Volltext Seite (XML)
'Wissen und in sich selbst die schwersten, die unberechenbarsten Folgen haben kann. Ich meine den ärztlichen Stand. Wenn der Arzt nicht mehr an die Richtigkeit seiner Diagnose, an die Wirkung seiner Vorschriften glaubt, wenn in seiner Brust jene heilige Flamme erloschen ist, jener hehre Glaube an seine Mission, wenn er aufgehört hat, sich als den Retter der Menschheit zu betrachten, der den letzten Kampf gegen den schwarzen Engel des Todes auszufechten hat, — dann wehe seinen Kranken und wehe ihm selbst! Und doch ist es ihm leichter, als allen Anderen, den Glauben an sein Wissen zu verlieren; er ringt ja gegen das Schicksal, das unbeugsame, und welch' Wunder dann, daß er so oft sich als besiegt erkennen muß! Ich will erzählen, bei welcher Gelegenheit ich nach einer mehrjährigen und sehr glücklichen Praxis beinahe den Glauben an die Wissenschaft verloren hätte, mich selbst als einen Char- latan betrachtete und nahe daran war, eine andere Karriere zu ergreifen. — In der Stadt, in welcher ich prakticirte, wohnte eine Wittwc Strahlen, deren einziger Sohn Walter, wohl der liebenswürdigste Mensch war, den man sich nur irgend zu denken vermochte. Er konnte ein angehender Dreißiger sein, war von wunderbar ein nehmendem Aeußcrcn, ohne gerade ein schöner Mann zu sein, war fast auf jedem Felde des menschlichen Wissens bewandert, — sehr guter Musiker, geschickter Maler, aber vor allen Dingen dermaßen gefällig und theilnehmend gegen Jedcrman, daß ich nicht zu viek-behaupte, wenn ich sage, es gab wohl Niemand in der ganzen Stadt, der ihn nicht von ganzem Herzen Glück und Wohlergehen gewünscht hätte. Es fehlte ihm auch eigentlich nichts hierzu. Vermögend, gesund und angesehen, führten er und seine Mutter, die sich gegenseitig vergötterten, das glücklichste Leben, das man sich nur zu denken fähig war. Ich hatte ihn, ich weiß nicht warum, seit längerer Zeit nicht gesehen, als ich eines Morgens sehr eilig zur Frau Strahlen gerufen wurde. „Doktor-, rief sie bei meinem Eintritt, indem sie mit fieberhafter Hast meine beiden Hände ergriff, »Doktor, sehen Sie sich meinen Walter an, ich vergehe vor Angst! O mein Gott, mein Gott!" „Aberwas fehlt Ihrem Sohne denn?" fragte ich erstaunt, doch ruhig; denn wir müssen ja an solche Uebertreibungen der mütterlichen Anast gewöhnt sein. „Ich . . ich weiß nicht-, stotterte sie; „aber ich habe Furcht! o, mein Gott, ich habe Furcht!" Ich begriff wohl, daß ich aus der armen, geängstigten Frau keine vernünftige Antwort herausbekommen würde^ und schritt, ohne ihr zu antworten, gerade auf das mir bekannte Zimmer Walter-Strahlen's zu. .Herein!" rief eine matte Stimme auf mein Anklopfen. Der Ton dieser Stimme gefiel mir gar nicht! Aber wie ward mir erst, als ich eintrat und mein Blick auf den Kranken fiel, der mir, freundlich lächelnd, die Hand entgegenstreckte! Hat der Leser vielleicht schon von jener seltsamen Gesichts- muskelcrschlaffung gehört, die wir den hippokratischen Zug nennen? Man hat versucht, ihn wissenschaftlich zu deuten, aber es ist bei einer oberflächlichen Erklärung geblieben. — Man sieht, — oder vielmehr, gewisse Leute haben die Fähigkeit, bei einem Kranken, sa selbst bei einem noch nicht Erkrankten, den Aus druck der Leiche in seinem Gesichte, besonders an der Nasen wurzel, zu sehen. — Ich hatte vielfach davon sprechen hören, aber, ich muß aufrichtig gestehen, obgleich Professoren und Ge lehrte sich damit beschäftigt haben, war es mir bis dahin stets wie eine Art von medicinischem Aberglauben vorgekommen. — — Und jetzt sah ich wirklich ein Leichengesicht vor mir, wie ich deren schon so viele Hunderte gesehen hatte . . . aber mit Hellem, klaren Blick, mit freundlich lächelnden Lippen! Es war ein Anblick zum Entsetzen und ich wich einen Schritt zurück! „Wre geht es Ihnen, lieber Doctor, bekommt man Sie denn auch einmal zu sehen?" sagte Walter, indem er mit