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Sächsischer Landes-Anzeiger : 17.03.1888
- Erscheinungsdatum
- 1888-03-17
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512384622-188803177
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512384622-18880317
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-512384622-18880317
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsischer Landes-Anzeiger
-
Jahr
1888
-
Monat
1888-03
- Tag 1888-03-17
-
Monat
1888-03
-
Jahr
1888
- Titel
- Sächsischer Landes-Anzeiger : 17.03.1888
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Nr. 64. — 8. Jahrgang Der jeden Wochentag Abend (mit Datum der folgende» Tages) zur Versendung gelangende „Sächsische LandeS-Anzelgcr" mit täglich einem besonderen Unter« haltunaSolatt« und mit dem Extrabeiblatt Luftige» Bilderbuch kostet bei den Ausgabe stellen monatlich 70 Pig., bei den Post-Anst. 75 Pf. (1888er ZtgS.-PreiSliste Nr. »03ä.) .irAbonnenten ersi. . , »mmer.Eiseiibabnfahrplanhefl für Sachsen. «inter-Eisenbahiifa-rdlaiibeft fiir Sach en. Jsiustr. Kalender des Sächsischen Laiidboten. IllustrirteS JahreSbuch desLander-ftiizeigers. Sächsischer jiiliiks-Aiiskisikl mit „Chemnitzer Stadt-Anzeiger". Unparteiische tägliche Zeitnng für Sachsen nn- Thüringen. Sonnabend, 17. März 1888. «ntt«iendkrirder.,S»chs.«ande-.«n,eIger^!: aum ei. !n«r schmalen Corvu-zeile l Stelle (ljpalt.Petitzeile) 30! grh " Raum BeiW?ederholung großer Annoncen Rabatt. Bei Bestellungen von Aurwärtd wolle man Jnsertionsbetrag (in Briefmarke») beißigen tje 8 Silben CorpnSschrift bilden ca. 1 Zeile.) Annoncenannahme nur bis Vorinittag. Akltt: Mnsin Nick. Buchdnilkcrci, Csiciuiiitz. Theaterstraße S (Ferusprechstclle Nr. 136). Telegr.'Adr.: Lander-Anzeiger, Chemnitz. Mit täglich einen: besonderen Unterhaltnngsblatt: i. Kleine Botschaft — 2. Sächsischer Erzähler — 3. Sächsische Gerichts-Zeitung 4. Sächsisches Allerlei — 5. Jllnsirirtes Unterhaltnngsblatt — 6 Sonntagsblatt — Ertra-Beiblatt: Luftiges Bilderbuch. Telegraphische Nachrichten Vom 15. März. Brüssel. Heute tritt im hiesigen Ministerium des Auswär tigen eine internationale Konferenz behufs Schaffung eines inter nationalen Zolltarif-Bureaus in Brüssel zusammen; 72 Staate» sind vertreten, blos Deutschland, Oesterreich-Ungarn und Frankreich lehnten die Beschickung der Konferenz unter der Motivirung ab, daß in diesen Staaten die internationalen Zolltarife in genügender Form kundgemacht werden. Paris. Das „XIX. Siecle" bezichtigt den Marine-Minister Krantz und dessen Vorgänger Aube gemeinsamer Durchstechereien bei der Organisation des Transportdienstes von Toulon nach Tonki». Staatsdampfer, angeblich im Werthe von 40 Millionen, seien für 5 Millionen an eine Privatgesellschaft verkauft worden. Die Zeitung veröffentlicht Aube's Depeschen und fordert Aufklärung oder Straf prozeß gegen das Touloner Blatt „Iw Var Hepndlieains", welches die Anklage zuerst erhoben hatte. London. Auf Befehl des Herzogs von Cambridge werden am Freitag anläßlich der Beisetzung der Leiche Kaiser Wilhelms in sämmtlichen größeren Garnisonen des Königreichs und an den Flotten stationen des In- und Auslandes die Flaggen halbmast gehißt und um Mittag 91 Kanonenschüsse abgefcnert werden. Am Sonntag findet eine Trauerfeier in der deutschen königlichen Kapelle (im St. James-Palaste) und in allen deutschen Kirchen statt. In der könig lichen Kapelle wird der Kaplan vr. Waldbaum die Feier leiten, welcher die Minister und der