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z» »«IM dl! 0.M», e» o-d«,rv M 18. Fortsetzung Es zwitschert ganz fürchterlich, es quietscht und schnarcht, und Gisela ist unzufrieden. „Hör doch auf da mit", sagt sie. Aber dann kommt plötzlich Kopenhagen mit einem herrlichen Slowfox, und das wäre doch endlich etwas, aber der Bengel mutz unbedingt weiter drehen, und schon geht das Gewinsel wieder los. Sinfoniefetzen aus Warschau, italienischer Sprachkursus vom Rigaer Sender haut durch, ein Tango aus Königsberg, Flöten und Zwitschern, internationaler Krach, Männerstimme, klar und deutlich, russisch. „Moskau", sagi Heinz stolz. Gut zu hören, doch weder Heinz noch Gisela verstehen ein Wort. „Hole doch wieder Kopenhagen", sagt das Mädchen, und in diesem Augenblick heiß« es laut und klar: Katajew, der Name Katajew. Towarischtsch Katajew. Alle beide haben sie es gehört, klar gehört. Die Männerstimme spricht weiter, dann antwortet eine andere, Stimmengewirr, Zwitschern, Krach, wieder Katajew, wieder dieser Name! Gisela ist aufgestanden, tritt auf den Apparat zu. „Hast du es gehört, Heinz?" Heinz nickt, sitzt breitbeinig da, starrt in den Kasten. Die Stimme spricht weiter, nichts können sie verstehen, es ist zum Verzweifeln, nur einmal ein Wort: „Prokuror", hieß es eben. „Prokuror heitzt Staatsanwalt", sagt Gisela flüsternd. Heinz sieht zur Schwester auf. „Ein Prozeß, Gisa, das machen sie in Moskau öfter, daß sie Gerichtsverhand lungen übertragen, ein Prozeß gegen Katajew! Gisa, was mag das für ein Prozeß sein? Was hat er ausgefressen, der Kerl?" Sie sitzen noch eine ganze Weile so da, sie sehen immer zu in den Apparat, sie verstehen kein Wort, aber sie kön nen sich nicht losreißen. Gisela hat sich ein Blatt Papier geholt und eine Blei feder, sie versucht, Worte, die besonders deutlich klingen, aufzuschreiben. Halsbrandt kann russisch, er wird ihr vielleicht sagen können, worum es dort in Moskau geht, wenn man ihm ein paar Stichworte gibt. Die Ausbeute ist aber recht gering, nur selten hebt sich ein ganz klar aus- gesprochenes Wort aus der gebundenen Rede heraus. „Fal- sifikazija dokumentow" heißt es einmal, und gleich darauf sehr deutlich „Prewyschenije wlasti". Diese Worte schreibt Gisela auf, und noch ein paar andere, welche sie meint deutlich gehört zu haben. Dann erklärt eine andere Stimme mit besonderer Betonung: „Sasedanije okon- tscheno". Stimmengewirr, die Internationale ertönt, dann verliest eine unendlich monotone Stimme lange Reihen von Zahlen. Es nimmt kein Ende, und es hat anscheinend auch nichts mehr mit dem Genossen Katajew zu tun. Heinz stellt den Apparat ab, nimmt den Zettel und steht auf. „Gib mir, bitte, zehn Centimes, Gisa", sagt er aufgeregt, „ich will Halsbrandt anrufen!" Gisela sieht auf die Uhr. „Fast neun Uhr, ein bißchen spät, Heini, nun, versuch's mal!" In fünf Minuten ist der Junge mit seinen langen Beinen die Treppe hinunter und wieder herauf. Keuchend legi er den Zettel auf den Tisch. „Halsbrandt hat sich nicht schlecht gewundert! Also daS hier heißt Dokumen tenfälschung, und das zweite bedeutet Amtsmißbrauch,. und dieses hier: Sasedanije okontscheno, heißt: die Sitzung ist geschlossen! Ein Prozeß gegen Katajew wegen Doku mentenfälschung und Mißbrauch im Amt, jetzt wissen wir es also!" Gisela ist etwas enttäuscht, ernüchtert. Katajew hat also Amtsmißbrauch getrieben, er hat hier Verhandlungen mit ausländischen Firmen, Kapitalisten zu führen gehabt, er hat dabei Wohl auch an die eigene Tasche gedacht, das wird es gewesen sein, und mit der Irina Tscharskaja hat das alles gar nichts zu tun! Sie ist und bleibt verschwun den, und Seebach sitzt in Berlin im Gefängnis unter Mordverdacht! „Heini", sagt Gisela in einem plötzlichen Impuls, .