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A »kl MMMt Großmutter sitzt mit der ihr eigenen An- mut im bequemen Lehnstuhl am Kachelofen -er behagliche Wärme ausstrahlt. Entgegen Ihrer Gewohnheit läßt st« die nimmermüden Hände feiern. In der Silvesternacht will die Greisin den Stimmen in ihrem Innern lau schen. Deshalb hat sie sich zurückgezogen auS dem fröhlichen Familienkreise, der in den unteren Räumen des Hauses bet ihren Kindern in hei terer Stimmung Silvester feiert. Während die Jugend vom Jahreswechsel die Erfüllung ihrer Wünsche erwartet und kein Bangen vor der Zukunft kennt, lachend und tanzend über die Schwelle des neuen Jahres schreiten wird, gelten Großmutters Gedanken der Vergangen heit. Ihr Zauber umspinnt die Matrone in mitten -eS traulichen Mansardenstüöchens mit den altmodischen Kirschholzmöbeln; das Pa- stellbilü über der Kommode ist erfüllt mit war mem Leben im Scheine der Kerzen des Ad ventskranzes, die Großmutter noch einmal ent zündet hat für die letzten Stunden des schei denden Jahres. Ein Frauenporträt von seltener Lieblichkeit stellt das Bild -ar; um das Oval des Gesichtes legen sich, die Ohren bedeckend, dunkle Zöpfe, über den in Reinheit strahlenden Augensternen zeichnen stch feingeschwungene Brauen ab, den kleinen roten Mund umspielt ein süßes Lä cheln. Die anmutige Gestalt wird umschloßen von einem silbergrauen Taffetkleid in der Tracht des ausgehenden Biedermeiers. DaS weiße Spitzenfichu ist zusammengehalten durch eine große Brosche, die im Perlenkranze eine feiugeschnittene Gemme aufweist. DaS schöne Köpfchen wird ein wenig beschattet von einem großen Hellen Strohhut, -eßen geschwungene Krempe die sich um seinen Kopf schmiegende j »arte Efenranke sehen läßt. Plötzlich unterbricht ein Klopfen die Stille, die Tür öffnet sich und herein kommt im gra ziösen Tanzschritt vergangener Zeit ein jun ge- Mädchen. Eine weiche Stimme ertönt: „Großmütterchen, wir Geschwister und unsere Vasen und Vettern und andere junge Gäste, wir haben uns verkleidet. Schan mich an, wie gefalle ich dir?* Die Greisin schaut erst verwundert -rein; denn sie glaubte im ersten Augenblicke, daß -aS Pastellbild aus dem Rahmen gestiegen wäre, als ihre Enkeltochter im Biedermeier kostüm vor ihr stand. Gerührt ruhen Groß mutters gütige Augen auf dem jungen Mcn- schenkinde; das verbeugt sich gravitätisch vor dem Frauenbild an der geblümten Wand und sagt schalkhaft: „Guten Tag, Tante Lisette, heute könnte ich deine Schwester sein, wenn ich auch nicht so schön und anmutig bin wie du:* Lachend wirft die unechte Biedermeierin der echten eine Kußhand zu, und nach kurzer fröh licher Unterhaltung zwischen Großmutter und Enkelin ist diese wie eine lustige Spukgestalt verschwunden. Die Stille ringsum läßt die Gedanken der Matrone zurückschweifen in Kindheit und Ju gend, da sie selbst daheim am Rhein, den sie nun schon so lange nicht mehr gesehen hat, mit Verwandten und Freunden sich oft und gern verkleidet hat. Die lustigste und übermütigste war immer Lisette gewesen — die Augen der alten Krau grüßen freundlich hinüber zu ihrem Bild — Lisette, die in früher Jugend Vater und Mutter verloren und dann bei -er ältesten verheirateten Schwester und deren Gatten, den Eltern der Greisin, eine zweite Heimat gefunden hatte. Damals war sie selbst noch ein Mädelchen vo.. knapp acht Jahren gewesen, und die „Tante Lisette" ward ihr zur