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Die variablere, dynamischere und progressivere Komponente ist die sich ent wickelnde Stadt. Sie bestimmt zunehmend im jeweiligen Entwicklungsstadium den konkret-historischen Inhalt des Burg-Stadt-Verhältnisses. Ihr kommen bisher in der Literatur sehr unterschiedliche Bezeichnungen zu. So finden wir u. a. „nichtagrarische Siedlung“, „Stadtkeim“, „Suburbium", „vorstädtischer Siedlungskern“, „Burg stadt“, „Ansiedlung stadtartigen Charakters“, „Kaufmannssuburbium“, „frühe Kaufmannsiedlung“, „Lokafstadt" nebeneinander. Sie bezeichnen teilweise ein- und dieselbe Erscheinungsform und Entwicklungsstufe städtischer Verhältnisse, teil weise überschneiden sie sich. Im Zusammenhang geben sie Auskunft darüber, wie weit der jeweilige Verfasser die Herausbildung städtischer Verhältnisse in ihrer Gesamtheit erfaßt und als komplexen dialektisch-historischen Prozeß betrachtet. Für eine Standpunktbildung zu Fragen der frühstädtischen Entwicklung im west slawischen Siedlungsgebiet erscheinen von bürgerlicher Seite her vor allem die Ar beiten von Schlesinger, Helbig und Jankuhn von Bedeutung. Nach Schlesingers Auf fassung entstand die mittelalterliche Stadt aus einem „vorstädtischen, herrschaftlich verfaßten Siedlungskern, der c i v i t a s oder Herrenburg also, mit der genossen schaftlich verfaßten Kaufmannssiedlung, letzthin germanischer Herkunft“ (Schle singer 1963 b, S. 48). Für diesen „vorstädtischen, herrschaftlich verfaßten Sied lungskern“ verwendet Schlesinger an anderer Stelle den eindeutigeren Begriff „Burgstadt“. Er versteht darunter eine Burg mit zugehöriger Siedlung, wie sie im germanischen Siedlungsbercich vorkommt und sich im slawischen Siedlungsbereich wiederhole, „sowohl der Sache nach wie im Sprachgebrauch“, und er hebt hervor, „daß sich bei den slavischen Burgen des 9. und 10. Jh. in großer Zahl Suburbien und Burgmärkte befanden, die dauernd bewohnt waren und deren Bevölkerung Handel und Handwerk trieb“. Und wenn er schreibt: „Vor allem sollte man sich nicht darauf zurückziehen, es habe sich nicht um ein ,echtes“ Städtewesen gehan delt“ (ebenda, S. 53 f.), geht er entschieden über rein verfassungsrechtliche und an dere formale Kriterien der Stadtentwicklung hinaus und bringt auch ökonomische Gesichtspunkte ins Spiel. 7 Trotz Einschränkungen im sozialökonomischen und po litischen Bereich sind die Termini, die er für die verschiedenen Entwicklungsstufen frühstädtischer Entwicklung vorschlägt, überdenkenswert, da er, wie er selbst be tont, bei ihrer Formulierung zugleich von der Wirtschaft und von der Siedlung so wie von rechtlichen Gesichtspunkten ausgeht. Das trifft besonders auf die Begriffe „nichtagrarische Siedlung“ für das unentwickelte Stadium und „Frühstadt“ für das rechtlich fortgeschrittene Stadium (Schlesinger 1974, S. 31) zu. Demgegenüber müssen die Auffassungen Helbigs zu dieser Problematik weit kri tischer gesehen werden. Wie wenig topographische und rechtliche Gesichtspunkte 7 Vgl. dazu Schlesinger 1963 b, S. 60. - Daß damit aber die Gesetzmäßigkeit des Prozesses nicht erfaßt wird, zeigt sich deutlich, wenn er zwar „die Tatsache weitgehender, mitunter bis in die überraschendsten Einzelheiten reichender alter Gemeinsamkeiten der germanisch-deutschen und der slavischen Burgstadt“ feststellt, den allgemeinen Zusammenhang der Stadtentwicklung im europäischen Raum jedoch höchstens darauf zurückführt, „daß überall Bodenständiges dem von außen Andrängenden“ entgegenkam. So betrachtet er die Burgstadt im slawischen Siedelgebiet als eine Wiederholung der westlich gelegeneren Burgstädte germanischen Ursprungs. - Dage gen Hensel 1967, S. 34 f.