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Sächsischer Landes-Anzeiger : 09.02.1886
- Erscheinungsdatum
- 1886-02-09
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512384622-188602098
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512384622-18860209
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-512384622-18860209
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Sächsischer Landes-Anzeiger
-
Jahr
1886
-
Monat
1886-02
- Tag 1886-02-09
-
Monat
1886-02
-
Jahr
1886
- Titel
- Sächsischer Landes-Anzeiger : 09.02.1886
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- Tägliches Nnteryattungsölatt zum Sächstschen Landes-Mzeiger. Hand anlegrn; der Eine hier, der Andere dort, und wo sie nicht znr Borsicht mahnte, nicht zur Elle trieb, da geschah es durch das innigste Mitgefühl, durch die bange Sorge um ein auf der äußersten Grenz« schwankendes Leben. Bis nach Mitternacht dauerte dies Zagen und Zweifeln; und als Jnlia endlich die Augen aufschlug «nd erstaunt um sich spähte, da lag sie in Frau Margrets Bett, den gebrochenen Arm verbunden, ihre Hand gehalten von Rodrrig, ihre Stirn gekühlt von den zarten Händen der jugendlichen Geigen- spielerin, des holden Schutzengels, welcher den ersten Trost an ihres BaterS Schmerzenslager trug. Die fremden Gesichter aber, die sie »och umringten, wie bald wurde sie vertraut mit ihnen, mit dem des alten, getreuen Schlehdorn! Was ihren Geist hätte trüben, was ihr Gemüth mit Trauer hätte erfüllen können, es wurde fern von ihr gehalten. Süße Verheuerungen begleiteten die freundlichen Bilder, welche vor sie hingezaubert wurden. Tief« Rührung verschleierte ihre Augen. Worte der Liebe lullten sie in einen Schlaf, aus welchem sie zu neuem Leben, zu neuen Hoffnungen, zu neuem Glück für sich sAbst und für Andere erwachen sollte. — Einen Leichenzug begleitete der alte Schlehdorn wieder nach dem Friedhofe binanS. Der todte Direktor war eS, den man zur Ruhe brachte. Das Personal des Kunstwagens folgte. Schlehdorn hatte sein allerfeierlichstes Gesicht aufgesetzt. Neben ihm ging sein Sohn. Außerdem betheiligte sich auf Schlehdorns ausdrücklichen Wunsch — war er doch gern zu Gegendiensten bereit — die ganze BeerdiguugSgeoossenschast au dem Leichenbegängnis Kurz, er halte Alles aufgeboten, wenigstens eine gute »Mittelleiche' herzustellen. Und eS gttang ihm vollkommen, indem auf dem Wege noch viel Volk sich dem Zuge anschloß. Er ging davon ans, daß die Schilderung der erhebenden Feier nothgedrungen tröstlich auf seinen Gast» auf die arme Julia rinwirkrn müsse. »Sonst batte es ja keinen Zweck.' Jnlia aber hatte das Bett bereits wieder verlassen. Nur der in Schienen ruhende Arm und ihre bleiche Farbe zeugten von de» erlittenen Unfall. Am Tage nach der Beerdigung des Direktors verließ der kunst wagen die Stadt. Zwei kräftige Miethsgäule zogen denselben. Sie waren so kräftig, daß die ganze Küustlergesellschait, der Regisseur Williametto an der Spitze, sich nicht zu scheuen brauchte, in den wohnlichen Räumen des Wagens Platz zu nehmen. Es waren überhaupt bessere Zellen für sie angebrochen, zumal Julia allen Ansprüchen an die Erbschaft zu Gunsten der »geschlagenen Wittwe* entsagte. Die Dauer der günstigen Zeit war allerdings nicht zu berechnen. Auch Johannes reiste wieder ab. eS riefen ihn seine Verpflich tungen. Sein nächster Besuch sollte in die Sommerserien fallen, um bei den Eltern eine Pille Hochzeit zu feiern. Und wenn er dann Wieder in die Ferne zog, sogar die so herzlich liebgewonnene Julia «it fortnahm, so blieb den guten Alten ja noch immer ihr freund licher Hausgeist, die holde Christiane mit dem lieblichen Geigenspiel. Oft klopfte Schlehdorn ihr zärtlich