich ihre Pflicht erfüllt und im Bewußtsein ihrer Pflichterfüllung bis vor wenigen Jahren auf die vielen Angriffe geschwiegen, die seitens der sozialdemo kratischen Gewerkschaften auf sie unternommen wurden. Erst als diese Angriffe in dem ersten Entwurf der Reichsversicherungsordnung zur Beschneidung des Selbst verwaltungsrechts der Be rufsgenossenschaften zu füh ren drohten, erschienen auch die Berufsgenossenschaften auf dem Plan und haben bis jetzt solche Beschneidung zu verhindern gewußt. Die Selbstverwaltung der Berufs genossenschaften hat sich bewährt, warum soll man also an deren Stelle eine andere Organisation setzen, von der man nicht weiß, ob sie sich bewährt? Wenn man die Tätigkeit der Berufsgenossenschaften richtig einschätzen und die Segnungen der Unfallver sicherungwürdigen will, dann muß man sich den Zustand vor Augen halten, der in Deutschland vor dem Inkrafttreten der Unfallversicherung herrschte. Es gab damals keine planmäßige Unfall fürsorge, sondern nur freiwillige Einrichtungen. Der Arbeiter hatte keinen gesetzlichen Anspruch auf den Bezug der Unterstützung. Das Reichshaftpflichtgesetz vom Jahre 1871 hatte zwar die früheren Zustände etwas verbessert, im allgemeinen blieb jedoch die Unfall fürsorge infolge der Mängel des Reichshaftpflicht gesetzes auf dem Papier. So sollte nach dem Reichshaft- pflichtgestz der Betriebsunternehmer bei Betriebsunfällen für den vollen Schaden haftbar gemacht werden, wenn der Verunglückte ein Verschulden des Betriebsbeamten nach weisen konnte. Dadurch nun, daß die Beweislast dem Ver unglückten aufgebürdet wurde, wurden die Segnungen des Gesetzes von vornherein vereitelt, denn die Beweismittel, die der Arbeiter bei dem von ihm zu führenden Beweis etwa in Händen und verfügbar gehabt hätte, wurden durch den Unglücksfall selbst häufig verwischt oder gar beseitigt. Dies führte zu zahlreichen Prozessen zwischen Arbeitern und Arbeitgebern. Der Arbeiter ging in den meisten Fällen darauf aus, einen Angestellten seines Arbeitgebers für den schuldigen Teil oder eine mangelhafte Betriebseinrichtung als Ursache des Unfalls hinzustellen. Der Unternehmer oder sein Vertreter wälzten aber in den meisten Fällen die Schuld auf die Unvorsichtigkeit und Ungeschicklichkeit des Arbeiters. Auch im Reichstag war man bei den da maligen Beratungen vielfach der Ansicht, daß der Arbeiter durch die erwähnte Beweislast gegenüber dem Unternehmer benachteiligt sei. Eine erste Kraft der damaligen Zeit hebt z. B. hervor, daß von 112 Haftpflichtprozessen, die er be arbeitet hatte, nur 17 mit Verurteilung der Unternehmer endeten, während 38 durch Vergleich und 67 durch Ab weisung erledigt wurden. Der Großindustrielle Baare, der in der damaligen Zeit einen Entwurf zu einem Unfallversicherungsgesetz ver öffentlichte, sagte in der Be gründung seines Entwurfes: »Anstatt die Gemüter zu beruhigen und sie mit ihrer Lage auszusöhnen, bewirkte das Haftpflichtgesetz Ver schärfung der oppositionellen Stellung des Arbeiters zum Arbeitgeber und zur bürger lichen Gesellschaft .... Das natürliche Rechtsgefühl muß verletzt werden, wenn ein ohne eigenes Verschulden ver unglückter Arbeiter deshalb der öffentlichen Unterstützung anheimfällt, weil es ein Mit arbeiter war,“der sein’Unglück verschuldete, -wogegen sein Kamerad, dessen ähnlicher Un fall einem Aufseher zur Last fiel, gesetzlichen Anspruch auf 200 M. jährliche Rente hat.« So setzten denn nach dem Inkrafttreten'des‘Reichs- haftpflichtgesctzes Reform vorschläge ein, die sich in der verschiedensten Richtung bewegten. Da erschien die Kaiserliche Botschaft vom 17. November 1881, in der die Grundlage für die Unfall versicherung, wie sielheute noch besteht, gezeichnet wurde. »In Form korpora tiver Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staat licher Förderung« sollte die Unfallversicherung verwirk licht werden. DieseSchöpfung des Fürsten Bismarck hat sich so bewährt, daßsie bis jetzt am wenigsten derReform bedurft hat. Im EReichstag hat es heftige Kämpfe Fge- kostet, bis man sich zum Ver sicherungszwang durchrang, der trotz aller Schattenseiten unsere Arbeiterversicherung groß gemacht hat. Auf dieser Grundlage haben sich die Berufsgenossen schaften allmählich zu Förderern des sozialen Friedens ent wickelt, die sich durch Angriffe, welche zahlreich auf sie niederhageln, in dieser Friedensarbeit nicht beirren lassen. Man denke an die Summe ehrenamtlicher Tätigkeit, die in den Berufsgenossenschaften geleistet worden ist und geleistet wird! ~F Der erste Präsident des Reichsversicherungsamtes Bödiker, dessen Bild diese Seite ziert, hat an der Wiege der Arbeiter versicherung gewissermaßen Pate gestanden. Er gab seiner Anerkennung über die Tätigkeit der Berufsgenossenschaften häufig Ausdruck. Kurz, nachdem er, der Hannoveraner, im Jahre 1867 in preußische Staatsdienste getreten war, wurde er vortragender Rat im Reichsamt des Innern und vertrat in dieser Eigenschaft die Regierung in der geschicktesten Weise im Reichstag bei der Reform der Gewerbeordnung- Schon damals offenbarte er sich als einer der Beamten, die nicht lediglich vom grünen Tisch aus die Welt betrachten, sondern in Berührung treten mit den Bevölkerungskreisen,