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Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 07.12.1884
- Erscheinungsdatum
- 1884-12-07
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512382794-188412077
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512382794-18841207
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-512382794-18841207
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote
-
Jahr
1884
-
Monat
1884-12
- Tag 1884-12-07
-
Monat
1884-12
-
Jahr
1884
- Titel
- Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 07.12.1884
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UuterbaltungS-'Blatt z«m ,,Shem»1tzer Anzeiger" Der Schlosser gehorchte. Moule legte mit höchster Vorsicht über die Fußspuren, welche er entdeckt, Planken, um sie zu schützen, und ließ den Schlosser auf einen Vorsprung hinauf klettern, um den dort au« die Aden zu öffnen. ES gelang mühelos und e» zeigten sich dl« Fenster offen. »Ich wußte e»," sagte Moule zum Kommissär. Im Juli, bei der Hitze, läßt man die Fenster offen — man begnügt sich, die Läden t» schließen und glaubt sich in Sicherheit. Die Gewohnheit hatte auch Mariette, wie Frau GroSlin unS soeben berichtet hat. Und er wußte e» auch, der Betreffende.« Danu wandte er sich an den Schlosser. »Schwingen Sie sich hinein und öffnen Sie uns.« Der Schlosser zog sich zum Fensterbrett empor, drang in- Hau» und »«schwand einen Augenblick. Plötzlich stieß er einen Schrei au- und kehrte leichenblaß zum Fenster zurück. »WaS giebt'S?« fragte der Kommissär. „Ein Leichnam, eine ermordete Frau!« stammelte der Schlosser. »Warten Sie, ich komme I« rief Moule. Und mit der Gewandt heit einer jungen Mannes drang er in das Haus auf demselben Wege, wie der Schlosser. Einige Schritte vom Fenster lag auf dem Flur links, dicht an der Küchenthür, eine Frau auf dem Boden, ganz in Blut gebadet. Moule trat zu ihr »Die Dienerin«, sagte er. „Die Herrin wird nicht fern sein.« Und während der Schlosser mit unsicherer Hand dem Kommissär «ud den Agenten zu öffnen versuchte, trat er in'S anstoßende Zimmer und durchschritt eS Im Speisesaal und dem Salon war keine Unordnung zu be merken; auch in einem daneben liegenden Gemach, das auf den Garten hinauSging, nichts Verdächtiges. Moule trat zurück und trat in daS Schlafzimmer. Vollkommene Dunkelheit erfüllte dasselbe; vorsichtig schritt er vorwärts. Da stieß plötzlich sein Fuß gegen ein widerstrebendes, weiche» Hinderniß, welches auf dem Fußboden ruhte. Er zuckte zusammen. Er wandte sich um, fand ein Fenster, öffnete die Vorhänge «ud . . . der Leichnam der Frau Dalissier lag vor seinen Füßen. 2. Kapitel. Der Thatbestand. Frau Dalissier war im Schlaf überrascht worden. Das Bett i« Hintergrund des Gemaches befand sich in Unordnung; die Kissen hingen mit Blutflächen befleckt herab. Aus der Erde zog sich eine »reite Blutspur vom Bett aus bis zum Körper des Opfers. Moule beugte sich nieder, prüfte ihn . . . er war kalt. Schnell kehrte er durch den Speisesaal auf den Flur zurück, w» inzwischen der Kommissär mit den Agenten eingedrungen war. Mehrere Neugierige waren gefolgt. »Run?« fragte der Kommissär. „Frau Dalissier ist da.« „Ermordet?« »Ja; eine Leiche. Und diese?« fügte Moule auf Mariette deutend, hinzu. »Nicht viel besser,« antwortete einer der Agenten. Der Inspektor nahte sich ihr. „Nicht doch!" rief er plötzlich. »Schnell einen Arzt « Mau eilte fort. Die beiden Agenten hoben mit Moule's Hilfe Mariette auf, trugen sie mit unendlicher Sorgfalt in ihr Zimmer und legten sie aus ihr Bett niedrr. Mehrere Frauen drängten sich an die Un glückliche heran. Während dieselben sie von dem Kleide, welches sie trug, befreiten, vernahm man ein klirrendes Geräusch, wie wenn ein harter Körper zu Boden fällt. »WaS war das?