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2. Mage M Schönburger Tageblatt. 117. Sonntag, de« 23. Mai 1915. Dresdner Brief. «echdre« »erdet«» —e. Dresden, den 21. Mai 1915. Pfingsten steht vor der Tür. Pfingsten, das Fest der Schön heit in Natur und Geisteswelt. Aber düster und blutig ist Heuer sein Abglanz. Und doch, mit dem Schwerte schützen wir nur das Heiligste. Und wie Pfingsten das Frühlingsfest der Natur ist, der starke, endliche Ueberwinder winterlicher Trübsal, so erhoffen wir auch ein Frühlingsfest der Völker- bisreiung, den Sieg Deutschlands, der für die ganze Mensch heit ein Gewinn sein wird. In Blut und in Wut steht die ganze Welt am heurigen Pfingsten. Die furchtbaren Wunden, die der Krieg schon geschlagen, sie werden heilen und ver narben. Das ist die Hoffnung, die uns der Pfingstgeist in dieser Sturmzeit verleiht. Der berühmte ungarische Komponist Graf Gtza Zichy reist jetzt als Apostel der Willenskraft durch die deutschen Grvß- Mte. Dieser Tage war er auch in Dresden. Er hältVor- lrSge, die zugleich Trost und Rat sind. Er, der Einarmige, spricht zu Einarmigen und über Einarmige. Der Krieg hat vielen tapferen Männern Hand oder Arm abgerissen. Und jetzt, da sie mit Schrecken und Sorge, ihrer Arbeitskraft sich ieraubt wähnen, tritt Graf Zichy auf, um aus eigener Er sahrung zu beweisen, daß sie keinen Grund zur Verzweiflung haben. Den glücklichen Gesunden aber sagt er, wie sie den kriegSvcrletzten am besten helfen können. Nicht so sehr durch Geld, sondern durch Arbeit. Dieser einarmige Graf wirkt jetzt viel SegenreicheS. Seit 52 Jahren fehlt ihm der rechte Arm. Mit 16 Jah ren hat er ihn verloren. Bei einer Jagd, durch einen losge gangenen Schuß in den Oberarm. In seinen Erinnerungen „Aus meinem Leben", diesem fesselnden Bekenntnis eines Willensstärken, erzählt er davon, von seiner Verzweiflung, als er zuerst hilflos vor jeder täglichen Verrichtung stand, und von einem Brief an seinen Erzieher: »Lieber, guter Cfiky! Bin ich von heute in einem Jahre nicht imstande, alles, was die andern mit beiden Händen machen, mit einer Hand zu voll bringen, so schieße ich mir eine Kugel in den Kops!" Die Kugel blieb ungeschoren. Der junge Graf nahm, kaum daß die Wunde verheilt war, den Kampf mit dem Schicksal au Den Diener, der ihn ankleidcn sollte, jagte er aus dem Aim «er, verschloß die Tür und kleidete sich allein an. „Es dauerte drei Stunden, aber er gelang. Ich nahm die Tür klinke, Möbelstücke, meine Füße und Zähne zu Hilfe, um eS leisten zu können. Beim Speisen nahm ich kein Gericht, daS ich nicht zerteilen konnte, und heute schäle ich Aepfel, schneide die Nägel meiner Hand, kleide mich allein an, lenke ein Vier gespann und bin mit Schrot und Kugel ein wackrer Schütze, ich habe sogar etwas Klaoierspielen erlernt." Wenn man, wie wir jetzt, den Grafen Zichy aus dem Podium stehen sieht, eine hohe geschmeidige Gestalt, trotz der Silberhaare voll blühender Kraft, voll liebenswürdiger Heiter Kit, so glaubt man sofort an die wundervolle Macht deS Willens, der ihn körperlich unabhängig gemacht hat. Er warnt die Einarmigen, daS zu werden, was früher zumeist das LoS der Unglücklichen war: Drohnen der menschlichen Gesellschaft, nur angewiesen auf die Fürsorge der andern. Man wird für sie sorgen, aber das meiste und vor allem das schönste müssen sie selbst tun, indem sie lernen, in ihrem alten oder einem neuem Berufe tüchtig zu sein, auch ohne beide Arme. Die Intellektuellen brauchen gar nicht umzulernen; am Schreibtisch arbeiten kann man rasch erlernen, mit der linken Hand schreiben in vierzehn Tagen! Daß aber auch viele andere Berufe einhändig auSgeübt werden, bewies Graf Zichy an vielen Beispielen, die er durch Umfragen bei den zahlreichen Einarmigen Oesterreich Ungarns gewonnen