deutsche Botschafter beiwohnen werden. — Am 34. März veranstalten die Londoner Deutschen eine große Versammlung in der Exeter Hall, auf welcher Max Müller die Ge- dächtnißrede halten wird. Sofia. Herzogin Clementine von Coburg verlängerte ihren Aufenthalt in Sofia für unbestimmte Zeit. Den Manen Kaiser Wilhelms. Chemnitz, den 16. März. So weit die menschliche Erinnerung zurückrcicht, hat die Welt «ine Trauerfeier, wie sie heute in Berlin stattfindct, nicht gesehen; nie zuvor hat eine den ganzen Erdball umfassende Thcilnahme den Tod eines Helden, eines ruhmgekrönten, allverehrtcn und geliebten Herrschers in solcher Weise geehrt. Daß selbst die mächtigen, sonst allen äußeren Einwirkungen sich verschließenden Herrscher Asiens im Geiste wenigstens bei der.Trauer- feicrlichkeit zugegen sein werden, das beweisen die Beileidsbezeugungen der Kaiser von China und Japan, des Schahs von Persien und Andrer; um Kaiser Wilhelms sterbliche Ueberreste aber haben sich in der Hauptstadt des deutschen Reiches die Abgesandten aller euro päischen Staaten, darunter die Könige von Sachsen, Belgien und Rumänien, die Kronprinzen und Thronfolger von Oesterreich-Ungarn, Italien, England, Rußland, Schweden und Griechenland versammelt. Die Reichhaltigkeit der Ordnung des Leichcnzuges, wie sie durch das Reglement vom 13. März festgestellt war, giebt Kunde von der Macht und Herrlichkeit des Reiches, welches durch die weise, sieg reiche und glückliche Regierung des verblichenen Kaisers aufgerichtct worden ist. Eine solche Machtfülle hatte noch kein deutscher Kaiser der Vergangenheit aufzuweiscn, man muß bis auf das römische Alter thum zurückgehen, um Aehnlichcs anzutreffcn. Aber Eins fehlte den Machthabern des römischen Reiches — die Liebe ihrer Unterthancn und die Zuneigung und Verehrung der außerhalb ihres Machtbereichs lebenden Völker, sie herrschten über Sklaven oder Halbfrcic, die sich ihrer Willkür und ihren Launen aus Klugheit unterwarfen, aber nicht über ein großes Volk, welches freudig ihrer Führung folgte und in ihnen die berufensten und besten Vertreter der die Gesammtheit beseelenden Gedanken und Gefühle erkannte. Selbst ein Titus und Von Geschlecht zu Geschlecht. Erzählung von W. Widdern. Fortsetzung. Nachdruck verboten. Belloni beugte sich mit höflicher Entschuldigung, um seine Unge schicklichkeit gut zu machen. Aber als er die silbernen Klammern schließen wollte, lief Plötzlich ein leises Beben durch die ebenmäßige, kraftvolle Gestalt. Die großen, grauen Augen des Mannes hingen wie gebannt an dem Bilde, das der Zufall ihm hier in dem offenen Album zeigte. Es war das sehr fein nach einem Oelgemälde anS- geführte Cvntcrfei eines schönen Männerkopfes, — eines Gesichts, dessen klassisch idealer Schnitt ganz dazu angethan schien, Jedermann zu frappiren, wenn nicht zu begeistern. Aber die scharfen Züge des Doctors zeigten nichts von dergleichen, weder Bewunderung noch Staunen, sie schienen im Gegentheil fast versteinert vor Schreck und Entsetzen. Die Damen sahen sich betroffen an. „Kannten Sie meinen ersten Gatten ?" konnte dann die Baronin nicht an sich halten zu fragen. „Hat Graf Rüle von Görgenstcin Sie je beleidigt, Herr Doctor? Sie schauen so finster, mit so ver ändertem Gehchtsansdruck auf das Bild nieder, daß Sie mir diese Frage nicht übel deuten dürfen!" Belloni zuckte zusammen. Mit einer heftigen Gebcrde schlug er das Buch zu. Aber seine Hände bebten, als er nun den silbernen Verschluß ineinander schob. Dann