« fragte Moule, der für Alles Auge und Ohr hatte. »Wahrscheinlich ein Knopf, der abgerissen,« meinte der Agenten einer. Moule begnügte sich mit dieser Erklärung und forschte nicht weiter. AuS der Menge aufgrfangene Worte hatten ihn belehrt, daß Frau Dalissier einen Sohn besaß. »Wenn man den jungen Mann holen ließe?« sagte er zum Kommissär. »Gewiß,« entgegnete dieser. „Wo wohnt er?" »Nur de Grammont.« antwortete eine Stimme. »Welche Nummer?« Niemand wußte es. Ein junge« Mädchen, welches um Mariette sorgte und schmerz sich von diesen Vorfällen berührt schien, sagte leise: „Nummer L1.« glaube ich. »Ah,« machte Moule, sich zu ihr wendend und ihr einen schnellen Blick zuwerfend, der sie erröthen ließ. »So glaube ich wenigsten- von Mariette gehört zu haben,« beeilte sich da» junge Mädchen hinzuzufügcn. Man schickte an die genannte Adresse. Das Mädchen, welches dieselbe angegeben, arbeitete im Magazin deS Herrn Pelandat und hieß Pulchärie. Der Arzt kam unverzüglich. Er untersuchte Mariette und kon statirte drei Wunden, welche von einem scharfen Instrumente her rührten. Die eine derselben hatte das Gesicht getroffen und zerschnitt «inen Nasenflügel und die linke Wange völlig : es war ein entsetzlicher Anblick, doch die Wunde nicht gefährlich. Die beiden anderen dagegen, in der Gegend des Herzen» und in der rechten Seite waren überaus besorgnißerregend. Als der Kommissär den Arzt fragte, ob einig: Hoffnung vorhanden sei, Ma- rietta zu retten, zuckte derselbe mit zweifelnder Miene die Schultern. E» war in der That schwer anzunehmen, daß kein edleres Organ verletzt sein sollte, und auf alle Fälle war eine innere Verblutung zu befürchten. Nachdem die Wunden gebadet waren," beugte sich Moule prüfend »brr sie. »Ein gewöhnliches Messer kann das nicht gethan haben«, sagte er „Nein", erwiederte der Arzt, „ich glaube behaupten zu können, daß e» ein Dolch ist.« Moule überlegte einen Augenblick und fragte sich, welchem Ban diten seiner Bekanntschaft er eine derartige Waffe zuertheilen könnte; doch fand er nichts. »Der Dolch wird bei einem Schwertfeger gestohlen oder in einer öffentlichen Versteigerung gekauft sein, wenn nicht der Mörder . . . »nn wir weiden ja sehen.« In Eiwartung, daß Mariette zum Bewußtsein käme, zog er bei den Anwesende» Erkundigungen über die Lebensweise der Frau Dalissier ein; er erhielt nur sehr unbestimmte Auskunft: Frau Da lisfier bewohnte das Haus seit mehreren Jahren; sie sah und empfing Niemanden; sie ging selten auS und schien sehr betrübt; man meinte, daß sie früher großen Kummer erfahren, doch war die- nur eine Annahme. Der Miether de» zweiten Stockwerks, Herr GroSlin, trat in diesem Augenblicke herein. Er konnte besser« Auskunft ertheilen. Zunächst erklärte er, in der vorhergehenden Nacht ein eigcnthümlicheS Geräu ch im Hause vernommen zu haben, etwa dem Klappen eines sich schließenden Fensterladen- ähnlich. „Bon welcher Seite ging da- Geräusch au»?« fragte Moule. »Von der Gartenseite." »Sie haben sich nicht «hoben, um nachzusehen?« »Nein. Ich fürchtete meine Frau zu erschrecken; übrigen- konnte ich mich getäuscht haben. Ich lauschte nur einige Augenblicke, und da ich nichts hörte, schlief ich wieder ein.« „Wie spät war eS?« »Genau kann ich eS nicht angeben. Die Uhr gab einen Schlag — . . . Aar e» ein Uhr oder ein halb zwei? Jedenfalls war eS nach Mitternacht.