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Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 14.10.1883
- Erscheinungsdatum
- 1883-10-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512382794-188310148
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512382794-18831014
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-512382794-18831014
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote
-
Jahr
1883
-
Monat
1883-10
- Tag 1883-10-14
-
Monat
1883-10
-
Jahr
1883
- Titel
- Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 14.10.1883
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Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote. Nr. V2. Sonntag, 14. October. Seite 6. Otto Roquette über: „Dir deutsche Wsuderpoesie." V7-. Otto Roquette, der berühmte Lichter des in mehr denn fünfzig Auflagen erschienenen prächtigen Epos „Waldmeister- Brautfahrt", der Be» sasfer so mancher anniuthigen Erzählung, hielt am letzten Donnerstag m „Kaufmännischen Verein" einen feinsinnigen, schwung- und geistvollen Vortrag über „dir deutsche Wanderpoesie". Mann! Wesen und Thun ^ . .. Hörer, daß die damalige Wandcrpoesie mehr ein Berichten von Wandererleb nisten und Abenteuern als ein Wanderlied nach heutiger Aufsassung gewesen sei- Nachdem er deS Weiteren vorausgeschickt, unter welche» Bedingungen und Verhältnissen die rechte Wanderpoesie gedeiht, betonte er, wie diese poetische Gattung durch und durch deutsch sei, und eröffnet« dann einen historischen Rückblick auf die Entwickelung des Wanderliedes seit der Völker wanderung. In jenen Zeiten — erörterte Herr Prof. Roquette weiter — ent standen aber keine Lieder voll Empfindung und lyrischer Stimmung, sondern epische Dichtungen, in denen die Thaten und Ereignisse der Zeit greifbaren Ausdruck fanden; und selbst das Wandern im knappen Sinne erzeugte erzäh lende Gesänge im Balladenstil Auch die Römcrsahrte» und sonderlich die Kreuzzüge mit ihren Kämpfen und Entbehrungen, mit ihrem Sieg und ihrem Elend schufen eine Fülle überwältigender Eindrücke, aber nur für die erzäh lende Dichtung, ganz wenig für die Lyrik. Doch war die Sub>ekiivität schon lebhaft erwacht, waren doch auch Minnelänger mit bei den Kreuzzügcn; ist aber auch von einer eigentlichen Manderpoesie der betheiligten Ritter, Kauf leute und Pilger nicht sehr die Rede: — der Trotz der Kreuzfahrer sang seine Recken-, Helden- und Schelmenlieder, wenn auch oft wenig ermuthigt und begünstigt durch die Verhältnisse- Die ganze höfische Lyrik drehte sich um Herren-, Frauen- und Gottes dienst; trotz des starken Wandertriebes fand also das dichterische Bewußtsein nach dieser Seite keine Aussprache. — Als nun der Rittergesang verstummte, entstand im Gegensatz zu jener fahrenden Singekunst eine ansässige, in For meln eingeengte, unfreie: die Meistersingekunst. Aber gerade in dieser Zeit deS zünftigen Meistergesangs erwachte im deutschen Lande das Volksgemüth und das echte Volkslied, das Kind der freien Straße, brach in seinen innigsten Grundtönen hervor. Die Schilderung von Wesen und Inhalt, von Entstehungsursache und Bedeutung, von Art und Mannigfaltigkeit dieses auf der Heerstraße und im WirthShaus, in der Fremde und in der Heimath entstandenen Volksliedes gehörte zu den anziehendsten und interessantesten Partien deS