die frischen, rothen Wangen, und immer wieder betheuerte er: »Dich hat ein gutes Glück mir zugeführt, und unser treuer Hausgeist bist Du geworden. Unsere alten Herzen hast Du erweicht, und den Sohn uns wiedergegeben.' Der Nachtzug. Bo« August Scheibe. Schluß. Nachdruck verboten. Dieser schwere, heiße Kampf mit dem Leben schie» länger als rin Jahr gewährt zu haben. Math und Hoffnung hatten den u» glückliche« Manu bereits verlassen, seine Gesundheit war durch Sorgen, Kummer «nd nagend« Gewissensbisse tief erschüttert, als er endlich durch Bervrnduug einer Jugendfreunde- bei einer neu eröffnet«» Eisenbahnlinie als Bahuhofbeamter ungestillt wurde. Der Dank, mit WÄchem er iu feinem Tagebuche di« Errettung aus dem Elende be grüßt«; die Glückseligkeit, mit der «S ihn erfüllte, Weib und Kind weuigstenS vor der äußersten Roth geschützt zu sehen, hatte etwas beinah« Leidenschaftliches. ES schien ihm, als sei jetzt alles gut — als sei die Macht der Unglücks gebrochen, als könne der Friede noch einmal in fein gequälte- Herz, iu sein verdüsterte- Bemüth eiuzieheu. Aber schon die nächsten Seiten zeigten, daß diese Hoffnung eine ver gebliche war. Sie waren offenbar in der Ueberzeugnng geschrieben, daß er seinem Schicksal, das wie eine dunkle Wetterwolke über ihm hing, nicht zu entgehen vermocht«. Seine Stimmung wurde immer »elaucholischrr. Selbst di« Nachricht, die ihn von seinen GewiffruS- quale« befreite, vermochte ihn unr für kurze Zelt anfzmichten. Er hörte, daß Brian Marcliffe nicht an seinen Wnuden gestorben war, sondern lebte. Nur «inen Moment athmetr Richard Darke auf, als die Last von ihm genommen war, um gleich darauf in neue Gorge«, Befürchtungen und Zweifel zn versinken. Die Angst vor der Rache jd«S Lebenden drückte ihn eben so schwer und vielleicht schwerer dar nieder, als vorher der Gedanke au den begangenen Mord. Nachdem er seine neue Stellung augetreten, schrieb er: „Die neue Heimath ist mir bereits lieb und vertraut. Mau hat mir eine Art Landhaus znr Wohnung angewiesen, hinter welcher sich ein hübscher Garte« auSdehnt. Ring»«« herrscht der tiefste Frieden. Auf mehrere Stunden im Umkreise befindet sich keine menschliche Wohnung außer der unsrigen und de» «eines Assistenten Hunt, eines beschränkten, aber gutmüthige» Mannes, mit dem ich zuweilen ei« Stündchen »Allein da» letzte Brot ist verzehrt!' «utgr-nete Henri, indem er di« Stirne in düstere Falten zog. »Du weißt, man hat uns schon gestern gar keine Ration mehr verabfolgt!' — »Ich weiß, o ich weiß-' sagte schmerzlich der Sergeant. „Mir hat der Hunger noch nicht wehe gethau,' fuhr er mit fast tonloser Stimme fort, »allein meine arme, alte Mutter, die trotz «einer Bittte iu Treteuil im Hause meines verstorbenen BaterS zurückgeblieben ist, statt wie fast alle anderen Einwohner bei Beginn der Belagerung nach Paris zu gehen, meine gute Mutter leidet entsetzlich. Ich habe, so oft wir durch Tretenil marschirten, um ans Vorposten zu ziehen, meine Ration mit ihr getheilt, allein beute konnte ich ihr nicht» geben und des wegen, Henri, muß ich jetzt fort!' Der Soldat blickte erstaunt auf «nd der Sergeant fuhr leise fort: »Vor uns au der Seine liegt ein Kartoffelacker, mehrfach haben wir Kameraden schon erzählt, daß sie dort Nachts unter der leichten Schneedecke die nicht geernteten Frücht« anSgrgrabeu haben. Dort will ich hin und was ich erbeute, schicke ich morgen »einer Mutter.' Der Troupier «achte Einwendnuge«, wies auf die Nähe der deutschen Posten hin, allein Etienue Daru, «in Kind der Normandie, ließ sich nicht obhalten; In unauffälliger Weis« verließ er die Stube, gab dem ihn bis an'S Thor begleitenden Henri noch einige Weisungen und verschwand in der