« > (Fortsetzung folgt) Kinderseelen. Eine psychologische Studie von Reinhold Ortmann. (Schluß.) (Nachdruck verboten) Die Keine Else hatte zwar ein etwas trauriges Gesicht gemocht, als sie das künstliche Werk ihrer Hände so jämmerlich zusammen- stürzen sah; aber die Wolke ist schnell vorübergezogen, und jetzt erfüllt augenscheinlich ein muthiger Entschluß ihre Seele. Sie schiebt das Tischchen bei Seite und reicht ihrem Spielkameraden die Hand. — „Komm'; wir wollen auch Soldat spielen; Aber du mußt mich nicht los lassen und fortlausen, sonst thust Du Dir Weh und Deine Mutter schilt wieder mit uns!" — Er geht willig an ihrer Seite dem Rasenplatz auf der anderen Seite der Straße zu; aber unter wegs kann er sich doch nicht enthalten, zu fragen: »Müssen sich denn die anderen Kinder auch immer anfassen, wenn sie Soldat spielen?« Und wieder muß Else ihre Zuflucht z« einer bejahende» Nothlüge nehmen. „Was machen denn nun aber di« Soldaten?« forscht er weiter, als sie mitten auf dem Rasenplatz angelangt sind, und Else's er finderisches Köpfchen würde jetzt doch wohl in Verlegenheit gerathen wenn ihr nicht ein Zufall zu Hilfe käme. Am Rande des kleinen Ententeiches nämlich, halb schon im Wasser, sieht sie einen abge- schnittcneu Weidenzweig liegen, der ein ganz prächtiges Gewehr für den Hans abgedcn muß. Aber sie bars den armen blinden Knaben natürlich nicht bis an das gefährliche Ufer mitnehmen. Da bleibt denn nichts Anderes übrig, als ihn für eine ganz kurze Zeit allein stehen zu lassen. „Ich hole Dir einen schönen Säbel, Hans, wie ihn die Soldate» haben«, sagt sie schmeichelnd, »aber Du mißt auch nicht von hier fcrtgehen. Ich bin gleich wieder da!« Und eilfertig huscht sie davon, während Hans hilflos auf der Wiese stehen bleibt. Da klingt auS einiger Ferne wieder bas Trommeln und Hurrahrufen der anderen Knaben an sein Ohr, und eS fährt ihm wie ein elektrischer Strom durch die Glieder- Nein, mit den Knaben muß es doch noch schöner Soldatspielcn sei», als mit der Else, und ohne Besinnen eilt er, so rasch ihn nur die Füße tragen wollen, jener Richtung zu. Mit Entsetzen sieht Else die Flucht ihres Kameraden, und mit dem Aufgebot ihrer ganzen Kraft läuft sie bittend und rufend hinter ihm her. .HanS, lieber Han»! Ach! bleib' doch stehen! — Ich habe ja etwas so Schönes für Dich! — Bitte, bitte lieber HanS!« Aber er hört nicht auf sie und verdoppelt nur seine Eilfertigkeit, als er merkt, daß sie ihm näher kommt. Von dem Birkenbäumchen, das mitten auf der Wiese steht, hat er natürlich keine Ahnung, und bei der Schnelligkeit seines Laufes prallt er mit solcher Heftigkeit gegen den Stamm, daß er mit blutender Stirn auf den Rasen stürzt und daß ihm für einige Minuten das Bewußtsein schwindet. Bitter lich weinmd kniet die kleine Else neben ihm und wischt ihm mit ihrem bunten Echürzcheu das Blut vom Gesicht, während sie ihn mit den beweglichsten Worten bittet, er möchte ihr doch sagen, ob er ich sehr Weh gethan habe. Da wird sie von hinten sehr heftig am Haar gezaust und in die Höhe gerissen. „Hast Du schon wieder Unheil angerichtet, Du ungerathene» Geschöpf?« schallt ihr eine zornige Stimme in's Ohr, während sie zugleich hin und her geschüttelt wird. »Kannst Du meinen armen Jungen denn nicht endlich einmal in Frieden lassen, Du abscheuliches rothhaarige« Ding?