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Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 14.04.1885
- Erscheinungsdatum
- 1885-04-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512382794-188504140
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512382794-18850414
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-512382794-18850414
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote
-
Jahr
1885
-
Monat
1885-04
- Tag 1885-04-14
-
Monat
1885-04
-
Jahr
1885
- Titel
- Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 14.04.1885
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Unterhaltungs-Blatt zum „Chemnitzer Anzeiger". Fürst Bismarck. Vedtvkbliitlcr zum siebzigsten Geburtstage. Von Pros. vr. Adalbert Horawitz. (Fortsetzung und Schluß.) (Nachdruck verboten.) Vl. Die Zeiten, in denen das deutsche Publikum sich neben der Rührung für Beecher-Stowe's „Onkel Tom" auch noch Thräncn über Boz' Nomaue gestaltete, ohne zu ahnen oder wenigstens angelegentlich daraus zu achten, daß es auch im Vaterlande Menschen zu Tausenden gab, denen durch die „ehernen" Gesetze von Nachfrage und Angebot der Lebensbedarf eingeengt, denen durch de» aufreibenden Kampf um die materielle Existenz diese selbst in ihren gesundheitlichen Grund lagen in Frage gestellt wurde, diese Zeiten einer behagliche» Bürger schaft waren vorüber. Die konservativen Kreise halten durch den un ablässig wirkenden V. A. Huber und seine Rcisebricfe, die Fortschritt lichen durch Schulze-Delitzsch und seine sehr nützlichen Vereine, die Radikalen durch einen bedeutenden Agitator, Ferdinand Lassalle, An trieb bekommen, sich mit der Theorie der sozialen Frage zu beschäftigen. Die stärksten Anregungen gab wohl der geniale Lassalle, der einer der Wenigen war, welche Bismarck's gewaltige Natur früh erkannt hatten. So sagte er schon 1863: „Die Fortschrittler liebäugeln mit den deutschen Fürsten, um Herrn von Bismarck bange zu machen. . . . Das sind die Mittel dieser Aermstcn. Und wenn wir Flintenschüsse mit Herrn von Bismarck wechselten, so würde die Gerechtigkeit er fordern, noch während der Salben einzngestehen: Er ist ein Mann, jene aber sind alte Weiber. Und noch niemals haben alte Weiber einen Mann eingeschüchtert." Es ward damals das Märchen ver breitet, Lafsalle sei Bismarck's Agent gewesen. Der Minister hat selbst diese Erfindung auf ihre Grundlage zurückgesührt und gezeigt, daß es nur die interessante Persönlichkeit Lassalle's war, die ihn an zog, daß aber alle Bedingungen zu einem geträumten Vertrage fehlten. Er sagte von Lassalle: „Er war einer der geistreichsten und liebens würdigsten Menschen, mit denen ich je verkehrt habe ... er hatte eine sehr ausgeprägte nationale und monarchische Gesinnung; seine Idee, der er zustrcbte, war das deutsche Kaiserthum, uud darin hatten wir einen Berührungspunkt." Treffend bemerkte Bismarck weiter, es sei ja seine Pflicht als Minister, sich über die Elemente, mit denen er es zu thun habe, zu belehren. In der That scheinen Lasialle's Bemerkungen über die Produktiv-Assoziationen, die Bismarck aller dings schon von England her seit l 862 kannte, einen großen Eindruck auf ihn gemacht zu haben. 