Nacht. »Hörst Du Nicht», Franzl?' flüstert« der bairische Posten an der Seine seinem Kameraden zu. »Ich Hab' schon die ganze Zeit geweint, ich hör' Etwa» rascheln. — Jetzt kommt» näher, — ganz gewiß —' «nd bei diesen letzten athemlo» heransgeflosseneu Worten hatte der Franzl sein Gewehr heraufgerisseu und in die Nacht hinanS- grschoffeu. LS war ein dumpfer knall, von keinem Echo gefolgt, hierauf ei» laute» Schrei, dann war Alle» wieder still. Von der Feldwache her wnrdrn jetzt eilige Schritte hörbar. Eine Patrouille kam zu dem Doppelposten, wo der Franzl an allen Gliedern zitternd plandere. Kaum betretene Pfade führen durch dichten Tannenwald, der die Stationen von allen Seiten eioschließt. La» möchte vielleicht den meist« Mensch« nicht eben verführerisch erschein«, für wich liegt ein unendlicher Reiz iu dieser Einsamkeit, nud stundenlang streife ich. wie ein Mensch, der an» laug«, bös« Träumen erwacht ist, durch den dunklen Forst. Die nngehenreu Farrenkränter, Moos und Moor, die den Boden bedecken — Alle», selbst da« scheinbar Hube deut«dste erfüllt mich «it Freud« und Entzück«. Jeder Sonn« strahl, der durch die Wipfel der gigantischen Tannen aus Kräuter und Brombeerrankeo uiederfällt, erscheint mir wie Offevbarnng. »Bertha lächelte einmal wieder, wir früher, als ich sie iu unser bescheidene« Häuschen einführte. O, wie hat ihre Lieb« mich in allem Unglück de» letzten Jahres gestützt und getragen. Niemals verlor sie den Mnth, niemals kam ein Borwnrf, eine Klage über ihre Lippen. Sie jener tropische Bau», der bei Nacht am schönst« blüht und dnstet, so schien gerade das Unglück immer neue Eigenschaften in ihr zu entwickeln. Meine Liebe ist täglich zn ihr inniger «nd stärker geworden — aber je mehr ich dar empfinde, je mehr werde ich mir auch durch alle« Glück hindurch eines Gefühls der Angst bewußt, das auf mir liegt wie die Ahnung einer baldigen Trennung. Viel leicht ist'« nur der schnelle Wechsel unserer Verhältnisse, der «ich noch immer nicht wieder in» Gleichgewicht komm» ließ. »10 März Bor zwei Jahr« noch würde ich Jenem in'S Gesicht gelacht Hab«, der mir gesagt hält», daß ein Tram» mich beunruhig» könnte — oder daß ich wich gar.K nsepeu und ihn aus- zeichveu würde. Und hexte kau« ich nicht an. erS. Vielleicht find« ich Ruh«, wenn ich eS gethau habe —vielleicht verliert jenes Traum bild da» Unheimliche, wen» ich eS iu nüchterne Worte übersetze. »Ich träumte, daß e« eine klare Mondnacht war, und daß ich wie gewöhnlich aufstaud, nw den Nachlzug zu figualifireu. Ich be gab wich auf den gewöhnlich» Platz »nd wartete lauge auf die Ankunft des ZngeS. ES währte Tage, Wochen, Monate, aber ich bemerk»« das Schwind» der Zeit nur au der Veränderung der Bäume, welche eben die erst« FrühjahrSsprosseu trieben, als ich meine Wach« begann, und kahl und entlaubt standen, wie im Winter, als ich noch immer wie durch ein« Zauber an oen Ort gebannt stand. Ich war mir deutlich aller Umstände bewußt und wunderte mich, daß ich nicht müde wurde von dem langen Watten. Da «blich hörte ich da- Schnauben deS nahend« Zuges — und endlich brauste er Hera», au wir vorüber, und ich erstarrte vor Schreck«, dmn an einem der Fenster erkannte ich das von Haß und Rachedurst verzerrte Besicht BriauS. Ich hielt eine Laterne io der Hand — ab« als der Zug vorübersauste, fühlte ich plötzlich, wie sie mir auS der Hand gerissen und in Atome zersplittert wurde. Statt ihrer hielt ich in der ausgestreckten Hand ein blutiges Messer. Zugleich hört« ich ein dämonische», entsetzliche» Gelächter, von dem der Wald wiederhallte — ich wußte, daß r» Brian» Lachen war. „Entsetzt fuhr ich au« dem schrecklichen Traume empor und sah Bertha'S ängstliche» Gesicht