« Schweigend erträgt die Kleine die schmerzhafte Mißhandlung, die ihr nicht zum ersten Mal von der Mutter ihres Spielkameraden zu Theil wird. Kein Wort der Entschuldigung oder der Rechtfertig ung kommt über ihre Lippen, und ihre Augen hängen nur unver wandt an dem Knaben, der sich jetzt wieder in die Höhe richtet und unter dem Bewußtsein seines Unfalls zu weinen beginnt. Als ihn die Mutter auf den Arm nimmt und ins Haus hinüberträgt, geht sie leise schluchzend in einiger Entfernung hinterher, und sie zuckt nur ängstlich zusammen, als sich die Frau in der Thür noch einmal nach ihr umwendet und ihr drohend die Faust zeigt. — Am Nachmittag aber, als HanS mit verbundener Stirn wieder auf dem Fußbänkchen vor de« Hause sitzt, hockt auch die keine rothhaarige Else abermals an seiner Seite, zärtlich plaudernd und liebevoll bemüht, dem armen Kleinen die bleierne Einförmigkeit der düsteren Nacht zu erleichtern, die ihn inmitten des lich'gesältigtcn SommertageS umgiebt. Und so geht es Tag für Tag und Woche um Woche. Die anderen Kinder wollen bei ihren Spielen von der häßlichen Else so wenig etwas wissen, als von dem unbeholfenen blinden Hans; da ist eS kein Wunder, wenn sich die beiden Geächteten immer fester an einander schließen. Aber die Zuneigung deS kleinen Mädchen- ist echter und opfeiwilliger als die de» Knaben. Sie läßt sich weder durch Scheltworte noch durch Mißhandlungen verscheuchen, und oft genug nimmt sie willig die Strafen für die Vergehungen des Spiel geführten auf die eigene Schulter. Eines Tages aber kommt der kleine HanS nicht mehr zum Vor schein. Er ist in die große Stadt gebracht worden zu einem be rühmten Augenarzt, denn eS soll noch Hoffnung sein, ihm die Seh kraft zu verschaffen. Da giebt cs nun eine recht traurige, einsame Zeit für die arme Else, und mit wehmüthigen Blickeck schleicht sie täglich an dem Fleckchen vorüber, auf welchem ihr Spielkamerad sonst zu fitzen Pflegte. Mit scheuen Bewegungen geht sie noch ängstlicher als zuvor den lärmenden Unterhaltungen der anderen Kinder all dem Wege, und sie muß sich's gefallen lassen, daß die Neckereien, die sie auszustehen hat, in Folge dessen nur immer schlimmer werden. So ist der Winter ins Land gekommen, und auf dem Raftn platz, aus welchem Elle mit dem blinden Hans Soldat spielen wollte, steht ein mächtiger Schneemann. Das kleine rothhaarige Mädchen Hot einer schlimmen Erkältung wegen acht Tage lang das Zimmer hüten müssen, und als sie nun heute zum ersten Mal wieder auf die Straße hinaus darf, schleicht sie wie gewöhnlich zuerst zu dem wohl bekannten Spiclplähchea. Aber auf der schneebedeckten Wiese tummelt sich eine ganze Horde wilder Knaben, und sie sind ihrer kaum an sichtig geworden, als auch schon ein allgemeiner Angriff eröffnet wird. „Der Fuchs I der Fuchs! Schießt den Fuchs tedt I« schreit Einer aus dem Haufen, und ein ganzer Hagel von Schneebällen fällt über die arme Else her. Sie will sich hastig zum Entfliehen wenden, da bleibt ihr angstvoll umherschweisender Blick auf einem lleinen Knaben hasten, der einer der Vordersten unter ihren Peinigern ist; und wie ein Jnbelschrei ringt sich's aus ihrer kindlichen Brust: „Han«, lieber Hans! Bist Du wieder da?« Alle Noth und Gefahr vergessend, stürzt sie auf ihn zu. Aber er hotte eben zwei Hä, de voll grobkörnigen Schnee's zu'ammenge- rafft, und als sie ganz dicht bei ihm ist, wirft er ihr die ganz« Ladung mit voller Kraft in'S Gesicht Else bleibt stehen und fährt sich mit den Händen nach den Augen; denn sie ist für einige Se kunden vollständig geblendet. Ein allgemeine» Gelächter seiner Ge nossen belohnt die Heldenthat de» Knaben, nnd unter lärmende« Hurrah stürmt die ganze wilde Rotte davon. Da» kleine Mädchen aber steht mutterseelenallein mitten auf der Wiese, hat die Fäuste in die Augen gedrückt und weint — weint so herzbrechend und bitter lich, daß e» nicht nur der geringfügige körperliche Schmerz sein kann, der ihr diese