älteren Schwe ster, später zur Freundin. Als Lisette dann eines Tages in Myrtenkranz und Schleier das Haus verlassen hatte, da war eine große Lücke im Familienkreise entstanden, und trotz der weiten Entfernung Sachsens vom Rhein hatte man die Nciseschwierigkeiten nicht gescheut und einander fleißig besucht; denn auch Lisettes Mann, der lustige Onkel Ewald, erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Besaß er nicht die lustige Ader, den erfrischenden Humor des ge borenen Rheinländers? Und doch hatte seine Wiege im Herzen der deutschen Staaten ge- standen Ewal-S Schalk und seine Gabe, den Augenblick zu ergreifen und zu nützen, waren die Veranlassung gewesen, daß er und Lisette ein glückliches Paar geworden waren. DaS hatte sich folgendermaßen zugetragen: fragte nach Namen und Wohnung der jungen Demoiselle in der kornblumenblauen Robe Die dicke Fischhändlerin brach in Staunen auS: „Der Herr ist wohl nicht von hier? Sonst wüßte er doch, daß das Fräulein, das schönste Mädchen der Stadt, Fräulein Lisette DommcS, Nichte von Rat Büßgen ist." Danken- empfahl stch der Verliebte. Sein Plan war gefaßt: diese oder keine! Im näch sten Kramladen, in dem Bonbons, Stiefel, He recht begreiflich; ebeirso «nerMlrNch »klsG «D» daß am nächsten Morgen, als der junge Mau» mit der Postkutsche zum Tor« hinausfuhr, während der Postillon wehmütig sein Horn t» die herbstliche Kühle ertönen ließ: „Muß t denn, muß i denn zum Städtle hinaus, und du, mein Schatz, bleibst hier . . .", hinter -er Mull- gardtne Lisettes dunkle Augen zärtlich und sehnsüchtig dem Gespann nachblickten. In Ewalds Herzen aber — so erzählte er Hundert Jahre Deutscher Zollverein Am l. Januar 1834 trat nach langjährigen Verhandlungen zwischen den einzelnen deutschen Staaten zum erstenmal der Deutsche Zoll- und Haudelsverein ins Leben, der di« Erhebung von Ein- und Ausfuhrzöllen an den innerdeutschen Landesgrenzen beseitigte und damit Deutschland zum einheitlichen Verkehrsgebiet machte, ein höchst bedeutsamer volkswirtschaftlicher Akt, gewissermaßen der wirt- . schaftliche Vorläufer der politischen Einigung von 1871. — Ein Bild, das die Gründer des Zollvereins bei einer Sjtzung zeigt; von links: Freiherr von Motz, K. v. Maaßen, W. A. von Klewitz und A. F. von Eichhorn. ,Zn Sachsen, wo die schönen Mädchen auf den Bäumen wachsen", hatte Ewald keins ge sunden, das schön genug gewesen wäre, seine Eheliebste zu werd n. Die Sächsinnen waren seiner Ansicht na. außerdem nicht tempera mentvoll genug; da gefielen ihm die rheinr- schen Mä-el viel bester, die er alljährlich auf den Geschäftsfahrten zur Frankfurter Messe kennen lernte, wenn er eine kleine Reise an den Rhein anschloß. Eines Tages, als er wie der mal in solch kleinem wonnigen Weinstä-t- chen zu Besuch war, sollte ihn endlich sein Schicksal erreichen. Sah er da über den Marktplatz ein Mäd- chen kommen, nein, war es nicht ein bolder Engel, durch den ihn der Himmel in Ver suchung führen wollte? Wäre ihm die Gabe der Dichtkunst verliehen gewesen, er hätte sicher ein Sonett versaßt: „An die holde Un bekannte." So aber dachte Ewald nur in Prosa: ist das ein hübsches Mädchen! Die Schöne schritt leichtfüßig daher in einem korn blumenblauen Kleide, und es schien sie keines wegs zu stören, daß die Leute ihr nachblickten, voll Bewunderung die Männer, voll Neid die Frauen. Die drei Reihen von Volants am weiten Rock zitterten