athmete er tief auf, und sich aus seiner gebeugten Stellung erhebend, erwiderte er langsam, mit einem Tonfall in der Stimme, der von verhaltenem Schmerz zeugte: „Ja, ich kannte Ihren verstorbenen Gemahl! Aber — aber — Frau Baronin, — meine Erinnerungen an Graf Görgenstein sind nicht derartige, daß ich mit ihnen Wittwe und Töchter erfreuen könnte." Er hatte unter den letzten Worten seinen Platz verlassen. Die hohe Gestalt schien jedoch wie gebrochen; es war, als wenn der Doctor vergeblich gegen Empfindungen kämpfte, die ihn in diesem Augenblick fast zu überwältigen drohten. Die Baronin fühlte sich in hohem Grade beängstigt. Von den Übrigen Damen war außer der Gelähmten keine zugegen. Lotte Gröning und Angelica hatten sich aus dem Gemach entfernt, nachdem der Doctor sein ärztliches Verhör begonnen. Gitta zitterte, sie hatte das Gefühl, als stände sie vor einem neuen Unglück. Da sagte die Baronin leise: „Sonderbar, mein verstorbener Batte hat mir nie Ihres Namens Erwähnung gethan." ein Trajan, die wegen ihrer Milde und Gerechtigkeit von ihren Zeit genossen gepriesen wurden, waren Despoten, welche die ihnen von den Zeltverhältnissen gezogenen Schranken nicht zu durchbrechen und zu beseitigen vermochten, sie waren und blieben Despoten, die nur ich selbst Rechenschaft über ihr Thun abzulegen hatten und der nicht römischen Welt feindlich gegenüberstanden. Kaiser Wilhelm ist der Vertreter einer neuen Zeit, er hat der Welt das erhabene Beispiel gegeben, daß die Einheit und Unab hängigkeit einer großen Nation, selbst wenn sie nach langer Zerrissen heit und Schwäche durch siegreiche Kümpfe gegen ihre bisherigen Feinde und Unterdrücker gewonnen worden ist, darum doch nicht zur Bedrohung anderer Bölker zu führen braucht. Die Selbstbeschränkung ans Erstrebung eines gesteckten Zieles ohne Ucberschreitung desselben nach dessen Erreichung ist das Kennzeichen der langen und segens reichen Regierung Kaiser Wilhelms im Gegensatz zu der Maßlosigkeit des französischen Eroberers Napoleon I. Die erreichten kriegerischen Erfolge waren für Kaiser Wilhelm Zweck, um die Einheit und Un abhängigkeit des deutschen Volkes vor fremden Einflüssen zu sichern; für Napoleon I. war jeder Sieg nur ein Sporn, um dem Gedanken der Weltherrschaft, die er anstrebte, weitere Förderung zu bringen. An der Maßlosigkeit seiner Wünsche ist er zu Grunde gegangen, und durch das weise Maß, welches Kaiser Wilhelm stets inne hielt, hat er die moralische Herrschaft über die ganze civilisirte Welt erlangt Das ist der Triumph der segensreichen Regierung Kaiser Wilhelms, daß sie den Weltfrieden zum höchsten Zweck des staatlichen Lebens erhoben hat, vor solcher Weisheit und Mäßigung müssen die selbst süchtigen unchristlichen Gelüste streitsüchtiger Eroberer verstummen, sie können sich dem Einfluß so großer moralischer Ucberlcgenheit nicht entziehen, selbst wenn sie wollten, wozu es ihnen aber an Kraft und Frevelmuth gebricht. Kaiser Wilhelm war kein Triumphator im römischen Sinne, welcher die besiegten Könige und Herrscher gefesselt der schaulustigen Menge vorführte, aber er hat größere und nachhaltigere Triumphe gefeiert als seine römischen Vorbilder, indem er die Wiederaufrichtnng des gebeugten Rechtes zum höchsten Triumph seiner Regirrungs kunst erhob. Wir haben die Wirkungen dieser Kunst an uns selbst erfahren und wir sehen, daß sie auch in ganz Europa sich mit unwidersteh licher Kraft Bahn gebrochen haben. Nicht nur die Vertreter des ge einten Deutschlands