heißen, unaufhaltsam hervorquellenden Thränen erpreßt. Und al» am Sonntag Morgen der kleine HanS, welcher jetzt nach der glücklich vollzogenen Operation mit so Hellen Augen in die Welt hineinschaut, al- nur irgend Einer, im vollen FesttagSstaat mit einem kleinen Handschlitten an der Thür deS Hause» steht »nd auf einen Spielgenossen wartet, da kommt die Else noch einmal ganz langsam und verschüchtert zu ihm heran und sucht wie in frühere» Tagen seine Hend zu erfassen. Aber er wendet sich weg und zwängt die Hände in die enge» Taschen seines UeberröckchenS. „Wollen wir nun wieder zusammen spielen, HanS?« fragt sie leise. Hans aber rührt sich nicht von der Stelle «nd giebt ihr keine Antwort. »Darf ich mich nicht in Deinen Schlitten setzen?" beginnt sie nach einem lleinen Weilchen von Neue«; doch statt aller Erwiderung reißt er so energisch an der Schnur, daß der Schlitten weit weg nach der anderen Seite geschleudert wird. In demselben Augenblick komme» zwei andere keine Buben hastig um die Ecke gelaufen und nehme« den Hans mit seinem Schlitten in ihre Mitte. „Was will d-nn der Fuchs schon wieder?« ruft der Eine, und „Fuchs! Fuchs!« stimmt der Andere höhnisch ein. Hans dreht sich noch ein oder zwei Mal nach dem lleinen Mädchen um, und fein Gesicht zeigt einen g Wissen unschlüssigen Ausdruck; aber noch ehe er mit seinen Kumpanen um die Ecke verschwindet, ruft er den Spott namen ebenfalls mit, und »Fuchs! Fuchs!« verhallt eS in zahl losen Wiederholungen allmählich in der Ferne. Diesmal weint die Else nicht; aber sie geht sehr langsam unk mit gesenktem Köpfchen davon, und sie hat von dieser Stunde an de» Hans nie wieder mit einem Angebot ihrer kindlichen Freundschaft belästigt. — Trotz ihre- sanften Gesichts nnd ihrer schüchtern bittenden Auge« ist die rothhaarige Else für die anderen Mädchen und Knabe« immer ein Gegenstand de« Spotles und unaufhörlicher Neckereien geblieben. Und unter ihre» Verfolgern und Quälern war der wilde HanS gar bald der Schlimmsten einer. Es ist, als Ware die Erinnerung a» ihr treues Zusammenhalten während seiner Blindheit vollständig au» seinem jungen Herzen geschwunden, oder als schäme er sich vor de» Anderen, daß damals gerade das häßlichste und verachtetste Kind seine Spielgefährtin gewesen sei. Wo er ihr jetzt inmitten seiner Genossen begegnet, da darf sie sicher sein, daß ihr irgend ein Schabernack an- gethan wird, und nnr, wenn sie einmal zufällig irgendwo allein zu- sammentreffen, geht er stumm und mit einem trotzig herausfordernde» Blick an ihr vorüber. Sie gehen beide nun schon seit vier Jahren in die Schule. Else ist sittsam, sanft und fleißig. — Han» ist wild nnd unbändig, und über sein Betragen wie über feine Strebsamkeit wird manche Klage laut. Aber in seinem Benehmen gegen das rothhaarige Mädchen tritt urplötzlich eine ganz felisame Veränderung rin. I» der Religionsstunde hat ihnen der alte Pastor eine sehr eindringliche Erläuterung deS Begriffs der Dankbarkeit gegeben, und ganz unab sichtlich hat er dabei gerade an HanS zum Schluß die Frage ga- richtet: „WaS würdest Du also sein, mein Sohn wenn Du Denen, die Dir einst in den Stunden der Betrübniß Liebes und Gutes er wiesen, mit Härte und Kränkung vergelten wolltest?« — Hans ist dabei purpurroth geworden; aber er hat den Pastor fest in's Gesicht gesehen, und mit beinahe überlauter Stimme hat er geantwortet: „Ein schlechter, undankbarer Mensch, Herr Pastor!