über das «eine gebengt. Sie fragte wich, wa» ich geträumt hätte — ich wie» sie rauh und uufrennd lich zurück. Auch den Tag über blieb sie zärtlich und ängstlich um mich bemüht; mein verschlossenes und zugleich verstörte» Wesen quälte sie. Ich fühlte da» wie eive Grausamkeit, die ich beging, aber ich vermochte nicht« gegen »ich selbst. „Ich fürchte mich vor der kommenden Nacht, deuu eine innere Stimme sagt wir, daß der Traum wiederkehreu wird Um mich zu bernhigrn» wollt« ich heute in der Bibel lesen. Ich schlug sie bei dem Spruche auf: „Und Gott wird sich ihm offenbar« in einer Erscheinung und wird zu ihm sprechen im Traume.' — Ein Schauer ging mir durch das Herz, al» ich di« Worte la», die mir vorkam« wie ein Schicksalsspruch. „Am folgend« Tage. Wa» ich gefürchtet, ist eiugetroffeu. Ich träumte iu der vergangenen Nacht denselben Traum in allen seinen schrecklichen Einzelhelheit« «och einmal. Und wieder sah ich beim Erwachen Bertha'S besorgte, zärtliche Angm auf mir haften. Aber mehr «och als der Traum hat mich das erschreckt, was ich heute Mittag erfuhr. Meine Ahnung hat mich nicht getäuscht —ich habe iu der That Ursache z« zittern. Mein Assistent Hunt kam von Derby, der nächsten Stadt, zurück, wo er ein Geburtstagsgeschenk für unfern klein« Harry gerauft hatte. Dasselbe war in rin alte» ZeituugSblatt eingeschlageo und da» erste Wort, an dem mein Blick haftete, war Brians Name. Die Zeitung enthielt folgend« Aufforderung: „Sollte ein Kind oder ein sonstiger naher Verwandter de» im September 18— hier verstorbenen Herrn Eli Mareliffe von Cranholm Manse noch am Leb« sein, so werden dieselben gebeten, sich weg« Regu- lirnug der Erbschaft »it de« unterzeichnet« Sachwaltern baldmöglichst persönlich iu Verbindung zu setzen. — Frankh und Locke in Derby.' „Sv bleibt mir kan« eine Hoffnung. Mein Feind ist der ein zige Sohn und Erbe jene» Manne«' Er wird »ach Derby gehen, vielleicht mehr al- einmal, und muß hier die Eisenbahn verlassen, um seinen Weg zu Wagen weiter zu verfolg«. Ei» Zusammentreffen läßt sich nicht vermeiden — und ich kenne seinen unerbittlichen Haß. Die Tage der Sicherheit und de» Frieden» sind vorüber. „Mehr al» ein Monat ist vergangen, seit ich mein Tagebuch zum letzt« Mal öffnete. Ich habe nichts mehr zu fürchten. Er ist todt. Aber wie e« gekommen ist, weiß nur ich allein, und außer mir soll es nnr der erfahren, welcher nach meine« Tode der Erbe dieser Blätter wird. „Jener verhängnißvolle Tag, au welchem mir sein Kommen zur Gewißheit wurde, giug vorüber» wie ei» böser Traum. Am Abend legt« ich wich wie gewöhnlich auf einige Stunden nieder, ehe ich meine Wache autrat. Ich that da- nur au» einer Art instinktiv« Gefühls, da« wich aulrieb, mich ganz so zn verhalt« wie sooft. Und wirklich schlief ich ein; kaum aber hatte ich die Augen geschloffen, als jener entsetzlich« Tran« mich zum dritten Mal« heimsnchte. Ich erwach!«. E» fehlt« noch 3 Minuten au der Zeit, iu welcher der Nachtzug einzntreffen pflegt«. Meine Laterne zur Hand nehmend, Ute ich hinan». „Der Mond stand hoch am Himmel, die Sterne blitzt« und flimmert« in wunderbarer Pracht, die Nacht war so klar, daß ich weithin jeden Baum, jede« Strauch zu erkenn« vermochte — g«a» so. wie ich eS im Traam« gesehen. — Aber wa« war da»? Lin mit Stein« beladener Wag« stand auf dem Schienengeleise, aas welchem in de» nächsten Minuten der Zug daher komm« mußte! Mein Assistent hat sich einer Fahrlässigkeit schuldig gewacht, die «in entsetzliches Unglück herbeisühren konnte. „Aber noch hatte ich da« nicht ganz ausgedacht, da schoß mir wie ein Blitz ein anderer Gedanke durch dm Kopf. Mit wunderbarer Schnelligkeit zogen die letzte« ruhigen, glücklichen