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Hiernächst und noch ganz kur- vor Beginn deS JuristentagS hat der Rechtsanwalt Or. Schaffrath daS schwere Geschütz seiner scharfsinnigen Gründe für das richterliche PrüfunqSrecht, unter besonderer Bezugnahme auf das sächsische Verfassung-recht, in einer Brochüre (Dresden, 1863. Verlag von H. I. Zeh.) zu sammengestellt, während der Finanzprocurator Beschorner im jüngsten Heft der Zeitschrift für Rechtspflege und Verwaltung im Königreich Sachsen eine, auch im besonderen Abdruck an die Juristentagsmitglieder vertheilte Abhandlung gegen das richterliche ! Prüfungsrecht geschrieben hat, die davon ausgeht, daß die Re- activirung des JahreS 1850 eine Nothwendigkeit gewesen und daß man schon um dieser Nothwendigkeit willen die Frage ver neinen müsse. In der Plenarsitzung erstattete Geheimrath Prof. vr. von Wächter aus Leipzig, den der Juristentag nun zum dritten Mal als seinen Präsidenten begrüßte, über drese wichtige Frage Be richt. Es handelt sich, bemerkte er, nicht darum, ob ein Gesetz gut, vernunftgemäß, gerecht, nothwendig, zweckmäßig sei, ferner nicht um ein Urtheil über, die Geltung des Gesetzes im Allge meinen, sondern nur um die Prüfung für den gegebenen Einzel fall, und endlich dreht sich die Frage nicht darum, ob der Rich ter die formellen Erfordernisse für ein Gesetz, wie Unterschrift des Fürsten, Mitunterschrift der Minister, Erwähnung der verfassungs mäßig ständischen Zustimmung u. s w. zu prüfen habe. Das versteht sich von selbst. Jetzt handelt es sich um die Frage, ob der Rich ter ein Gesetz, das sich zwar als ein verfassungsmäßig zu Stande gekommenes ausgiebt, aber es doch in Wahrheit nicht ist, an wenden muß. Und allerdings, erklärt Wächter, steht dem Rich ter solch ein Prüfungsrecht zu, da Presse, öffentliche Meinung, Petitionsrecht und Recht der Ministeranklage keinen hinlänglichen Schutz gegen verfassungswidrige Gesetze bieten. Aber nicht jeder Richter hat das Prüfungsrecht, das würde zu ungleichartigen Entscheidungen führen, vielmehr ist dazu ein unabhängiger Cassa tionshof, und für die in das Staatsrecht eingreifenden Fälle, in denen die Regierung durch einseitigen Act die Verfassung geän dert, ein gemeinsames deutsches Reichsgericht erforderlich. Der Anttagsteller, Stadtrichter Hiersemenzel, wies zum Beleg für die praktische Nothwendigkeit seines Antrags auf die preußische Preßverordnung hin, deren 'Verfassungswidrigkeit zu.prüfen, den Richtern nach der Verfassungsurkunde verboten sei. In einer glänzenden, alle- Andere, was auf dem Juristen tage gesprochen wurde, an oratorischem Schwung und eingehen- . der Gründlichkeit überragenden Rede wies sodann Professor Or. Gneist mit scharfen Seitenhieben auf „jene Charlatanerien, die man Staatsrettungen genannt habe", die Nothwendigkeit nach, L»aß man nicht einen tendenziös zusammengesetzten Cassationshof, sondern den gesammten Richter- und Advocatenstand zum Wäch ter des Verfassungsrechtes berufe. Es giebt kein Recht der Revolu tion von unten— aber auch nicht auf die von oben gegenüber be schworenen Verfassungen. Es ist der Beruf des Juristenstandes, den zeitigen Machthabern diesen Umsturz von oben zu erschweren. Die .Frage lautet richtig gefaßt: Ist es verträglich mit unserer deut schen Gerichtsverfassung, daß das zeitige. Staatsministerium, .daß eine Körperschaft, die allen wechselnden Einflüssen ausgesetzt ist, auch in das Gebiet eingreife, das von jeher von diesen wechselnden Machtverhältnissen unberührt bleiben sollte — das Recht. Es handelt sich also um'nichts Neues, sondern um die Abwehr neuer, scheinbar staatsrechtlicher Theorien des letzten Men schenalters. Privatrecht und öffentliches Recht ist untrennbar, der Beruf des Advocaten und Richters ist nicht auf den Stand punkt des beschränkten Unterthanenverstandes zu bannen, sie ha ben sich nicht blos um die Auslegung des gegebenen Buchstabens, sondern auch um den großen organischen Zusammenhang der Gesetze mit dem Staatswesen zu kümmern. Endlich wird die gewissenhaft erzwingbare Geltendmachung der verfassungsmäßigen Rechte im Einzelstaate eher die Reichsverfassung, als umgekehrt ein Reichsgericht den Schutz der Einzelverfaffung Herstellen. Die Gerichte und nicht die Minister haben zu bestimmen, was Recht oder Unrecht ist im Staate. Unter dem Eindrücke dieser hinreißenden Rede entschied sich