« Und von dem Tage an haben feine Quälereien gegen die arme Else aufgehört. Aber noch weniger als zuvor sucht er jetzt den Verkehr mit ihr wieder anzuknüpfen. In weitem Bogen geht er ihr aus de» Wege, und wmn er ja einmal ihr Kommen nicht rechtzeitig wahr genommen hat, schleicht er mit niedergeschlagenen Blicken an ihr vorbei, oder er beginnt zu lausen, als wäre ihm ein Verfolger auf den Fersen. — Ein einzige- Mal aber hat er davon doch eine Aus nahme gemacht, und das ist folgendermaßen zngegangen: Der Schulz« Emmerich hat einen großen Hofhund, der nur gefährlich ist, wenn er an der Kelt: liegt und der am Tage keinem Menschen etwas z» Leide thut, darauf verlassen sich aber nur zu oft die bösen Rangen, vie den armen Nero, wenn er gemächlich zu einem kurzen Mittags schläfchen in der Sonne liegt, mit Steinen werfen, mit langen Stöcken kitzeln oder sonst auf jede erdenkliche Weise peinigen und quälen. Auch heu'e Nachmittag, als die Schule aus ist, ist ein ganzer Schwarm ungezogener Jungen über ihn hergefallen, und da» un- muthige Knurren des gehänselten Nero macht ihnen nicht die geringste Angst. Sie wissen nicht, daß auch die Geduld eine- Hunde» schließlich ein Ende nehmen kann, »nd erst als der Nero plötzlich i« die Höhe fährt und sehr ernsthaft nach einem der kleinen Bengel schnappt, stiebt die ganze Schaar mit lautem Angstgeschrei auseinander. Ob nun dieser rasche Erfolg den Nero überwüthig gemacht hat od« ob seine schlechte Laune durchaus ein Opfer verlangt — kurzum, er springt in langen Sätzen hinter den Fliehenden her und wirft sich mit der ganzen Wucht seines ungeschlachten Körper» auf die roth haarige Else, die ganz still und sittsam ihre« Wege» gegangen ist unk sich im Bewußtsein ihrer Unschuld auch an der allgemeinen Flucht nicht betheiligt hat Mit einem witthenden Biß hat er ihr da» Kleid von der Schulter gerissen, und wer Weiß, wie schlimm eS dem wehr losen Kinde ergangkn wäre, wenn nicht plötzlich eine kräftige Faust den Nero im Genick gepackt und eine andere mit ziemlich wuchtige« Schlag sein« Nase getroffen hätte Der Köter heult laut aus vor Schmerz; aber er läßt doch von dem Mädchen ab und wälzt sich i« nächsten Augenblick mit dem Hans, der just zur rechten Zeit dazu gekommen war, auf der Erde herum. Er hat ihn schon ein paar Mal ganz tüchtig in den Arm und die Hand gebissen; aber der kräftige Knabe bleibt ihm nichts schuldig, und er setzt ihm, zornglühenden Gesichts, so tüchtig zu, daß sich der Nero bald durch rin klägliche» Gewinsel als der Besiegte zu erkennen giebt. Jetzt richtet sich der Hans empor. Von seiner Jacke hängen die Fetzen herunter und seine rechte Hand ist ganz von Blut geröthet. An dem Bretterzaun, an welchem sie der Hund vorhin niedergeworfen, steht Else mit kreideweiß-m Gesicht und mit zitternden Gliedern, de» Übel zugerichteten Knaben mit entsetztem Ausdruck betrachtend und unfähig, auch nur ein Wörtchen hervorzubringen. Er aber streicht sich mit der linken Hand das zerzauste Haar auS dem Gesicht, tritt auf sie zu und sagt, während sich sein Gesicht bis in di« Haarwurzel» hinaus mit dunkler Röthe überzieht: „Sei mir nicht mehr böse, Else, daß ich ein schlechter, undank barer Mensch gewesen bin! Wenn Dir Jemand etwas thun will, brauchst Du mich nur zu rufen — und wenn Du willst, wollen wir wieder alle Tage mit einander spielen!« Er hat die Worte sehr rasch und hastig hervvrgestoßen, nnd eh« noch die überraschte Else eine Silbe der Erwiderung hervorbringe» kann eilt er trotz seiner Schmerzen und trotz der im Elternhause z« erwartenden Strafe mit mächtigen Sätzen und mit lautem Hurrah die Straße hinunter. Verantwortlicher Redalteur vr. MI. O. Müller in Chemnitz. — Druck und «euay vo» Alexander Wiede i» Chemnitz.
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