Vortrags und läßt sich nach Ton und Stimmung in der Kürze schlechterdings nicht wieder geben, zumal da der Redner dabei eine Blüthenlese der schönsten Beispiele miteinflocht- Soviel erhellte allerdings aus diesen Beispielen, daß eine eigentliche Naturstimmung und Anschauung in unserm Sinn damals noch unbekannt war, obwohl einzelne Gegenstände der Natur schon finnig in das Lied verwebt erschienen. Der Vortragende kam nun aus den völligen Verfall des Volksgeistes und somit auch des Volksliedes im 17. Jahrhundert zu sprechen, ferner aus die Versuche von Gelehrten und Gesellschaften, die Poesie zu heben, aus die künstliche und maskirte sogenannte Naturpoesie des Schäferthums, aus die Bestrebungen von Martin Opitz, Paul Flemming undSimon Dach, auf das Aufbäumen Christian Günthers gegen das steife Philisterthum der trockenen Moral u. s. w- und betonte, wie das deutsche Leben zuerst wieder einmal eine kritische Epoche durchmachen mußte. Die Bedeutung der Klopstock, Lessing, Wieland, besonders aber des auf das Volkslied hinweisenden Herder wurde eingehend von ihm erörtert und alsdann in Goethe der Genius für die wieder erwachende wahre Natur- und Wander poesie ausleben lasten- Die Würdigung Goethes für den Umschwung der deutschen Dichtkunst und besonders für den Aufschwung jener poetischen Gattung gehörte ebenfalls mit zu den Glanzstellen des geistvollen Vortrags. Den Schluß desselben bildete ein Blick auf die neue Zeit, in der namentlich Ludwig Uhland als hervorragender und volksthümlicher Vertreter der deutschen Wanderpoesie gefeiert und auf das Zusammenwirken von Dicht- und Tonkunst behufs reicheren Auflebens des Liedes in der deutschen Nation hin gewiesen wurde. Allerlei Anzeigen Berliner Zeitung. Die Anzeigen, in denen die resp. Inserenten mit bestimmten Worten sägen, was sie wollen, sind die verhältnißmähig am wenig sten interessanten. Weit bezeichnender sind diejenigen, bei welchen man zwischen den Zeilen lesen muß. Da sucht beispielsweise „ein junger Mann Klavierbegleitung zum Gesang, am liebsten von einer jungen Dame." Man wird schwerlich fehlgehen, wenn man annimmt, daß die Klavierbegleitung hier Nebensache und die junge Dame Hauptsache ist, und auch von den sich meldenden „Damen" wird Wohl kaum eine über die wahren Absichten des Suchenden im Zweifel sein. Aber durch die Form des Inserates erreicht der Einsender seinen Zweck und läuft auch gleichzeitig nicht Gcsahr, nähere Be kanntschaft mit dem Sittlichkeitsparagraphen des Strafgesetzbuches zu machen. Eine täglich in einem Dutzend und mehr Exemplaren an zutreffende Annonce lautet: „Frau K. wohnt in der Z.-straße lO," oder auch: «Frau A., B.-straße 3, zu sprechen von 10 bis 10 Uhr." Sonderbare Anzeige! Wen kann eS interessiren, zu wissen, wo Frau L. wohnt oder wann Frau A- zu sprechen! Und dennoch haben diese Worte ihren bestimmten Zweck und erreichen denselben auch. Es sind Spekulationen auf den Aberglauben niedrigsten Ranges. Diese so schmucklos sich ankündigenden Weiber sind sämmtlich soge nannte „kluge Frauen," d. h. Frauenzimmer, deren Klugheit daAn besteht, daß sie die Dummheit anderer Leute bestens auSzubeuten ver stehen. Früher trieben diese Gaunerinnen, die aus den Karten, dem Kaffeesatz, aus geschmolzenem Blei, aus den Linien der Hand und aus tausenderlei anderen Dingen das