erscheinen an der Bahre des todten Kaisers, um seinem Gedächtniß die gebührende Huldigung darzubringen, sondern selbst Diejenigen, welche den Frieden und die ungestörte Fort entwickelung des ncugeeinlen deutschen Reiches unablässig bedroht haben, konnten sich der Nothwenvigkeit nicht entziehen, an der allgemeinen Trauer der europäischen Staaten thcilzunchmen. Die Anwesenheit des russischen Thronfolgers und des französischen Generals Billot bei der Leichenfeier Kaiser Wilhelms sind die beredtesten Zeugnisse für die ungeheuren moralischen Erfolge der Weisheit Kaiser Wilhelms. Am Sarge Kaiser Wilhelms schweigen alle ehrgeizigen und unchrist- lichcn Pläne auf Veränderung der Karte Europas. Die Abgesandten aller europäischen Völker erscheinen friedlich und einmüthig, um den Manen des abgeschiedenen Kaisers ihre Huldigung darznbringen, und diese schwerwiegende Thatsache tröstet über manche trübe Erfahrung und Enttäuschung, welche die letzten Jahre gebracht haben. Politische Rrmdschau. Chemnitz, den 16. März. Deutsches Reich. Vom Hoflager in Charlottenburg sind auch gestern wieder befriedigende Nachrichten cingegangen: Das Befinden des Kaisers ist andauernd gut; er ging 10 Minuten im Garten spazieren. Wenn der Kaiser in der Nacht anfwacht, pflegt er meist etwas Bouillon zu nehmen. Die Ruhe der vergangenen Nacht war Ein eigcnthnmlicher Ton entrang sich Bcllonis Lippen. Es klang fast, als wenn er gewaltsam ein schmerzvolles Aechzcn zurück hielt. Dann sank die schmale, feine Hand des Doctors schwer aus die Lehne des Sessels, in dem er noch vor wenigen Minuten geruht. „Das glaube ich Ihnen wohl, Frau Baronin!" erwiderte er jetzt. „Der Name Belloni ist wohl nicht in seiner Heimath genannt worden, am allerwenigste» von dem Grafen selbst, und noch dazu vor den Ohren seiner Gemahlin und —" Belloni beendete den Satz nicht. Mit einer Kraft, die nur in diesem Manne wohnen konnte, bezwang er sich Plötzlich. Ehe die beiden ganz überrascht drein- schauenden Damen auch nur zur Besinnung kamen, wurde Belloni wieder vollständig gefaßt. Würdevoll und kalt stand er vor ihnen; cs war, als wenn man gar nicht mehr denselben Mann vor sich hatte. Die Baronin und Gitta konnten sich beim Anblick dieser Er scheinung, der kühlen, vornehmen, gemessenen Ruhe derselben kaum wieder die Scene in Erinnerung bringen, die sich doch eben vor ihren Angen abgespielt hatte. Mit der ihm gewöhnlich eigenen Sicherheit halte Belloni sich nun wirklich empfohlen. Eine Minute darauf sahen sie seine hoch- aufgcrichtete Gestalt mit elastischen Schritten durch den Garten eilen und den am Gitterthor haltenden Wagen besteigen. Durch das weit offene Fenster hörten sie deutlich, wie er mit klangvoller Stimme seinem Vetturino zurief: „Nicht nach N. zurück! Wir fahren vorerst in die Berge zu der Signora." In einer reizenden Laube, von blühendem Oleander umgeben, saß vor ihrem zierlichen Landhänschen, das mit seinen Ländereien an drei Seiten von hohen Bergen umschlossen wurde, eine in Schwarz gekleidete Dame. Ihr schneeweißes, metallisch glänzendes Haar, das sie von einem kostbaren Spitzenschlcier verdeckt trug, paßte nicht zu dem feinen, noch furchenlosen Gesicht und der graziösen, ebenmäßigen Gestalt. In tiefes Träumen versunken, hielt die Signora ihre Hände im Schoß gefaltet. Ein traurig schmerzvoller Zug machte sich dabei in den edlen Zügen bemerkbar, die wir heute nicht znm ersten Male sehen. Da fiel plötzlich ein dunkler Schatten auf ihre Hand. Sie