1665 erschien eine Deputation von Arbeitern aus Waldenburg beim Minister des Innern, um sich durch diesen beim König cinführen zu lassen, da sie sich gegen die uner träglichen Bedrückungen durch ihrem Fabriksherrn Reichenheim die Hilfe der Krone erbitten wollten. Der Minister wies sie ab; Bismarck aber stellte sie dem König vor. Herr Reichenheim fand sich dadurch veranlaßt, sich in der Kammer über den Minister zu beklagen und die Beschwerden seiner Arbeiter als Lüge zu bezeichnen. Dies gab dem Minister-Präsidenten Anlaß, seine Stellung zur sozialen Frage darzulcgen. Er fragt, mit welchem Rechte er den Leute» den Weg zum Throne hätte versperren sollen. Es scheint ihm fast, als ob dem Fabrikanten gegenüber die Krone einer Rechtfertigung bedürfe, wenn sie der Stimme der Armuth ihr Ohr leiht. „Die Könige von Preußen sind niemals Könige der Reichen vorzugsweise gewesen. An dem Throne der preußischen Könige hat dasjenige Leiden stets Zuflucht und Gehör gefunden, welches entstand in Lagen, wo das geschriebene Gesetz in Widerspruch gerieth mit dem natürlichen Menschenrechte. Unsere Könige haben die Befreiung der Leibeigenen herbeigeführt, sie haben einen blühenden Bauernstand geschaffen; es ist möglich, daß es ihnen auch gelingen werde — das eriiste Bestreben dazu ist vor handen — zur Verbesserung der Lage der Arbeiter etwas beizutragen." Und auf eine ziemlich erregte Entgegnung des Fabrikanten und Abge- ordneten Rcichenheim erwiederte Bismarck im Abgeordnetenhäuser „Wir auf der Stelle, wo ich stehe, sind nicht gewohnt, die Klage der Armuth als ein Spiel zu behandeln, auch nicht, sie mit Entschlossen heit in den Wind zu schlagen . . . Wenn der Herr Abgeordnete darauf aufmerlsam macht, daß Se. Majestät in Bezug aus die Richtung seiner Privat > Wohlthätigkeit irgend einen Rathgeber gehabt haben werde, so braucht er nicht mit so vielen und über die Linie des Schönen hinausgehenden Bewegungen aus mich zu zeigen. Der Rathgeber war ich, und ich glaube, keinen schlechten Rath gegeben zu haben " Bismarck war es endlich, welcher dem Könige rieth, Arbeitern Geld aus seiner Privatkaffe zur Errichtung von Produktiv-Assoziationen zu geben; wie man im landwirthschaft- lichen Ministerium Versuche über landwirthschaftliche Systeme an stelle, so könne man cs ja auch mit der Fabrikation probircn. Kurz, alles Thatsächliche fand der Realpolitiker einer Besprechung und eines Versuches werth. Dagegen verbarg er nie seinen liefen Unwillen gegen die Bethörung der Ni affen durch gewissenlose Agitatoren, gegen die Programme der Verneinung. „Offen hat noch keiner dieser Herren ein positives Programm geben wollen; wenn sie sagen, wie sie wirklich sich die Zukunft zu gestalten denken, lacht sie jeder ein sichtige Arbeiter aus, und dem wollen sie sich nicht aussetzen." Bismarck giebt dann eine köstliche Schilderung der etwaigen Verwirk lichung der sozialdemokratischen Pläne... „Wenn Jedem das Seinige von oben her gleichmäßig zuge wiesen werden soll, geräth man iu eine zuchthausmäßige Existenz, wo keiner seinen selbständigen Beruf und seine Unabhängigkeit hat, sondern wo ein Jeder unter dem Zwange der Ausseher steht... Ich glaube, Niemand wird in solchen Verhältnissen leben wollen, wenn er sich dies Ideal ausmalt nach dem, was wir so durch die Ritzen zu erfahren kriegen." Seit der Zeit, als Bebel die Kommune als Vorbild hinstellte, unterschied Bismarck scharf zwischen den wirklichen Arbeitern, denen der Staat in ihrem ehrlichen Streben zu Hilfe