großer Erschöpfung sicb vom Sessel erhob und zu mir herankam. Ich bezwang meine Aufregung mit Gewalt und ging ihm entgegen. „Was fehlt Ihnen, Strahlen?" sagte ich mit so sicherer Stimme, wie es mir nur irgend möglich war; „Sie sehen ja sehr .... angegriffen aus; seit wann leiden sie denn?" „Wenn Sie mir all' die Fragen beantworten wollten, würden Sie mich sehr verbinden,- meinte er lächelnd, „denn seit Wochen stelle ich sie mir selbst und bleibe mir die Antwort schuldig!' „Seit Wochen — wie? Und Sie schicken erst heute zu mir?" ' „Hat sie dennoch geschickt, die gute Mutter?" sagte er, in- dem er leicht dhe Stirn furchte, „ich hatte es ihr doch verboten!" „So? Verboten? Nun, dann, lieber Strahlen, muß ich Sie fragen, was Sie weiter beschließen?" „Wie soll ich das verstehen, Doctor?" * „Wenn sie kein Vertrauen zu mir haben, so wählen Sie sich einen andern Arzt; aber im Namen unseren alten Freund schaft, in Ihrer Mutter Namen bitte, beschwöre ich Sie darum, lassen Sie einen Arzt rufen, denn — ich wiederhole es Ihnen — Sie sehen sehr angegriffen aus!" „Seien Sie doch nicht gleich beleidigt, Sie böser Mann! Ich wollte mich nur nicht von Ihnen auslachen lassen, deshalb hatte ich verboten, daß man sie rufe; ich hoffte von Tag zu Tag, daß mein Unwohlsein schwinden würde! Kommen Sie, seien Sie wieder gut! Da ist mein Puls . . . wollen Sie die Zunge auch?" Und bei diesen Worten zog er mich zu sich äuf's Kanapee nieder. — Ich kann dem Leser nicht beschreiben, welchen Ein druck dieser Mensch mit dem lachenden Munde und dem fatalen Zug im Gesichte auf mich machte. Ich glaube, ich muß eben so bleich wie er gewesen sein, denn nach einigen Augenblicken sagte er: „Sie brauchen sich übrigens auf ihr gesundes Mssehen auch nicht gar zu viel einzubilden, bester Freund; wenn Sic bei Ihren Patienten keine bessere Empfehlung hätten, als Ihr eigenes Gesicht, würden Sie bald keine Praxis'mehr haben!" Ich gebe dieses Gespräch fast wörtlich wieder, damit der Leser begreife, wie klar und hell der Geist Walter Strahlens war. Währenddessen hatte ich mich durch Walter's Puls über zeugt, daß nicht das geringste Fieber vorhanden sei, und durch seine Antworten, daß er nirgends einen Schmerz fühle, einen prächtigen Schlaf habe und noch einen besseren Appetit. Ich begann die Untersuchung seines ganzen Körpers; länger als eine Stunde auscultirte ich; — nichts, gar nichts! Alle Organe waren im besten Zustande, den man sich nur denken konnte. Ich wußte nicht, was ich mit diesem Kranken machen sollte. Nach meinem besten Wissen, nach all' meinen Erfahrungen hatte ich einen kerngesunden Mensch vor mir; aber man hätte ihn ansehen sollen! Selbst der Laie hätte die Ueberzeugung ge wonnen, daß er mit einem Fuße im Grabe stände. Was war da zu thun? Er sah mich lachend an, nachdem ich meine Untersuchung beendet, und meinte, daß es nicht im Geringsten amüsant sei, sich wie ein Stück Kattun hin und her wenden zu lassen. Ich sagte ihm ganz offen, daß meine Meinung über sein Unwohlsein sich noch nicht gebildet hätte und daß ich am nächsten Tage ihn noch einmal untersuchen müsse. Er lud mich zum Frühstück ein und ich konnte mich selbst überzeugen, daß Das, was er mir von seinem Appetit gesagt, _ seine vollkommene Richtigkeit hatte. Nach dem Frühstück, während welchem wir eifrig politisirten, rauchte er eine Cigarre, — die für mich zu schwer war. Den ganzen Tag über ging mir dieser Fall im Kopfe herum; ich konnte das wächserne Gesicht meines Freundes nicht aus meinem Geist verscheuchen. Ich schlug eine Masse von Büchern nach, sprach mit einem Kollegen, dem ich begegnete, über diesen Fall — kurz war dermaßen unter dem Einfluß jenes Eindrucks, daß ich zu allem andern- Denken unfähig war. ' Am nächsten Morgen wiederholte ich all meine Unter suchungen aufs skrupulöseste, — fand nichts, mußte jedoch konstanren, daß die Krankheit, die ich nicht kannte, in den