sah auf, und im Moment verschwand auch der traurige Ansdruck aus ihren Züge». Fast jugendlich schnell er.)ob sie sich von ihrem Bänk chen, und auf eine hohe, breitschultrige Männergestalt zueilend, — die Gestalt Doktor Bcllonis, — welche in den Eingang der Laube getreten, rief sie mit freudiger Bewegung: allerdings weniger befriedigend; erst gegen 3 Uhr stellte sich ein- tündigcr erquickender Schlaf ein; der Kaiser erhob sich Vormittag ;egen r/,10 Uhr. Die Unruhe während der Nacht findet indessen hre Erklärung weniger in dem Halsleiden des Kaisers, als vielmehr m der Aufregung, welche die am Tage vorher so außerordentlich zahlreich stattgefundenen Empfänge re. Hervorrusen mußten. — Der Kaiser beabsichtigt vor der Hand, einen dauernden Aufenthalt in Charlottenburg zu nehmen. Die Nachricht, daß er nach den Be lattungsfeierlichkeiten die Residenz nach Wiesbaden verlegen werde, ist demgemäß unzutreffend. Gestern empfing der Kaiser den Kron prinzen, den König der Belgier und eine Anzahl anderer Fürstlich keiten. König Albert von Sachsen, sowie die Könige von Belgien und Rumänien, der Thronfolger von Rußland, der Kronprinz Von Italien und die Großfürsten Wladimir und Michael erschienen gestern bei der Kaiserin Augusta. Allen eintreffenden Fürstlichkeiten wird auf Befehl des Kaisers seitens des Ehrendienstes mitgetheilt, daß sich dieselben gleich nach ihrer Ankunft bei der Kaiserin Augusta melden möchten. — Einen sehr ernsten Punkt im geistigen und socialen Leben der Nation hat der Kaisererlass mit jenen Sätzen berührt, welche sich über die Erziehung und die Lebensansprüche äußern. Die Erziehung der Heranwachsenden Jugend muß nach der Auffassung Kaiser Friedrich's die Verbreitung einer gefährlichen Halbbildung und die Erweckung von Lebensansprüchen vermeiden, denen die wirthschaftlichen Kräfte der Nation nicht genügen können. Damit ist ohne Zweifel einer der wundesten Punkte der geistigen, wirthschaftlichen und gesellschaftlichen Entwickelung der neuesten Zeit berührt: das Hinausdrängen zahlloser Menschen über die Lebenskreise und Arbeiten, zu denen sie nach ihrer Geburt, Erziehung, Anlage berufen und befähigt sind, in denen sie nützlich zu wirken und sich eine befriedigende Existenz zu schaffen ver mögen. Jeder Blick in unsere Umgebung belehrt uns, daß der Trieb zur Erhebung über Berechtigung und Befähigung hinaus weite Schichten des Volkes erfüllt und zahllose irregeleitete und verfehlte Existenzen erzeugt. Man verwechsele dies nicht mit einem gesunden Strebst vorwärts zu kommen und sich in die Höhe zu arbeiten. Einem solchen wird jeder verständige und wohlwollende Mann alle mögliche Förderung angedeihen lassen. Aber dieses Streben muß seine Grenze finden an der Erkenntniß dessen, was jeder Einzelne zu leisten vermag und wozu ihn seine Anlagen und die Verhältnisse, unter denen er aufwächst, berechtigen und befähigen. Die Lebensansprüche, die Begriffe von dem, was zu einer leidlichen Existenz gehört, sind in weiten Kreisen zu hoch gestiegen. Das deutsche Volk ist mehr als andere Nationen zu harter Arbeit berufen und es muß sich bescheiden, damit nur eine» mäßigen Lebensgenuß erringen zu können. Seine wirthschaftlichen Kräfte erheischen ein starkes Maß der Genügsamkeit. Durch die Erziehung und durch die gesammte staatliche Tätigkeit da hin wirken zu wollen, daß der Versuchung zu unverhältnißmäßigem Aufwand entgegengetrcten wird, müssen Alle, die um das Wohl un seres Volkes besorgt sind, mit der Mahnung