zukünftige Schicksal ihrer Be sucher herauszulesen verstehen, ihr Wes°n noch unverhüllter als jetzt. Sie kündigten sich in ihren Anzeigen offen an als das, was sie zu sein behaupten, und einige von ihnen, wie z. B. die „Wahrsagerin, wo alles eintrifft", erfreuten sich sogar einer gewissen lokalen Be rühmtheit. Inzwischen hat die Polizei ihnen einigermaßen das Hand werk gelegt, indem sie derartige Annoncen als groben Unfug betrachtet und verfolgt. Das Geschäft selbst aber blüht, nicht eben zum Ruhm der „Stadt der Intelligenz", nach wie vor und ernährt seine In haberinnen reichlich. Die Kundschaft der „klugen Frauen" besteht zumeist auch wieder aus Angehörigen des weiblichen Geschlechts, und zwar keineswegs bloß aus solchen der ungebildeteren Kreise. Sehr zahlreich sind auch die Annoncen, in welchen „eine junge, anständige Dame, die sich in augenblicklicher Geldverlegenheit befindet, einen reichen Herrn um ein Darlehn bittet". Nicht selten versucht die Einsenderin sich dadurch noch interessanter zu machen, daß sie sich als „talentvolle Künstlerin", meist Schauspielerin, ausgiebt, welche durch irgend welchen Zufall um ihre Existenz gekommen und nun auf die Hilfe „edeldenkcnder Herren" angewiesen ist. Einen recht trüben Ein druck machen die leider sehr häufigen Annoncen, in denen Mütter ihre Kinder zum Verschenken anbieten. Bis zu welch entsetzlichem Grade muß die Verzweiflung (oder Verkommenheit) einer Mutter ge stiegen sein, welche sich zu einem solchen Schritt entschließen kann! Gerade widerwärtig berühren daneben Annoncen, in denen ein Ehe paar sich erbietet, gegen einmalige Entschädigung ein Kind, meist „diskreter Geburt," anzunehmen. Daraus spricht die nackte Habsucht und noch Schlimmeres: die Engelmacherei Zuerst wird das arme Würmchen als Handelsartikel mißbraucht, und dann, — nun, je früher man's wieder los wird, desto besser war das Geschäft. In den Annoncen dieser Art tritt entschieden eine der schlimmsten Nacht seiten des weltstädtischen Treibens zu Tage." Die Fahrt war lang, der Omnibus hielt auf dem Admiralitäts- Platz. Es war noch ungefähr eine Viertelstunde Wegs. Ribowski und Parlowna legten sie zu Fuß zurück. „Was hältst Du von Wladimir?" fragte Parlowna. „Nichts Gutes." „Warum?" „Ich halte ihn für verschlagen, ehrgeizig, intriguant, faul, sonst der beste Kerl von der Welt. Aber Du liebst ihn, wie man mir gesagt hat?" «Ja, ich liebe ihn und leugne es nicht. Unser Grundsatz ist, die Natur walten zu lassen, aber wenn ich einer Neigung folge, über lege ich. Und deshalb habe ich ihm die Rolle zugetheilt, die Du kennst. Ich glaube, daß er sie gut durchführen wird." „Was das Aeußere betrifft, ja; aber sonst in geistiger Be ziehung, nein!" „Wir werden immer da sein." „Darauf kann er rechnen, ich besitze seine Akten," sagte Ri bowski, auf seine fixe Idee zurückkommend. „Gerade heute werde ich ihm seinen Weg vorschreiben, ich habe Geld gefunden." „Er wird undankbar gegen Dich sein, mache Dich gefaßt darauf." „Nein," sagte Parlowna, „er wird es nicht sein können- Ich habe ihm gesagt, daß, ehe er Stasia und ihr Vermögen erheirathet, ich eine Forderung an ihn stellen werde, und daß ich keine Weigerung dulden werde. XIV. Die dritte Abtheilung. Unterdessen herrschte große Aufregung in dem Lager der Nihi listen. Die Jntriguen