über den kleinen Schuhen mit den breiten Schnallen. Die breiten Binde bänder des Schutenhutes flatterten im leich ten Lüstchen, und die langen Fransen des in dischen Schals, den sie um die vollen Schultern trug, tänzelten bei jedem Schritt. Schwarze Filethandschuhe umschlossen die kleinen Hände; in der einen hielt sie ein leeres Fischnetz, in -er anderen einen zierlichen Sonnenschirm und einen Pompadour, der zwei schnäbelnde Täubchen, in weihen Perlen gestickt, zeigte. Der Schwerenöter Ewald erstarrte fast über so viel Lieblichkeit; dann folgte er der holden Unbekannten — wie ein Primaner seiner ersten Liebe — bis sie einen Laden betrat, ihr Fischnetz füllen zu lassen. Kaum hatte sie sich wieder entfernt, schritt Ewald über des Läd- chens Schwelle. Er wollte keineswegs einen Karpfen oder einen Hew» erstehen, nein, er ringe, Puppen, Speckseiten, Segelleinen und andere sich wesensfremde Dinge ein verträg liches Dasein fristeten, erstand Ewald das feinste gestickte Leinentüchlein; denn nur em solches bevorzugtes seiner Gattung wäre wert, in Berührung mit Lisettes feinem Näschen zu kommen. Also trefflich ausgerüstet, begab sich der Entflammte zur wohllöblichen Familie Büß gen, zog den in Perlen gestickten Klingelzug an der Flurtür und ließ sich melden unter dem Vorwande, er habe etwas dem Fräulein Dom mes Gehörendes aus der Straße gefunden und wolle es nur in deren eigene Hände zu rücklegen. Lisette ließ nicht lange auf sich warten. Ihr Herz klopfte. Ob d«r Herr wohl der fremde Kavalier sein würde, der ihr durch die Straßen und Gassen gefolgt war, als sie zum Fischkauf ging? Errötend erkannte sie ihn wieder. Gab es im Städtchen einen zwei ten solchen „cavalier a la mode", der den mus- katnußfarbenen Rock mit den goldenen Knöp fen, die geblümte Atlasweste, die veilchenblaue Halsbinde mit gleichem Schick zu tragen ver stand? Saß einem anderen -er graue Zylinder ebenso keck im Nacken, als wolle sein Besitzer fragen: was kostet -ie Welt? Da Lisette stets der rheinische Schalk im Nacken saß, bekannte sie sich zu Ewalds freu diger Ueberraschung als Eigentümerin jenes Tüchleins, das von Ewald — dem Filou — als Vorwand zur Anknüpfung der Bekannt schaft ersonnen worden war! Wie es kam, daß der galante Monsieur aus Lachsen jn -er „guten Stube" länger verweilte, als das Tüchleiu Anlaß gab, daß Vater und Mutter, Lisettes Schwester und Schwager, ihn schließlich ausforderten, jenen von Lisette be sorgten Hecht mit zu verspeisen und ein Gläs chen Weißwein vom letzten vorzüglichen Jahr gang zu probieren, und daß bei dem leckeren Mahle die Augenpaare Lisettes und des Mon sieurs Ewald in kurzer Zeit eine innige, nur den beiden verständliche Sprache lernten, war für Lisettes kleine Nichten und "**ffen nicht später — jubelte es: aus Wiedersehen, du Holde, du Süße! Im Frühling würde er sicher zu rückkehren. Aber schon ehe stch das Jahr -ein Ende neigte, hielt es den Verliebten nicht mehr in der sächsischen Residenz. Im Städtchen am Rhein fand er Demoiselle Dommes wie der, schöner noch, als sie in seiner Erinnerung gelebt hatte. Und Lisette? Ihr heiteres Temperament hatte zuweilen einem Hang zum Träumen weichen müssen, und dabei hatte der elegante Monsieur aus Sachsen eine beträchtliche Nolle gespielt. Sie fand — gegen ihre bisherige Gewohnheit — Gefallen an gefühlvollen Ro manen und erkor zu ihrem Lieblingsbuchc Jean Pauls Gedichtband: „Ans dem Immer grün unserer Gefühle." Aber als dann Ewald mit all ssimom mo dischen Kavaliertum wieder erschien«, war, da war- sie wieder die kecke, übermütige Lisette. Am Silvestermorgen ließ sie sich von Ewald die Schlittschuhe anschnallen, die er ihr mit gebracht hatte, und von ihm unterweisen m der neuen Kunst, auf stählernen Schienen über -ie Eisfläche -es Weihers zu gleiten. Ja, und da, wie die frische Winterlust Lisettes weiche Wangen köstlich zart und rosig malte, als tau send glitzernde Schneeslöckchen stch in des Mäd chens krauses Haar setzten, das vorwitzig unter dem kecken Pelzmützchen hervorquoll, da war's um Ewalds Beherrschung geschehen. Er sank vor der holden Königin seines Herzens nieder aufs Knie — nicht beachtend, daß die Berüh rung des feinen Beinkleides mit der Eisfläche dem ersteren übel bekommen würde — und warb um die Hand seiner Erkorenen so feurig wie nur je ein Verliebter! Einzig und allein die Wintersonne, die neugierig die Schnee wolken zerteilt hatte und nun über ihr breites, gutmütiges Gesicht wohlgefällig lachte, sah die zärtlichen Küsse der Liebenden. Im Sommer mußte dann die Familie Büß- gen die lustige Lisette Dommes ziehen lassen. Der verliebte junge Ehemann hob sie selbst ,u das Chaischen, und so schaute alles so lieb und Hundert Jahre Telefon Am 7. Januar 1834 wurde der Physiker Philipp Reis in Gelnhausen geboren, dem die Menkchheik die Konstruktion deS ersten Telephon-, das Reis im Jahre 1800 erfand, verdankt. R. war im väterlichen Farbengeschäft tätig und betrieb nebenbei rege mathe mtischc und natur wissenschaftliche Studien. Er war später als Lehrer am Garnierschen Institut in Fried, ich»-. > , bet Homburg tätig. Reis starb am 14. Januar 1874. — Eine Aufnahme von Philipp ReiS mit seinen Schülern aus der Friedrichsdorfer ZrU» gemütvoll aus wie auf dem Bilde „Hochzeits reise", das später Moritz von Schwind gemalt hat. Auf den Rücksitz des Wägelchens schwang sich ein blinder Passagier: Amor, der Schlin gel, der triumphierend die weite Reise bis Elö- slorenz mitmachte und sich heimlich mit ein schlich in das traute, junge Heim; er ließ sich nicht wieder an die Lust letzen . . . Die Greisin hat dieses Stücklein sonniger Vergangenheit im Geiste vorttberziehen lasteu. Die aus den unteren Räumen herauftönende Musik, Radio oder Grammophon, ruft die alte Fruu aus der heiteren Romantik des Bieder meier in die Gegenwart zurück. Und nun wandert, die Gedanken zur Enkelin, die in munterer Laune im Gewand jener Zeit in der heutigen Silvesternacht lachen und fröhlich sein wird. Daß sie, die wie Großtante Lisette stets ein Lachen in den dunklen Augen und ein Lin aus den Lippen hat, ein ebenso reiches Glück wie einst die Demoiselle Dommes finden möge, ist Großmutters inniger Wunsch! Die'zärt lich geliebte Enkelin denkt zur selben Stunde, mährend sie bei den rhythmisch-straffen Klän gen der Grammophonplatten mit einem jun gen Freund ins neue Jahr hineintanzt: habe ich bisher gewußt, daß das Leben so schön sein kann, daß blaue Männeraugen so vcrheißungs- voll strahlen können, so -aß man in sie wie in -en Himmel schaut? Was üem jungen Mädchen des 20. Jahr hunderts sonst noch an zärtlichen Gefühlen 'durch -aS Köpfchen geht, ist fast -a- gleiche, da vor nahezu hundert Jahren der schönen Lisette Herz bewegte, als sie -en Monsieur Ewalt kenne» und lieben lernt«. Ewiger Kre1Sl«f -e-L«-en-! H^ Oe,