des Kaisererlasses als ein auf alle Weise zu erstrebendes Ziel betrachten. Es ist darin der Kern der ganzen socialen Frage enthalten; die gefährliche Bewegung, die unsere Gesellschaft durchzieht, hat ihre Wurzeln vornehmlich darin, daß, wie der Kaisercrlaß sagt, Lcbensansprttche geweckt werden, denen die wirthschaftlichen Kräfte der Nation nicht genügen können. — Die „Norddeutsche Allg. Ztg." hatte sich den beiden Erlaffen Kaiser Friedrichs gegenüber bisher merkwürdiger Weise vollkommen schweigend verhalten, erst in ihrer gestrigen Nummer widmet sie den selben einen eigenen, allerdings sehr bedeutsamen Artikel. Das Kanzlcr- blntt erklärt an hervorragender Stelle u. A.: „An einem Kaiserworte soll man nicht deuteln; wir können es also nicht für unsere Aufgabe halten, uns in den Chor der Blätter zu mischen, welcher sein Urthcil über das politische Programm des deutschen Kaisers auf den Markt der Tagesdiskussion bringt. Wohl aber darf mit Befriedigung kon- „Dn bist es, Riccardo? O, das ist ja ein seltener Besuch! Mein lieber Bruder macht sich rar bei mir! Aber ich will meine Freude nicht in Vorwürfe kleiden. — Jetzt bist Du ja enolich dal Nun mußt Du aber auch wenigstens bis zum Abend bei mir bleiben!" „Nein, nein, Juanita, das geht nicht! Du weißt ja, meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen. Aber ein Stündchen und da rüber will ich doch bei Dir verweilen." „So führte Dich wohl nur der Zufall in das einsame HauS Juanita Marentos?" sagte die Dame und warf einen vorwurfs vollen Blick in das kluge, ernste, wenig schöne Gesicht Bcllonis. Der Doktor zuckte die Achseln. „Wie Du es nennen willst, Juanita ! Ich hatte einen Kranken besuch hier in der Nähe zu machen, — eine Visite, von der ich Dir erzählen muß. Aber laß uns zuerst Platz nehmen." „Gleich, gleich!" erwiderte die Dame eifrig. „Ich muß nur noch einmal in das Haus, um meine Befehle für Deine Bewirthung zu geben." „Laß das, Juanita, ich bitte Dich!" rief der Doktor ernst und bezwingend. „Es verlangt mich nach keiner Erfrischung, da ich unter wegs ein Glas Wein getrunken. Ueberdies, wie gesagt, habe ich sehr wenig Zeit. Um drei Uhr muß ich unbedingt wieder daheim sein, und jetzt haben wir ein Uhr." Es war ersichtlich, die Signora verzichtete nur äußerst ungern darauf, ihren geliebten jüngeren Bruder zu bcwirthen, aber sie wußte aus alter Erfahrung, daß Belloni sich nicht bestimmen ließ, wenn er irgend einen Beschluß ausgesprochen hatte. So ging sic seufzend mit ihm nach ihrem Bänkchen zurück, über das sich die köstlichen Blüthen- dolden des Oleanders neigten. Wie dann die Geschwister, in deren Gesichtszügen sich jedoch keinerlei Ähnlichkeit bemerkbar machte, nebeneinander saßen, faßte die Signora die Hand ihres Bruders und sagte: „Nun, Du wolltest mir ja von Deiner Krankenvisite erzählen!" Riccardo Belloni hatte sinnend einen Oleanderzweig zu sich niedergezogen; jetzt entblätterte er gedankenlos Blüthen und Knospen, dann seufzte er leise auf, und mit schmerzzuckendem Auge in das bleiche Antlitz seiner Schwester blickend, sagte er düster: „Juanita! Alle Furien der Vergangenheit sind erwacht in meiner Seele! Die Manen Otto von Görgcnstein's bedrängen mich von Neuem und nehmen mir Ruhe und Frieden!" „Gcbcnedeicte!" Die Signora legte die kleine, wundervoll ge formte Hand über die Augen. Wie dann aber die bleichen Finger niederglitten, rollten große Tropfen über die Wangen der Dame. Aber
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