kommen, deren berech tigte wirthschastliche Wünsche er berücksichtigen solle, und jenen theils verkommenen, theils fanatisirten Elementen. In den letzteren erblickte er mit Recht einen Feind, gegen den Staat und Gesellschaft sich im Stande der Nothwehr befänden. Er hatte nur zu richtig vorher gesehen; cs erfolgten die Attentate gegen die Persönlichkeit des greisen Kaisers. Die nächste Wirkung waren Nepressivmaßregeln: das Sozialistengesetz I Wie sehr Bismarck die Unzulänglichkeit einer selchen Maßregel für sich allein erkannte, zeigt seine ernste Bemühung um wirkliche Abhilfe gegen wirkliche Schäden. Genau erkennt er die ungeheuere Gefahr, die aus jener Propaganda entsteht, welche Skri benten wenig gebildeten Massen gegenüber betreiben. „Wenn sie diesen Leuten glänzende Versprechungen machen, dabei in Hohn und Spott, in Bild und Wort Alles, was ihnen bisher heilig gewesen ist, als Zopf, Lüge darstcllen, als eine hohle Redensart, als Schwindel, ihnen den Glauben an Gott, an unser Königthum, die Anhänglichkeit an das Vaterland, an die Familie, an den Besitz, an die Vererbung dessen, was sie erworben für ihre Kinder, wenn sie ihnen das Alles nehmen, so ist cs doch nicht schwer, einen Menschen von geringem Bildungsgrade dahin zu führen, daß er schließlich mit Faust spricht: Fluch sei der Hoffnung, Fluch dem Glauben und Fluch vor Allem der Geduld! Ein so geistig verarmter und nackt ausgezogener Mensch — was bleibt denn dem übrig, als eine wilde Jagd nach sinnlichen Genüsse», die allein ihn noch mit diesem Leben versöhnen lönnen?" Das soll aber anders werden. Einerseils durch entschiedene Unterdrückung solcher Agitationen, andererseits durch gesetzliche Be stimmungen des Staates, welche das Loos des Arbeiters erleichtern sollten. Es sind die Pläne der Krankheit--, Unfalls- und Alters versicherungen, die Organisationen, deren Berechtigung und Noth- wendigkcit der Kanzler in unvergeßlichen Worten nachwies. „Wer Aussicht auf Pension für das Alter oder die Invalidität hat, sei sie auch noch so klein, der fühlt sich wohler und zufriedener mit seinem Schicksal, der ist viel williger und leichter zu behandeln als der, .reicher in eine ungewisse Zukunft blickt." Als man entgcguete, die großen Summen, welche erforderlich wären, feien schwer zu beschaffen, erwiederte Bismarck: Auch dreihundert Millionen würden mich nicht abschrecken. Es müssen Mittel beschafft werden, staatlich freigebig zu sein gegen die Armuth, die unverschuldete, nicht in Form eines Almosens. Die Zufriedenheit der besitzlosen Klasse», der Enterbten, ist auch mit einer sehr großen Summe nicht zu theuer erkauft. Sie müssen einsehen lernen, daß der Staat auch nützlich ist, daß er nicht blos verlangt, sondern auch giebt. Vor dem Verhungern ist der invalide Arbeiter durch unsere heutige Gesetzgebung geschützt. Das genügt aber nicht, um den Mann mit Zufriedenheit auf sein Alter und seine Zukunst blicken zu lassen. Und cs liegt in diesem Gesetz auch die Tendenz, das Gefühl menschlicher Würde, welches auch der ärmste Deutsche meinem Willen nach behalten soll, wach zu erhalten, daß er nicht rechtlos als reiner Almoscnempsängcr dasieht." „Praktisches Christenthum" nannte Bismarck diese seine gewiß edlen Pläne und machte dazu die Bemerkung, „aber saus xlirass, wobei wir die Leute nicht mit Redensarten bezahlen, sondern