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Die Häufung der genannten pathologischen Symptome in unserem Untersuchungsgut läßt am ehesten auf einen chronischen, schubweise auftretenden Eiweißmangel schlie ßen. Eine Vorstellung von Symptomatik, Ursachen und Folgen einer solchen Unter ernährung vermittelt das heute noch in den Entwicklungsländern verbreitete Kwa shiorkor-Syndrom. 271 Diese Erkrankung tritt dort praktisch jedes Jahr in der „hung rigen Zeit“ auf, wenn die Vorräte aufgebraucht sind. Betroffen sind vor allem Kinder (nach dem Abstillen) und Jugendliche. Wurmbefall, Durchfälle und Infektionskrank heiten begünstigen die Entstehung; eine falsche Therapie (Behandlung mit Stärke schleim bzw. -brei) verschlimmert den Verlauf. Der chronische Mangel an essentiellen Aminosäuren, die besonders in eiweißreichen tierischen Lebensmitteln (Milch, Käse, Fleisch und Fisch) enthalten sind, führt zu Gewichtsverlust, Ödemen sowie trophi- schen Störungen der Haut und Haare. Es kommt am Verdauungssystem zu einem ausgedehnten Verfall der Schleimhaut, damit zu Mangel an Verdauungsenzymen und hierdurch zu Störungen der Resorption besonders von Fetten und fettlöslichen Vitaminen. Infolge des Proteindefizits verfettet die Leber, was deren Funktion be einträchtigt. Der Abfall des Phosphor- und Kalziumspiegels im Blut bedingt die genannten Knochenatrophien. Die Überlebenden blieben vielfach minderwüchsig. Dem Kwashiorkor nahe verwandt bzw. mit ihm identisch ist der Mehlnährschaden, eine früher auch in unseren Breiten geläufige Erkrankung der Kleinkinder nach deren Entwöhnung. 272 Für unseren Befund ist vor allem bedeutsam, daß er nicht nur durch absoluten, sondern bereits durch relativen Eiweißmangel verursacht werden kann. In der wesentlich durch Mehlprodukte mitbestimmten Volksnahrung des Mittelalters drohte ein einseitiges Überangebot an Kohlenhydraten zumindest als latente Gefahr, und es bedurfte vielleicht nur einer graduellen Verschlechterung der Ernährungslage im Winter und Frühjahr, um die genannten Veränderungen auszulösen. Daß Proteinmangel tatsächlich einen (oft wohl den) „Hauptfaktor“ für die in Rede stehenden pathologischen Erscheinungen, nicht zuletzt für die Ausbildung der Harris lines, darstellt, haben Tierexperimente gezeigt. 273 Dabei stellte sich auch her aus, daß nur nach längeren, stärkeren Belastungen, die zu einem völligen Wachstums stillstand führen, beständigere sklerotische Zonen entstehen, während ein geringer Mangel nach Wachstumsverlangsamung lediglich Knorpellinien hervorruft, die bald wieder abgebaut werden. Harrissche Linien an archäologischem Skelettmaterial, zu mal an dem von Erwachsenen, weisen also immer auf extreme Streßsituationen hin. Die verminderte Aufnahme fettlöslicher Vitamine aufgrund chronischen Eiweiß mangels erklärt den scheinbar widersinnigen Befund von Avitaminosen in einer histo rischen bäuerlichen Bevölkerung. An den Anfang sei die in der paläanthropologischen Literatur wiederholt diskutierte Frage gestellt, inwieweit die bei den ärmeren Be völkerungsschichten vornehmlich in den Städten früher so verbreitete Rachitis bereits in ur- und frühgeschichtlicher Zeit aufgetreten ist. H. Grimm kommt nach langjähriger 271 Vgl. z. B. A. Knapp 1980, S. 356 f.; H. Schal dach (Hrsg.) 1980, S. 573. Nach C. Wells 1975, S. 757 f„ bisher paläopathologisch nicht sicher nachweisbar. 272 Vgl. z. B. H. S c h a 1 d a c h (Hrsg.) 1980, S. 653. 273 J. C. Steward u. B. S. Platt 1957; I. Kühl 1977, S. 176 ff., 180 f.