^vollen wir Seebach einen Brief schreiben?" Er ist sofort dabei, der Junge, holt Tinte und Papier. „Kriegt er ihn aber auch, Gisa?" „Bestimmt, Heini, wir adressieren ihn in das Unter suchungsgefängnis Moabit! Schreib du ihm aber lieber!" Heinz macht sich an die Arbeit, und es wird ein merk würdiges Schreiben, das er da fabriziert, denn alle Augen blicke sagt er: „Sag doch, Gisa was ich schreiben soll!" Und Gisela sagt es ihm, dann schreibt der Junge weiter, schreibt es auf seine Art, mit seinen Ausdrücken, was die Schwester vorschlägt. Und fügt auch noch einiges andere von sich aus hinzu, zum Beispiel, daß seine Schwester sich nun der Sache angenommen habe, und wenn Gisela etwas anpackt, dann sollte es mit dem Teufel zugehen, wenn es nicht gelänge. Und daß Gisela überhaupt von nichts an derem mehr spräche, als nur noch von ihm und seiner An gelegenheit. Gisela überliest den Brief, und sie möchte zuerst einiges darin streichen, aber dann läßt sie es doch stehen, denn der Zweck dieses Briefes ist ja, Seebach das Genick zu steifen, ihm zu sagen, daß er nicht verlassen ist, daß er Freunde hat, die nicht eher rasten werden, bis sie ihm geholfen haben. Am übernächsten Tage hält Seebach diesen Brief in Händen, und eine wunderbare Ruhe überkommt ihn. Er sieht die Geschwister Schilling vor sich, das Mädchen und den Knaben, ihr wlrres, blondes Haar, die blauen, klaren Augen, er meint Giselas Händedruck zu verspüren, so wie damals, als er ihr zum erstenmal in Halsbrandts Büro gegenübergestanden hat, und er hat dasselbe Gefühl wie Heinz, daß gut aufgehoben ist. was diese kleinen Hände angepackt haben! Sein Rechtsbeistand, Dr. Heyl, und Herr Horn und Herr Kühnemann, sie alle werden ihr möglichstes tun, u« ihn aus seiner unerträglichen Lage zu befreien, es ist ihr Beruf, sie werden dafür bezahlt, aber Gisela und Heinz — bei ihnen spricht das Gefühl, das Herz, und dieses ist im mer noch der stärkste Motor, kann Unmögliches möglich machen... * * Um dieselbe Zeit, als Seebach den Brief der Ge schwister in Händen hält, sitzen diese mit Herrn Kühne mann wieder im Sprechzimmer des Chefs der Rigaer Kriminalpolizei, welcher soeben ein Ferngespräch nach Moskau angemeldet hat. Am Vortage ist Herr Vigrabs ausschließlich mit der Aufklärung des Raubmordes fn Dünamünde beschäftigt gewesen, jetzt hat auch er sich dieser Angelegenheit wieder angenommen, und die ihm gemelde- len Tatsachen über die Radioübertragung des Moskauer Prozesses gegen den Genossen Katajew haben sein stärkster Interesse gefunden. Es ist für die lettländische Oeffentlichkeit durchaus von Wichtigkeit, zu erfahren, wessen der frühere russische Han delsvertreter in Lettland beschuldigt wird. Herr VigrabS will daher die schriftliche Beantwortung seines Briefes gar nicht erst abwarten und sich möglichst gleich Gewißheii verschaffen. Die Erwartungen, welche Gisela und Herr Kühne mann an dieses Ferngespräch knüpfen, sind allerdings recht gering. Eine Korruptionsgeschichte dürfte hier zutag. treten, wie sie bei den Sowjets an der Tagesordnung sind und es wäre ihnen viel lieber gewesen, wenn Herr Kala jew in baldiger Zeit wieder in Riga gewesen wäre uni ihnen möglichst erschöpfende Auskünfte über Irina Tschar skaja hätte geben können! Nach einer knappen halben Stunde kommt Moskau; der lettische Generalkonsul, ein persönlicher Freund der Herrn Vigrabs, ist selbst am Apparat. Jawohl, er ha» den B-ief fo»n»« erhalten, nun. Genossen Katajew habe man vorgestern verurteilt, zeh, Jahre Solowki, das heißt Zwangsarbeit auf dieser schö nen Insel. Jawohl, es stimmt genau, wegen Mißbrauchs im Amt und Dokumentenfälschung. Worin denn eigent lich das Vergehen bestanden habe, fragt Vigrabs, ob viel leicht auch Lettländer in die Affäre hineingezogen seien? Der Konsul entgegnet, er würde Herrn Vigrabs gern die Presseberichte über den Prozeß zugehen lassen, telephonisch sei das ... nicht ganz ... jedenfalls Lettländer seien nicht in Mitleidenschaft gezogen, und es handele sich in de; Hauptsache darum, daß Katajew widerrechtlich einer ... Persönlichkeit die Möglichkeit zur Einreise nach Sowjet- rußland verschafft habe, und daraus habe sich eine sehr