ihnen wirklich etwas gewähren wollen." An eben dieses Chrislenthum apellirte er auch später; er sagte unter Anderem: „Ich möchte gerne, daß ein Staat, der in seiner großen Mehrheit aus Christen besteht, von den Grundsätzen der Religion, zu der wir uns bekennen, namentlich in Bezug auf die Hilfe, die man dem Nächsten leistet, in Bezug auf das Mitgefühl mit den Schicksalen, dem alte leidende Leute entgegen gehen, sich einigermaßen durchdriugeu ließe. Trotz aller Opposition wurde die soziale Reform — wenn auch gehemmt und in ein lang sameres Tempo gebracht — nicht ausgehalteu. — Das warme und innige Empfinden des großen Staatsmannes für die Armen und Schwachen, das sich nicht in wohlfeilen Beileidsphrasen erschöpfte, sondern unter mannigfachen Schwierigkeiten inmitten erdrückender Arbeitslast, inmitten argen Verkennens und groben Undankes gerade aus Kreisen, denen er die helfende Hand bot, unermüdet und un beirrt auf das Rettungswerl hin arbeitete, ist gewiß ein untrüg liches Zeichen für Bismarck's tiefcs Verständniß der Zeit, wie für sein edles Herz! Doch kleine Maßnahmen, Palliativmittel. Zeitgewinnen und dergleichen armselige Auskunstsv. .suche landläufiger Dutzendpraktiker sind nicht nach seinem Geschmack:. Er hat Alles in großem Style gemacht — und so verbinden sich mit den oben erwähnten Gesetzes- vorlagen die Steuerreform, die Zollorganisalionen und das Kühnste und Ueberraschendste, das wir in neuester Zeit geschaut: die deutsche Kolonialpolitikl All' das soll einem Zwecke dienen: dem Wohlstände der deutschen Nation, dem Aufschwungs seiner Industrie und maritimen Macht, der Eindämmung der englischen Herrschaft, der Besserung des Looses der arbeitenden Klaffen. Ich stehe nicht an, diese Seite der Thätigkeit Bismarck's in gewissem Sinne mit der Arbeit Richelieu's und Colbert's zu vergleichen, — Bismarck zeigte aber auch in seinem Wirken während des letzten Dezenniums, daß er stets verkannt, daß er, wie alles wahrhaft Große, von der seichten Durchschnittsbildung falsch ausgesaßt werde. Wie selbstgefällig ver sicherten nicht blos eitle Tagesgrößen der parlamentarischen Opposition und gewisse Zeitungen, der Kanzler werde alt, er Werve müde und verstehe die Zeit nicht mehr — auch wohlmeinende, befreundete Stimmen behaupteten in ihrer Verblendung, man müsse froh sein, wenn der Kanzler das Reich zusammen halte. Weiteres müsse er seinen Nachfolgern überlassen. Wie hat er sie alle Lügen gestraft! Keine Spur von Ermüdung oder Schlaffheit! Immer neue, immer größere Ziele und Aufgaben sind es, die er sich gesetzt! Nichts aber in ihnen von dem falschen Flittergold jener Glorie des ersten und zweiten Kaiserreiches; nichts von der frevelhaften Verletzung anderer Nationen, wie sie der vierzehnte Ludwig geübt; nichts von eitlem, selbstgefälligem Vordrängen der eigenen Persönlichkeit; kein leichtsinniges Spielen mit Gut und Blut der Nation, nein: — den Frieden Europas zu wahren, das eigene Volksthum zu kräftigen und gesund zu erhalten, das ist die Aufgabe jenes Lebens, welches jeder gute Deutsche bis an die äußerste Grenze der menschlichen Existenz ver längert wünscht. Denn gegen alle Feinde des Deutschthums ist Bismarck stets mit offenem Visir kampfbereit gestanden. Ob cs gegen den „Erbfeind" galt oder die alten Gegner deutscher Einheit, immer war Bismarck, wie man ihn in