Parlowna's waren für die Sectc kein Ge- hei.nnß geblieben. Obschon ihre Glieder vereinzelt lebten, war es doch ganz natürlich, daß durch eine Art Ansteckung und geheimer Freimaurerei Alles, was von nah oder fern Interesse für den Nihilis mus haben konnte, rasch bekannt und besprochen wurde. Diesesmal schien das Projekt sehr kühn und wurde gerade des halb allgemein gebilligt. Die Persönlichkeit Wladimir's schien ver dächtig, denn man kannte ihn als prahlerisch, eitel und ziemlich träge; man war erstaunt, daß die Wahl der Kameraden auf ihn gefallen und das mit Recht. Aber man schwieg trotz Eifersucht und persön licher Wünsche, denn cs handelte sich um die Revolution. Aber eine Petersburger Zeitung mit nihilistischer Tendenz: „Der Beginn", welche aus einer ungekannteu Druckerei hervorgehend, in unregelmäßigen Zwischenräumen erschien, verfehlte nicht, in ihren Spalten auf der ersten Seite eine Rüge in aller Form an Wladimir zu richten und ihm Rathschläge zu ertheilen, die Drohungen sehr ähnlich sahen. In dem Artikel, zwar nicht mit Namen genannt, war dennoch wiemand im Zweifel, wer gemeint sei, und er selbst am aller- nigsten. Pferdefleisch. Der Verbrauch von Pferdefleisch als Nahrungsmittel ist erst neuerdings wieder mehr in Aufnahme gekommen und zwar Wohl hauptsächlich durch den viel theureren Preis des Fleisches anderer Schlachtthiere. Aber da Feinschmecker einem Pferdebraten längst Ge schmack abgewonnen haben und das Pferd doch kein unreines Thier ist, so muß man sich wundern, daß in der ganzen germanischen — ja, um weiter zu gehen — christlichen Welt eine solche Abneigung vor dem Pferdefleischessen existirt. Vor 1200, 1000, ja vor 80O Jahren war das noch anders. Unsere Vorfahren haben Pferdefleisch mit Hochgenuß gegessen und es sich wohl schmecken lassen; cs war ihr „Leibgericht" und bei jeder großen festlichen Gelegenheit genossen sie es. Das Pferd wurde nämlich ausschließlich dem Wotan geopfert und dann, nachdem die Neidstange errichtet war, auf welcher der ab geschnittene Pferdekopf prangte, wurde das gekochte Fleisch männiglich verzehrt. Die christlichen Heidenapostel aber sahen, daß der Opfer- antheil eines gut gekochten Pferdeschenkels ihrem Bekehrungswerke sehr im Wege stand, sie erklärten deshalb das Pferd für einen Teufels braten und sahen den Neubekehrten irgend eine Sünde nach, wenn sie sich nur den Genuß des Pferdefleisches, welches nur bei Wotaus Opfermahlen aufgctischt wurde, enthalten wollten Bulwer äußert sich darüber in seinem „Harold" sehr drastisch: „Die Heidenapostel unter den Schweden gegen Ende des II. Jahrhunderts hatten besonders gegen zwei Hauptlaster anzukämpfen: nämlich die Vielweiberei und das Pferdefleischessen. Die guten Mönche gaben in diesem Dilemma lieber in dem Punkte der Weiber nach, waren aber unerbittlich in Betreff des Pferdefleischverbotes." So wurde allmählich das Volk vom Pferdefleisch entwöhnt und vergaß mit dem Opfer auch seinen Gott, denn wie viele Deutsche, Skandinavier und Engländer wissen es noch, daß der höchste Gott ihrer Vorfahren einmal Wotan geheißen hat! Thatsächlich scheint die Hauptsache der ursprünglichen Heiden- bekehrung in dem Entwöhnen vom Pferdefleischefsen bestanden zu haben. Den Thüringern wurde noch zur Zeit des BonifaziuS da- Verbot des Pferdefleisches eingeschärft. Bon