schlimme Affäre entwickelt, sehr schlimm für alle Teile ... aber er möchte wirklich nicht gern telephonisch ... gewiß, gern die Berichte gehen Herrn Vigrabs auf dem Luftwege als Kurierpost zu, morgen würde er sie in Händen haben, die Zeitungen haben ja ausführlich darüber berichtet, d. h. natürlich darüber, was ihnen erlaubt war ... Im Rund- funk? Ja, auch, allerdings nur die Schlußverhandlung, Plädoyer des Staatsanwalts und die Urteilsverkündung. Herr Vigrabs hat den Hörer in die Gabel gelegt, er entnimmt seinem silbernen Zigarettenetui eine Papyros klopft sie sorgfältig dagegen ab. „Sie werden Wahrschein lich schon aus meinen Antworten gehört haben, wie die Dinge mit Katajew stehen", wendet er sich an seine in höchster Spannung dasitzenden Besucher, „es heißt, er habe einer ... Persönlichkeit'rechtswidrig die Möglichkeit zur Einreise nach Rußland verschafft ... und daraus hätte sich dann eine für alle Teile sehr schlimme Affäre entwickelt; Bei uns waren in den letzten Tagen über ein vor einigen Wochen in Moskau stattgehabtes Attentat gegen einen hohen Sowjetfunktionär Gerüchte verbreitet ... möglicher weise steht dieses Attentat in einem Zusammenhang mi: dem jetzigen Prozeß, wobei es sich bei dem eigentlichen Täter nicht um Katajew gehandelt haben dürfte, da er jo sonst eine ganz andere Strafe erlitten hätte, sondern eben um diejenige Persönlichkeit, welcher Katajew widerrechtlich die Möglichkeit zur Einreise nach Moskau gegeben Hai! Hier wäre tatsächlich eine ... Möglichkeit ... eine Kom bination ..." Er denkt etwas nach, steht dann energisch auf. „Meine Herrschaften, was sollen wir uns den Kops zerbrechen! Morgen haben wir es schwarz auf weiß, bis dahin müssen wir uns schon noch gedulden!" Gisela und Kühnemann verabschieden sich vom Po- lizeichef, schweigend verlassen sie das Gebäude. „Fräulein Schilling", sagt der Detektiv draußen und hält Giselas Hand fest, „ich glaube, Sie haben damals, als Sie vor schlugen, den Herrn Katajew aufzusuchen und nach der Russin zu fragen, einen außergewöhnlichen kriminalisti schen Instinkt an den Tag gelegt! Mir scheint, die Ange- legenheit deS Herrn von Seebach ist geklärt, wir werden nicht weiter nach der Tscharskaja suchen müssen!" Gisela macht ein sehr ernstes Gesicht. „Ich hätte nur gehofft, daß dieses Geheimnis eine etwas .... harmlosere Aufklärung gefunden hätte, was glauben Sie denn, Herr Kühnemann, wie daS alles mit der Tscharskaja ... verlau fen ist?" Kühnemann zuckt die Achseln. „Morgen, Fräulein Schilling, morgen werden wir es genau wissen!" So müssen Gisela und Heinz diesen Tag noch in fast unerträglicher Spannung verbringen. Es hält sie nicht in der Stadt, sie fahren an die See hinaus, baden, liegen im Sande, doch nicht eine Minute verlassen sie die Gedanken an Seebach und all das Furchtbare, was dort in Moskau im Gange ist, das vielleicht schon sein tragisches Ende ge funden hat. Es ist ein heißer Juliabend, die Geschwister gehen die Etrandpromenade von Majorenhof entlang, Tausende von Menschen ergehen sich hier am Meeresufer, und vor eini gen Wochen sind auch Hjalmar Törrkinen und Irina hier entlanggegangen... Aus den CaföS und Tanzdielen tönt Musik, Gesprächs, fdtzen, Gelächter klingt aus den Strandkörben, und in einem von ihnen sitzt Herr Kühnemann aus Berlin mit der blonden Elvira und erzählt ihr von seinem genialen Einfall, den Genossen Katajew nach dem Verbleib der Tscharskaja zu befragen. Er hat heute nachmittag mit Berlin telephoniert und Herrn Horn vom Stande der Angelegenheit in KenntmS gesetzt. Ueber Dr. Heyl hat diese Nachricht auch Seebach m Moabit erreicht, und sie läßt ihn die Qual, diesen schwü- len Sommerabend unschuldig in einer Gefängniszelle zu verbringen zu müssen, leichter ertragen. Auf einem klei nen Dorffriedhof bei Stockholm ist heute ein Stein gesetzt worden, darauf steht der Name Hjalmar Törrkinen, und gegen Abend begießt eine sehr alte Frau die Blumen auf dem Grabhügel ihres einzigen