diesen Tagen so oft und mit Recht genannt hat — Deutschlands getreuer Eckhart! Mochten auch an seinem Jubeltage die Gegner des deutschen Geistes in verbissenem Grolle sich zurückziehen — die Gesammthcit der Nation war doch einig in ihrer bewundernden Dankbarkeit. Sie war einig in ihrer Liebe, in ihrem Vertrauen zu dem, welcher statt des alten, so lange unbeachteten Imperativs: Seid einig! den strammen Jndicativ: Wir sind einig! machtvoll gesetzt. Ja wohl, an Bismarck's Jubeltage hat es sich wieder in ergreifender Größe gezeigt: Deutschland ist einig! An die herzerquickendsten Szenen der Geschichte gemahnte die schlichte, einfach menschliche und eben darum so rührende Weise, in welcher Kaiser Wilhelm seinem großen Kanzler dankte. Und wie dieser den Dank wieder aufnahm, wie das ganze Volk in seinen wahren und echten Vertretern, in der Zierde der Wissenschaft, dem arbeitenden Bürgerthum, der emporwachsenden aka demischen Jugend, in seinen Beamten und seiner Armee dieses Fest beging — wie es Bismarck's Geburtsfest ohue Thcaterpomp, so recht aus dem Herzen heraus als ein trautes Familienfest feierte — das war wieder die liebe, treue, heimische Art — ein erhebender Beweis für die kernige Gesundheit des deutschen Stammes! Wnder zog eS durch unser Inneres, wie in jenen unvergeßlichen Tagen, in denen die französische Kriegserklärung so mannhafter Einmüthigkeit begegnete; in denen die Siege der deutschen Heere freudiges Selbstgefühl er weckten. — Es lag eine epische Größe in diesen Erinnerungstagen, die Jeden besser machte, der sich in die Betrachtung des einzigen Mannes vertiefte. So aber wird es auch bleiben für und für! Wärme und Kraft werden stets dem Bilde des Gewaltigen entströmen, und die spätesten Geschlechter werden das Wort ein Wahrwort nennen, das ei» — Engländer über Bismarck gesprochen: „Er steht da, ein Koloß mit einem Welttheil als Sockel!" Au- den Erinnerungen eiries alten Chemnitzers. vm. Durch schlechte Ernten trat eine große Thcuerung ein. Ein 6 Psund-Brot kostete beispielsweise bis nächsten Spätsommer 10, 15 sogar 18 Groschen; die Bäcker konnten einfach kein Brot backen; einige derselben versteckten das Gebäck sogar in die Ställe, um in nächster Zeit die Brotpreise noch höher zu schrauben. An einem schönen Hcrbstabcnd bei Vollmondschein empörte sich fast die ganze Einwohnerschaft. In der inneren Stadt und allen Vor städten zogen große Trupps, voran Weiber und erwachsene Jungen- mit Steinen in Schürzen und Taschen, zu allen Bäckerläden, demolirten die Läden, schlugen die Fenster ein, rissen die Läden ab, und dann hieß eS: Vorwärts marsch zu einem andern Bäcker. Die Kommunalgarde war auf dem Markt aufgestellt, verhielt sich aber mehr passiv; einige Züge rückten wohl nach mehreren Punkten ab, wurden aber von der großen Ueberzahl der Menschen auseinander getrieben; die Arbeiter, welche im vorigen Jahre zum Sitzen gekommen waren, wurden auch befreit. Es wurde aber wieder Ruhr, weil später Militär cinrückte. Im Jahre 1848, wo in Paris die Revolution ausbrach, und in allen Ländern dasselbe geschah, kam cs auch in Chemnitz zum Aufstand. Barrikaden wurden errichtet, in der Friedrichstraße, am Plav, Lohgaffe, Webergaffe, Johannisgaffe und Annabergerstraße. Die vier Kompagnien der inneren Stadt schoflen nach den Barrikaden und in der Johannisgasse wurde ein Mann