den Alemannen sagt Agathias: „Sie aßen Pferde und Rinder, erstere aber mit Vorliebe." Ein christlicher Schriftsteller in Franken sagt von den Heiden ver ächtlich: „Sie ezzent diu Roß." In den Hexenprozessen vor 200 Jahren wurden die Weiber auch beschuldigt, Pferdefleisch gegessen zu haben. Den Schwedenkönig Hakon, welchen seine Unterthanen im Verdacht hatten, daß er ein heimlicher Christ sei, forderte man auf, daß er sich durch Genuß von Pferdefleisch von diesem Verdachte reinige. Die Frankenkönigin Brunhildis wurde von Gregor wiederholt aufgefordert, ihren Unterthanen doch das Aufpflanzen von Pferde köpfen zu verbieten. Diese Sitte konnte aber nicht so gründlich aus getilgt werden, als die Pferdeopfer, denn wer heute noch durch Friesland und Westphalen wandert, wo doch seit Jahrhunderten die orthodoxesten Katholiken und Protestanten wohnen, der wird no> manchen Pferdekopf an den Häusern sehen, sogar die Neidstange keine Seltenheit, wenn auch ihr Sinn nicht mehr verstanden wird. Die Kirche hat nun in Betreff der alten Heidengötter so gründ lich gesiegt, daß der Genuß von Pferdefleisch ganz unwesentlich für sie geworden ist; denn nie mehr wird ein Pferdeopser eine Dorf gemeinde zur Verehrung Wotans, des „einäugigen himmlischen Schelmes", vereinigen, nimmer wird ein Wanderer das Orakelhaupt der Neidslange befragen, die Zeiten sind vorüber; aber es wird doch noch viele Jahre, vielleicht noch hundert Jahre dauern, ehe das Pferdefleisch in der ganzen germanischen Welt wieder in seine alten Rechte, als gutes, schmackhaftes Nahrungsmittel eingesetzt werden kann. Dahin sollte aber die Presse durch Aufklärung über die Ur sachen des Bannes gegen Pferdefleisch wirken. All dieser Lärm war ihm lästig, reizte ihn, er fühlte sich nicht mehr an seinem Platze und kam sich vor, wie Einer, der in ein Wespennest gerochen ist. Er theilte seine Ahnungen Serge mit, dieser nahm die vertrau liche Mittheilung ziemlich kühl aus. „Wenn Du Dich Deiner Rolle nicht gewachsen fühlst," sagte er ihm aufrichtig, „so verzichte darauf, es ist noch Zeit; theile es Par lowna mit." Wladimir zögerte in der That, er war nicht auf Rosen gebettet, so wie er erwartet hatte; die Schwierigkeiten schreckten ihn, die Ge fahren flößten ihm Furcht ein. Serge's Rathschläge dienten nur ka- zu, ihn in seinen Zweifeln und Befürchtungen zu bestärken, obschon er es sich vor seinen Freunden nicht anmerken ließ. Er entschloß sich, Parlowna aufzusuchen und sich mit ihr zu besprechen. Bei den ersten Worten aber fuhr diese heftig auf und stieß schreckliche Verwünschungen aus. Wladimir war also entweder feige oder verrückt! . . Feige? Dann um so schlimmer; er werde lernen müssen, Muth zu haben. Verrückt? Ach nein, er war zu berechnend, zu kalt. Was sie anbelange, sie erlaube kein Wort mehr darüber. Sie habe sich genug bemüht, und er wolle im Begriff, am Ziele anzulangen, alle ihre Kombinationen umstoßen? Der Fluth von Parlowna's bittern Worten gegenüber blieb Wladimir nichts übrig, als sich zu beugen und zu gehorchen: und er that es. Er resignirte sich und wartete sein Schicksal ab; aber seine Sorglosigkeit verließ ihn; er ward melancholisch, trübsinnig; bis dahin hatte er eine Art angeborener Munterkeit besessen, die nicht ohne Reiz war und der er sein Glück bei den Frauen verdankte; diese