Sohnes. In Moskau wird um diese Zeit ein Schub in Eisen gelegter Verbrecher zum Bahnhof transportiert, um nach den Solowki-Jnseln übergeführt zu werden? unter ihnen befindet sich Afanasij Petrowitsch Katajew. Das Schicksal hat sich eine Hand »oll Menschen herausgegriffen. Menschen, die einander noch vor kurzer Zett nicht kannten, nichts miteinander zu tun hatten. Es hat Fangball mit ihnen gespielt, hat Schuldige und Unschuldige leiden lassen, sie alle mitein- ander in ein Netz verstrickt, und einigen von ihnen ist es wicht mehr gelungen, sich daraus zu befreien. Während die Geschwister Schilling einen überhitzten, ßonnendurchglühten Eisenbahnwagen zur Rückfahrt in die Stadt besteigen, Herr Kühnemann Fräulein Elvira zum Tango in die Saalmitte de« Seepavillons geleitet, wäh- r«»v Nilowa von Seebach im Gefängnis zum hundertsten Male den Brief seiner jungen Rigaer Freunde überliest und Afanasij Katajew seine Fahrt zu den Solowki-Jnseln antritt, ist ein Agent der Moskauer GPU. mit der Sich tung einigen Materials beschäftigt. Bei diesem Material befindet sich ein kleines silbernes Kreuzchen, wie die Russen es um den nackten Hals zu tragen pflegen, sodann eine Summe deutschen Geldes, an- nähernd vierzigtausend Mark, und bei diesem Gelde befin- vet sich sonderbarerweise ein kleiner schmutziggrauer Zettel mit einigen Worten, die stark verwischt und daher kaum ;u entziffern sind. Endlich ist es dem Agenten gelungen, ven Tert festzustellen. Er lautet: Vergiß die Heimat nie! Räche deinen Vater! Petrograd, d. 4. November 1917. Der Agent vernichtet den Zettel, daS Geld zählt er nach, bündelt eS, verschließt es in dem Geldschrank. Das Kreuzchen wirst er achtlos in die Ecke beim Ofen, wo es ,m nächsten Morgen von der Aufwärterin gefunden wird, sie es an sich nimmt, wobei sie sich verstohlen bekreuzigt. Um diese Zeit etwa landet daS dreimotorige Flugzeug ser Deruluft, aus Moskau kommend, auf dem Rigaer Flughafen. Es hat zwei Passagiere an Bord, Engländer, sie rastlos auf die Sowjets schimpfen, und sehr viel Post, sinter der Post befindet sich ein an den Chef der Rigaer rriminalpolizet adressierter Umschlag der mehrere Zei- ungen enthält. So sehr auch die Lektüre dieser Zeitungen Herrn Vigrabs reizt, so muß er sie für den Augenblick doch wrückstellen, da ihm soeben ein Landgendarm aus dem Dünaburger Kreise, Verwaltungsbezirk Lettgallen, gemel- del worden ist, der eine wichtige Meldung zu erstatten hat. Der Gendarm betritt das Zimmer und meldet seinem Vorgesetzten, daß er auf Grund des neuerlich herausge gebenen Tagesbefehls des Chefs der Kriminalpolizei, Nachforschungen nach tn seinem Bezirk etwa vermißten oder abgängigen Personen weiblichen Geschlechts anzustel- len, die Feststellung gemach« habe, daß sei« etwa fünf Wochen die neunzehnjährige Tochter Ludmilla des Bauern Semjon Kalugin verschwunden wäre. Als der Gendarm den Vater des Mädchens zufällig nach seiner Tochter ge fragt habe, hätte der des Lesens und Schreibens unkundige Bauer erwidert, sie sei wohl tn die Düna gesprungen und ertrunken, wovon sie schon immer gefaselt hätte, denn sie sei reichlich verdreh« gewesen. Auf sein, des Gendarmen, Vorhalten, so ein Fall sei doch der Polizei zu melden, habe der Kalugin erwidert, er wisse nicht, daß eS so ein Gesetz gäbe, begreife auch nicht, wozu so ein Aufhebens davon gemacht werden solle. Er habe außer der Ludmilla noch dreizehn Kinder, sie sei zur Arbeit auch säst untauglich gewesen, weil sie vom Teufel besessen gewesen sei und Krämpfe gehabt habe. Der Gendarm ist erst fetzt durch den Tagesbefehl des Polizeichefs auf die bei Bullen ange schwemmte Leiche einer Frauensperson ausmerksam gewor- den, und er wollte eine dienstliche Reise tn die Hauptstadt dazu benutzen, um persönlich die Meldung in dieser wich- tigen Sache zu machen, da eS wahrscheinlich sei, daß die Leiche der jungen Bäuerin durcb die ganze Düna bis ins Meer getrieben sei und dort aufgefunden wäre. Fortsetzung solgt.