hat. Monteure, Metallarbeiter, Photographen, Maler, Anstreicher, Gärtner, Maschinenbauer, Klempner, Tischler und Feldarbeiter find darunter, und manche haben es zu wahren Tausendkünstlern gebracht, wie Herr Meyer, der eine große Reihe von Hand werken und Künsten treibt, sein Haus sich selbst gebaut und mit Möbeln von eigner Hand auSgestattet hat und jetzt die Einarmigenschule in Laubegast leitet. Der Vortragende nennt ihn einen „Großmeister" der Einarmigen. Graf Zichy hat unsere Laubegaster Anstalt besucht und unter den Lichtbildern, die gezeigt wurden, sind auch solche aus ihren Räumen und eines, auf dem man ihn selbst inmitten der Einarmigen steht Die Forderung des Grafen Zichy besteht jdarin, daß di Einarmigen wieder nur von Einarmigen unterrichtet werden' Die haben die Erfahrung für sich, die Geduld, und vor ihnen werden die Schicksalsgenoffen keine Bedrücktheit empfinden, wie vor den schnelleren, geschickteren Zweiarmigen. Die Behörden sollen also, wenn fie Lehrer für diese KriegSverletzten suchen, sich vor allem an die älteren Einarmigen wenden. Graf Zichy warnt vor Maflenunterricht, denn hier kann nur dir Unter weisung jedes einzelnen nützen. Er warnt auch vor Berufs wechsel, wenn der frühere Beruf nur irgendwie beibehaltcn werden kann. Er warnt und mahnt mit schönen Worten: „Das Menschenherz ist kein hohler Zahn, der mit Gold plompicrt werden kann" — also nicht Geldunterstützung allein vermag zu helfen. „Die Einarmigkeit ist ein chronisches Leiden, dessen Symptome mit den Jahren immer mehr schwin den" — wieviel Mut können die Einarmigen daraus schöpfen! Und schließlich setzte sich Graf Zichy — er ist ein Schüler Liszts — an den Flügel und begann zu spielen: eine ungarische Rhapsodie, ein Lied von Mendelssohn, einen Wiener Walzer, schließlich, indem er die Anwesenden zum Mitstngen aufforderte, „Die Wacht am Rhein", „Deutschland, Deutschland über alles" und, als die Hymne verrauscht, den Rakoczymarsch. Graf Zichy riß mit seinem Spiel, das ver blüffend war und feurig, nichts anders, als das Spiel eines Die beiden Deserteure. Roman aus dem Seeleben. Von Heinz E'Monts. 9) (Fortsetzung.) Einmal wimmerte aus der grauen Dunstmasse heraus eine Trompete, schwach und kläglich wie das Geschrei eines verlassenen Kindes und wenige Minuten später glitt ^ein Segelschiff vorüber; undeutlich, ver schwommen, gespensterhaft. Man sah die Köpfe der Mannschaft hinter dem Schanzkleid austauchen; einer ließ einen Jodler erschallen und schwenkte die Mütze. Dann hatte es der Nebel verschlungen. Schließlich aber triumphierte das Gestirn des Tages. Doch ein anderer schlimmer Gast stellte sich ein. Das war des gewaltigen Neptun unerbittlicher, all gegenwärtiger Zöllner. Dort, wo das Meer tief einschneidet in das feste Land von Frankreich und den Golf von Biskaya bildet, dort lag er gerade und hielt scharfen Auslug. Da bemerkte er das wohlbesetzte Schiff und fuhr an Bord mit schäumenden Rossen und forderte den seinem Herrn schuldigen Tribut von allen Unbefahrenen. War das ein Jammern. Das Deck der „Bremen" glich einem Hospitalgarten und allenthalben lagen die Seekranken umher. Wie sahen da die Seeleute stolz und mannhaft drein. Als wollten sie sagen: Seht, uns tut es nichts, das Meer. Es ist uns längst eine Freundin, eine Ver traute geworden. Die „Bremen" aber fuhr weiter, unbekümmert um Wind und Wellen, und den wenigsten wurde klar, wie weit sie eigentlich schon von zu Hause fern seien. Bald nachdem man in das Mittelländische Meer eingefahren war, begannen endlich die von den Un- defahrenen mit Sehnsucht erwarteten Wunder sich zu «füllen. Kein Lüftchen kräuselte die kristallklare und in un endlicher Bläue prangende Flut; sie lag da, glatt und glänzend wie geschmolzenes Blei. Fliegende Fische icynellten ihre schillernden Leiber aus dem Wasser ; man sah sogar