Munterkeit verschwand. Er bekam, ohne es zu wollen, in Folge geheimer Gewissensbisse das Ansehen eines Ehrgeizigen und Jntriguanten. Eigentlich hatte er nicht unrecht gehabt, sich über die Gerüchte, welche sich an seinen Namen hefteten, zu beunruhigen Er hatte sich innerlich bekannt, daß sehr leicht durch die Fama Gerüchte von den Plänen Parlowna's bis in die Sektion dringen könnten, und daß mit der geheimen Polizei in Rußland weniger wie! irgend sonst wo zu spaßen sei. Als er halb scherzweise seine Befürchtungen Ribowski mittheilte, bestieg dieser sein Steckenpferd und nahm sich die Sache sehr zu Herzen. „Du hast Recht," sagte er zu Wladimir, „ich weiß nicht, wo diese Menschen ihre Augen und Ohren hcrnehmen, aber sie haben deren hunkcrttausende; sieh, es geht so weit, daß ich nicht sicher bin. ob Du zu der dritten Sektion gehörst und Du nicht weißt, ob nicht ich zufällig dazu gehöre. Ja, ich selbst frage mich manchmal, ob ich nicht auf irgend eine Art betheiligt bin — ohne cs zu wissen, ver steht sich. Unbewußter Polizeispion," schloß Ribowski, „welche Stellung! Jedenfalls würde es die einzige sein, welche ich jemals eingenommen hatte." Dies Alles beruhigte Wladimir nicht. Vermischtes. — Ein entsetzliches Bubenstück tvird aus dem Dorfe Stöckenheim bei Einbeck am Solling gemeldet. Dort hat die Majorität der Gemeinde den Pastor Harms als ihren neuen Geist lichen gewählt, und derselbe ist am vergangenen Sonntag in sein Amt eingeführt worden. An diese Feierlichkeit schloß sich am Abend eine Festvereinigung an. Gleich nach deren Auseinandergehcn wurde das Pfarrhaus von einer heftigen Detonation erschüttert, und zugleich stand es in Flammen, Die Insassen vermochten kaum das nackte Leben zu retten. Man fand, daß eine Pulvermine gelegt und mittelst Zünd schnur zur Explosion gebracht war. Auch die Spritzenschläuche waren durchschnitten, um die Löscharbeit zu verhindern. Es wird dieses Schurkenstück als ein Racheact für die nicht erfolgte Wahl eines anderen Predigers betrachtet. Die Untersuchung ist im Gange. — Ein Elephant als Künstler. Der Elephant deS Zoologischen Gartens in Frankfurt a. M., Miß Bezzi, seit 25 Jahren die größte Zierde des Instituts, hat kürzlich einen glänzen den Beweis seines Verstandes und seiner raschen Auffassung gegeben. Sehr aufmerksam beobachtete er die in seinem Winterquartier mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigten Maler und Weißbinder, ohne sie zu stören oder zu necken. Als die Arbeiter zum Mittagessen sich entfernt hatten, ergriff der Elephant einen dicken Pinsel, tauchte ihn in die Farbe und übermalte nun die ganze Wand in allen Theilen. Dabei stieß er Töne der Befriedigung über seine gelungene Arbeit aus und erntete bald darauf das Lob seines Wärters und der in die größte Heiterkeit versetzten Arbeiter, welche ihr Brod mit dem ge waltigen neuen Gehülfen zu dessen Belohnung theilten. Derselbe Ele phant war es, welcher den sonst so ernsthaften, über nichts seine Ver wunderung verrathenden Schah von Persien mit seinem Gefolge in eine der Etiquette widerstreitende ungezügelte Heiterkeit versetzte, als er, die Drehorgel spielend, den Sohn der Sonne mit einem „Heil dir im Siegerkranz" begrüßte. — Eine gefährliche Ratte. In Grans in Ungarn sprang eine Ratte größter Art einer jungen Dame auf die Brust