aus dem Gebirge er schaffen, ein anderer am Hause der Herren Hösel u. Söhne am Plan. Zahlreiche Verwundete gabs bei der Webergasse und Lohgassc. Jetzt rückte wieder Kavallerie ein; aus der Lohgasse war Draht und Glas gestreut, damit sich die Kavallerie Pferde die Füße verwunden sollten, einige Dächer der Häuser waren aufgedeckt worden und wurde die Kavallerie mit Dachziegeln und auch heißem Wasser von oben herab beschüttet. Am FriedrichSplatz, Mühlenstraße, Brühl, Gartcnstraße und Neugasse wurde von der Kavallerie auf das Volk geschossen, je doch hoch angeschlagen, daß heißt, in die Luft geschossen; es gab aber trotzdem Verwundete genug. Durch das Militär ward schließ lich die Ruhe wieder hergestellt. Es zeigte sich nun abermals, daß die Kommunalgarde gegen ihre Mitbewohner nicht als Soldateska austreten wollte.. Die Ar beiter Kompagnien waren vor mehreren Jahren -schon auf gelöst und entwaffnet worden. Als der Maiausstand in Dre-den ausbrach, rückte die ganze Kommunalgarde Montag früh nach Dresden aus. Die hiesigen Turner waren schon Donnerstags vorher nach Dresden gefahren und kämpften bereits vier Tage auf dm dortigen Barrikaden. Nach Unterdrückung der Revolution in Dresden geschah es auch hier, daß unser schöner Turnplatz (jetzt Herrn Frei's Holzhof, beim Gasthof zum Stern) eines schön,» Tages von der Amtshauptmannschaft demolirt wurde. Alle Turngeräthschasten wurden weggeräumt, resp. weggesägt. Nun trat wieder die Reaktion mit voller Strenge gegen alle freisinnigen Aeußerungen hervor, bis end lich auch die Kommunalgarde ausgelöst wurde. Alle Waffen wurden auf die Augustusburg geschafft, Wo vielleicht heute noch solche liegen. Die vier Stadtthore wurden weggerissen, und der Stadtgraben nach und nach ausgesüllt, sowie einzelne Häuser darauf gebaut Doch muß ich noch von der Zeit der Kommunalgarde einige hübsche Vor kommnisse erwähnen. Alle Jahre am 4. September war Konstitutionsfest, welches aus dem Anger abgehalten wurde; da war große Ncgiments-Parade und Exerzieren, auch wurde im Feuer exerziert. Jeder Kommunalgardist bekam Freibier, Knackwurst und Pfennigbrot oder Semmel; da halte wieder jede Kompagnie ihre Abtheilung, das war ein vergnügtes Fest; Prinz Johann kam selbst oftmals zur Revue hierher und im Sep tember oftmals zur Jnspizirung; da wurde defilirt in Zügen, in Kompagnien und Kolonnen und zulctzt das ganze Regiment in Front aufgestellt von der Linde bis hinunter zum Brühl, um im Feuer zu exerzieren. Da geschah es nun häufig, daß beim Schießen Ladestöcke mit sortgeschoffen wurden. Diese flogen oft bis zum Acciszaun hinaus. Herr Doktor Römisch war Kommandant über die Garde. Da passirte es auch einmal, als in Front im Feuer exerziert wurde, wo der König und die ganze Generalität anwesend war uud vor der Front stand, da sprach der Kommandant, Doktor Römisch: „Kommen Se, Eure Majestät, Herr König, mer wollen uns hinter der Front ausstellen!" Der König fragte: „Warum, warum ?" Der Kommandant antwortete: „Ja, sehen Se, Herr König, mer is vorne 's Lebens nich sicher; obgleich hoch geschossen wird, 's schießen aber immer welche Ladestöcke mit fort." Die Scheibenschießen im Sommer, welche im Schießhaus, spä'er auf der Scheibe in Furth und bei Matthes (Schloßwald) abgehalten wurden, waren hübsche Feste; jeden Montag hatte eine Kompagnie Scheibenschießen. Vormittags