der Juristentag — nachdem u. A. noch Appellationsgerichtspräsident Schneider auS Dresden sich gegen daj „gesetzlich nicht anerkannte" richterliche Prüfungsrecht und auch Dr Berger auS Wien, offen bar in Rücksicht auf das gebrochene Verfassungsrecht in Ungarn, sich in gleicher Weise ausgesprochen — für den Hierftmenzel'- schen Anttag in der kürzeren, von Braun auS Wiesbaden vor geschlagenen Fassung dahin: „Der Richter hat im gegebe nen Falle über daS verfassungsmäßige Zustandekom men der Gesetze und Verordnungen zu entscheiden." Dieser Beschluß ward allerdings mit geringer Mehrheit gefaßt Mit sehr großer Mehrheit dagegen wurden hrerzu noch die An träge Wächter'S angenommen: 1) Der Richter hat ein Gesetz nur insoweit zur Anwendung zu bringen, als sein Inhalt die Zustim mung der verfassungsmäßigen Stände erhalten hat. (Fast einstimmig angenommen.) 2) Zweifel über diese Zustimmung soll auf Antrag der Prozeßpartei oder der Staatsbehörde ein un abhängiger Cassationshof endgültig entscheiden. 3) Ein unab hängiges Reichsgericht soll die Anwendbarkeit der, auf Grund einseitiger Aenderungen der Verfassungen oder Wahlgesetze mit den hiernach zusammengesetzten Ständen vereinbarten Gesetze auf Anrufen jedes Betheiligten prüfen. — Bei diesen Beschlüssen wäre nur zu wünschen gewesen, daß man das nicht allenthalben zutreffende Wort „Stände" mit dem allgemeineren „Kammern" vertauscht hätte. . Diese Beschlüsse sind die entschiedenste Verneinung des an die Spitze dieses Berichts gestellten Satzes: daß Gewalt vor Recht gehe. . . . Welch ein reiches, in alle Rechtsverhältnisse tief eingreifendes Material der Juristentag noch zu bewältigen hatte, wird auS einer auch nur kurzen Zusammenstellung Dessen, was in der zweiten Plenarsitzung am 28. August verhandelt wurde, klar wer den. Sämmtliche Berathungsgegenstände find zuvor von einzel nen Juristentagsmitgliedern, und zwar mehrseitig, begutachtet, sodann aber in den Abtheilungssitzungen am 26. und 27. August durchsprochen worden. - . Die wichtigste Frage war die, ob die Todesstrafe abzuschaffen sei. Die Abtheilung hatte sich darüber nicht einigen können, denn sie hatte ihren Beschluß mit 41 gegen 40 Stimmen, also mit nur einer Stimme Mehrheit, gefaßt und zwar für Beibehaltung der Todesstrafe bei Mord und hochverrätherischem Angriff auf den Regenten, dagegen für Wegfall in allen übrigen Fällen, eben des halb aber gleichzeitig der Plenarversammlung die endgiltige Ent schließung Vorbehalten, vr. Mühlfeld aus Wien, noch von der Nationalversammlung und jetzt vom Reichsrath her in gutem Angedenken, stellte und begründete den Antrag: die Todesstrafe soll in ein künftiges deutsches Strafgesetzbuch nicht mehr ausge nommen werden, außer in Fällen des Kriegs- und Seerechts. Denn das deutsche Volk sei reif zur Abschaffung der Todesstrafe, wie schon vor zwölf Jahren nicht blos das deutsche Parlament (in den Grundrechten, deren diesfallsige Bestimmung die VOr. Mühlfeld und Schaffrath in der Abtheilungssitzung vertheidigten) sondern auch die Reichsregierung und die meisten deutschen Re gierungen sich für die Aufhebung dieser Strafart erklärtes. Mühl- feld's Antrag wurde mit bedeutender Mehrheit angenommen. Ueber einen Antrag auf Wegfall der Staatsanwaltschaft (wie in England) war die Abtheilung unter Anerkenntniß der Reform bedürftigkeit dieses, keinenfalls jedoch entbehrlichen Instituts, »ur motivirten Tagesordnung übergegangen, indem sie dem nächsten ! Juristentage die Berathung von Reformvorschlägen vorbehielt. Das Plenum ging zur einfachen Tagesordnung über. Es bleibt jedoch der Deputation die weitere Vorbereitung der Frage Vor behalten. In gleicher Weise wurde die Frage über die Stellung der Staatsanwaltschaft im Civilrecht vertagt. Einverstanden erklärte sich die Plenarversammlung mit fol genden ihr vorgetragenen Abtheilungsbeschlüssen: Beweistheorie: Der Richter hat die Wahrheit derThat- sachen, soweit sie unter den Parteien streitig ist, nach freier Ueber- .zeugung zu prüfen. Ueber den Beweis durch Urkunden und Eid, i für die es natürlich feste Regeln geben muß, bleiben besondere Bestimmungen Vorbehalten. Freie Advocatur: Die Freigebung der Advocatur ist eine Frage der Gerichtsorganisation, nicht Ws Gewerberechts. Die Anwaltschaft ist freizugeben ohne Rücksicht auf, die Gerichte I und die Prozeßart. Advocatur (die rechtswissenschaftliche Unter-