die kleinen Wellenkreise, die ihr Niederfallen verursachte. Tage und Nächte reihten sich aneinander, wie die Perlen eines Halsbandes; eine immer schöner wie die andere. Einmal hatte man in Neapel angelegt, um Kohlen zu empfangen. Da wurden auch Briefe verteilt aus der fernen Heimat. Es kostete den Wachtmeistersmaaten mitunter Mühe, die oft mit großen Buchstaben, wie von ungelenker Kinder hand geschriebenen Adressen zu entziffern. Sind die Lieben in der Heimat, die den Matrosen schreiben, doch meistens keine großen „Schriftgelehrten". Aber wenn es mit den Adressen gar zu sehr hapert, läßt man aus dem Rest einen jeden sich seinen Brief heraussuchen. Die Augen der Liebe sind scharf und meist ist die er sehnte Botschaft bald gefunden. Schürmer hatte nur ein Lebenszeichen erhalten. Eine Bierkarte von Waßmann, die ihm dessen ander weitige Kommandierung anzeigte. Antjen schrieb keine Zeile. Dessen wunderte Jochen sich außerordentlich. Sie hatte ihn doch sonst immer auf dem laufenden erhalten. Ob wohl gar etwas passiert war? Weiter ging die Fahrt. Himmelhoch und silberhell stand der Aetna gegen das tiefblaue Firmament, als man die Straße von Messina passierte. Den noch schneegekrönten Leib mit trotziger Wucht in den Aether reckend, über die niedrigen Vorberge emporragend wie ein König über seine Vasallen, die ihm in lachender Verehrung die Schleppe des weißen Mantels tragen, so stand er da, im Sonnenglanz ge badet, umwogt von blitzenden Funkengarben, und schaute mit hoheitsoollem Gruß auf die Welt zu seinen Füßen. Eines Vormittags, als die Sonne breit und behag lich über den Fluten lag, tauchte am Horizont ein Haufen Häuser auf; bald unterschied man auch einen ragenden Leuchtturm und das hohe Standbild eines Mannes, von dem man die neugierig Fragenden be lehrte, er sei der Erbauer des hier beginnenden Suez kanals. Man war in Port Said. Nach*kurzem Aufenthalt drang man in die lange Rinne des Kanals ein. Wie eine unübersehbare silberne Röhre erstreckte die sich vom hohen Bootsdeck aus vor den Augen der Schauenden. Darinnen fuhr man hin und der Gesichtskreis war statt des gewohnten durchsichtigen Blaus die schmutzig gelbe Wüste. An einer Fähre traf man eine Karawane, die im Begriff war, über den Kanal zu setzen und die auf der uralten Heerstraße zog, auf der schon die Kinder Israels von Kanaan nach Aegypten gekommen, um Getreide zu kaufen, als dessen Gold im eigenen Lande rar war. Da staunten selbst unter den Seeleuten viele, die das alles noch nicht geschaut. Nach zwei Tagen erst erreichte man das Rote Meer. Die Durchfahrt geht sonst schneller, ließ sich Schürmer erzählen, aber man mußte so oft Halt machen, um auf den Ausweichestationen einen Postdampfer durchzulassen. Das Rote Meer. Es war allen, als durchblätterten sie das Alte Testa ment. Und ganz anders war es dorten, als bisher. Ein glühender Backofen, in dem sich kein Lüftchen regte, und wo der Qualm der beiden gewaltigen Schorn steine senkrecht aufstieg in die brütende Glut, einen wahren Regen von Asche erzeugend. Mehrere Feuerleute waren bereits im Heizraum „schlapp" geworden. Sie lagen dann stundenlang an Deck unter einem Segel, bis sie sich wieder einigermaßen erholt hatten. Dann mußten sie wieder hinab in diese Hölle. Es kam nicht selten vor auf diesen Reisen, daß von der Hitze und den ungewohnten Strapazen halb wahnsinnig gewordene Feuerleute, besonders solche, die zum erstenmal hinausgefahren waren, freiwillig den Tod suchten. Erst vor einigen Monaten hatte einer, der im Stock raum mehrfach zusammengesunken war, seinem Dasein ein Ende bereitet. Ein Sprung hinein in die blauende Pracht rundum machte ihn mit einemmal zum „Herrn der Situation." Paul Binder, ein schon älterer Matrose der Be satzung, hatte Schürmer das Vorkommnis erzählt. (Fortsetzung folgt.)