und biß sich fest. Alles Schütteln und Schreien verscheuchte sie nicht, das Schlagen hcrbeieilender Mägde mit Stöcken machte sie nur wüthen- der; es dauerte ziemlich lange, bis ein Mann herbeikam und sie mit der Faust erwürgte. Die junge Frau war vor Ekel und Schreck halb wahnsinnig. — „Laß deine Linke nicht wissen, was die Rechte Ribowski hatte im Weggehen beigefügt: „Weshalb beunruhigst Du Dich, mein Alter? Wenn Du des Nihilismus verdächtig befunden wirst, wird man Dich zur Rechen schaft ziehen und Dn wirst Dich vertheidigen. Wie? das weiß ich nicht. Wirst Du losgesprochen? Wird man Dich in der Festung einsperren? Wird man Dich nach Sibirien spediren? Diese Hypo thesen sind alle gleich wahrscheinlich. Aber ich wiederhole es, warum Dich beunruhigen? Du hast Freunde! Unsere Blicke, unsere Wünsche, unsere Thränen werden Dir folgen. Adieu, mein Alter!" Und Wladimir die Hand schüttelnd, nahm er einen hohlen Grabeston an und sagte: „Ich will die Akten von Nikolaus vervollständigen; ich habe ein kleines, herrliches Buch entdeckt, in welchem alle Grausamkeiten seiner Regierung aufgezählt sind." Trotz seines scherzhaften Tones hatte Ribowski doch richtig vor hergesagt. Ein Monat war kaum vorüber, so wurde eines Morgens Wladimir durch einen Gensdarmen geweckt und ganz einfach ohne weitere Umstände im Schlitten auf die dritte Sektion gefahren. Zu jener Zeit war es Graf Schuwaloff, welcher sie leitete und die Russen jeden Standes gestehen zu, daß nie eine gesetzwidrige und despotische Einrichtung mit mehr Milde und väterlicher Schonung ge- handhabt wurde, als unter ihm. Und dennoch hat eine lange Reihe von Frevelthaten und Hin richtungen hinter Schloß und Riegel dieses Institut so berühmt ge macht — so berühmt und berüchtigt zugleich — daß es heute einem Russen unmöglich ist, seinen Namen ohne geheimen Schrecken aus zusprechen. Der Rath der Zehn in Venedig kann allein eine Idee geben von der Angst, welche die dritte Sektion Hervorrust durch ihr sum marisches Verfahren und die angewcndeten Mittel; sie ist das wirk samste Werkzeug der Regierung, welches noch erfunden ward. DaS Schwelgen, das Dunkel und Geheimniß, welche es umgeben, tragen dazu bei, es verhaßt zu machen und den instinktiven Abscheu zu ver breiten, welchen das Volk gegen Alles hat, was von nah oder fern damit zusammenhängt. Alle Klassen der Gesellschaft in entwürdigender und knechtischer Gleichheit behandelt, haben alle dieselbe Furcht vor der drittenSektion. Man erzählt sich in Bezug auf die geheime Polizei unglaub liche Anekdoten von ihren Launen, Einfällen, Ungerechtigkeiten und Züchtigungen. Man sagt namentlich, um zu beweisen, daß man dorten keinen Unterschied der Person, des Ranges oder Geschlechts macht, daß Damen, überführt oder nur verdächtigt, ungünstig vom Kaiser ge sprochen zu haben, bei sich zu Hause oder von einem Ball kommend, verhaftet wurden. In einem Schlitten gepackt, einen Knebel im Mund wurden sic vor den Chef der geheimen Polizei gebracht, der ihre Identität feststellte. Ein Gcrichtsschreiber las ihnen den Anklageakt vor, dann stieß man sie in ein anstoßendes Zimmer, Gendarmen rissen ihnen die Kleider vom Leibe und ein Diener, ein Henkersknecht, gab ihnen eine gewisse Anzahl Ruthenstreiche. (Forts, f.)
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