wurde mit Musik ausgerückt, Nach mittags war Konzert auf dem Festplatz, wo die Frauen und Kinder auch ihr Vergnügen hatten mit allerlei Belustigungen, und Abends war Kommunalball; das waren mit die schönsten Tage, wo sich Alle- darauf freute. Spaßhafte Episoden passirten Abends auf der Wache. Einmal wo ich mit auf die Wache gezogen war, mußte ich mit einem Zuge Nachts 12 Uhr patrouilliren gehen, es war Sonnabends, unser Zugführer, ein gut situirtcr Kaufmann, hatte denselben Abend recht gute Laune. Wir marschirten iu aller Ruhe einige Straßen hindurch, die Schankwirthschaften waren schon leer. Jetzt fing cs leise an zu regnen, ein Schneidermeister, welcher die gute Laune unseres Zug führers beobachtet hatte, gab uns einen Wink; aus der Langegaffe fing cs heftiger an zu regnen und die Mannschaften äußerten zum Zugführer: „Es nieselt und wird immer ärger, ich dächte, wir kehrten einmal ein, es wird immer kälter, wir wollen einen Schnaps trinken." „Ja, ja," hieß cs einstimmig, „mer wolt'n einkehren." Nun wa, aber blos noch im „rothcn Ochsen," Langegasse (der Wirih hieß Fleischer Günther) Licht, also hinein. Der Schneidermeister that furchtbar frostig, und sagte: „Ich trinke ein Glas Grog, das erwärmt, nicht wahr, Herr Zugführer?" „Nun ja," meinte dieser, „ich will auch eins trinken. Warten Sie, ich will den Grog in der Küche selbst bestellen." Der Schneidermeister meinte: „Nun paßt auf, es setzt für Alle Grog," und richtig, in einer halben Stunde saßen die Schutzmannschasten der Stadt um eine dampfende Terrine. Nach und nach waren wir Alle angesäuselt. Ein armer Webermeister er kühnte sich, nahm das Glas zur Hand und trank es unserm Herrn Zugführer zu: „Na, mein guter Zugführer, wir wollen Brüderschaft trinken, auf Dein Wohl, Alle anstoßen, Du sollst leben, Herr Zug führer! Vivat hoch, hoch, hoch!" Es war früh 4 Uhr, als wir wieder auf der Hauptwache eintrascn und eben angetreten wurde zum Nachhausemarsch. Der Rapport unseres Zugsithres war: „Alles ruhig, nichts Verdächtiges." Die Accishäuser und Zäune wurden Ansangs der fünfziger Jahre weggerissen. Noch muß ich ein großes Fest erwähnen, welches 1852 ans dem Schießhause gefeiert wurde; es war das sogenannte Verdrüderungs- sest am 6. August, in Folge einer den Sachsen gegebenen freieren Verfassung, nach dem Schema der deutschen Grundrechte. Es lag ein Bataillon Infanterie in Chemnitz, in Ncukirchen auch eine Kom pagnie. Auf dem Schießanger gab es Schank- und Eßbuden. Jede Kompagnie der Kommunalgarde hatte ihre Abtheilung; da wurde Freibier nebst Essen an alle Mannschaften gegeben, auch das Militär bekam diese Begünstigung. Die Neukirchener Kompagnie war auch eingerückt. Da wurde nun gemeinschaftlich exerziert, gegessen und getrunken, mit Offizieren und Gemeinen, bei Militär und Kommunal garde. Personen aus dem Publikum, welche arretiert wurden, mußten trinken und sich dann loskaufen, während vier Musikchöre spielten. Abends war Illumination. Wie gesagt, da hieß es: „Seid um schlungen, Millionen, einen Kuß der ganzen Welt." Und so ging es diesen Tag in ganz Sachsen her, selbst in angrenzenden böhmischen Ortschaften wurde dieses Fest mit den Sachsen gefeiert. Veraulworilicher Redakteur Frau.j Götze iu Chemnitz. - Druck und Verlaq von Alexander Wiede in Chcmmtz.
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