Monat«, die wir hier verlebt hatten, an mir vorüber. Ich dachte an Bertha'S wieder auf- blühend« Gesundheit und Heiterkeit, an unseres kleinen Harry Lächeln, an die Hoffnungen und Pläne, die wir an diese neue klein: Heinraih geknüpft batten — und alle« dies konnte eiu Wort von Brian zer- stör«. Er konnte mein Weib und «ein Kind in Srmuth und Elend zurückschleudrru — durste ich da» dulden, da e» iu meiner Macht stand eS zu hindern — da ich de» Manne» Leb« iu meiner Hand hatte?' „Aber noch einmal raffte ich mich auf — noch einmal versuchte ich, wich auf die Wirklichkeit zu besinne». War e« denn nicht nur ein Traum der mir verspiegelte, daß der Zug, dessen weiße Damvf- wolkeu ich dort hinter d« Bäumen hervorqnellr» sah, Brian hierher- fühtte? Vermocht« ich Traum «nd Wirklichkeit nicht mehr zu scheid«? Rasch lief ich zur Sigualglock«, um dar WaruungSzeicheu zn geben — da bog bereits der Zug um di« Ecke des Walde». E» war« nnr zwei Personenwagen. An» dem Fenster des erst« hatte sich rin Mänurickopf weit hevmSgelehut. Der Mond schien ihm hell in'» Gesicht — ich glaubt« die Züge trotz der Entfernung deutlich zu er kennen. Allmächtiger Gott! G» war Brian. Der Schreck lähmte für ein« Mommt alle meine Glieder und halb bewußtlos figualisirte ich, wie ich noch jede Nacht getha«: „Alle» iu Ordnung!' Ein« Moment später rast« der Zug an mir vorüber. „Ich wußte jetzt, daß sich mein Traum erfüll« mußt« bl» auf da» letzte. Ich schloß die Angen; die Wett drehte sich mit mir wirbelnd im Kreise — da dröhnt« ein entsetzliche« Krach« durch di« Nacht, übertöut von menschlichem Geschrei und de« gell»!»«» Läuten der Glocke, die ich mechanisch in Bewegung setzte. Wie lauge ich stand und läutete, weiß ich nicht — aber «blich sttirzte ich nach de» Orte de» Schrecken». Wa« ich im erst« Aogrnblicke sah, war nur eiu« wirre, über einander gethürmte Masse von Splitte«, Sohl«, Asche, Kisten und Säcken — ein« Moment später erblickte ich den Loco- motivführer. der zermalmt unter de» Rädern der Maschine lag, welche noch immer Weiße Dampfwolke» au-spie. Hunt stand über den Körper «ine» Menschen gebengt, der dnrch di« Gewalt de» Stoße» au» dem Wagen geschleudert Word« war. Ich ließ d« Schein der Laterne, die ich noch immer in der Hand hielt, auf sein Gesicht fall« —mein Traum war erfüllt, «S war Brian! „Ich habe t« vermocht, mein« eigen« Schuld niederzufchreibeo, mich todeSwurdigrr Verbrechen auznklag«, aber ich bin nicht in» Stande zu erzählen, was nun folgt«. Die Furcht, mich von Bertha trenn« zu müssen, hatte mich zu« Verbrecher gemacht; wie üu Wahnsinniger hatte ich dir» schwaste Unglück abzowenden versucht— und hatte e» nur schneller, unabweisbarer herbeigeführtl Mein Ber- häoguiß mußte sich erfüll«. Mit frevelhafter Hand hatte ich in dieser entsetzlich« Nacht meine irdische und himmlisch« Seligkett ver nichtet.' Hier schloß da» Selbstbekenutuiß des Unglücklich«. Zur Er» gäuznng war da» auSgeschuilteue Stück einer Zeitung beigefügt. ES enthielt folgende Notiz: „Leider Hab« wir zu melden, daß die Frau de» Bahnhofbeamt« Darke» über dessen bedenklichen, au Wahnsinn grenzend« GemüthSzustand wir vor acht Tag« berichteten, in vergangener Nacht gestorben ist, nachdem sie ein todte- Kind geboren.' Die übrig« Blätter de» Tagebuches enthielt« nur noch nnzn- sammenhängeude Aufzeichnung«: wirre, wild« Worte, vermischt »it fromm« Sprüchen und Bibelverfeu, und Ausbrüchen der Verzweiflung, aber keine eigentliche Erzählung der später« Erlebnisse de» Unglück» lich«, schuldbelastet« Manne». AuS allem schien indessen hervorzv» gehen, daß er nicht als Verbrecher verurtheilt worden war. Mau hatte ihn wegen Fahrlässigkeit und Mangel an GeisteSgegeuwart bei dem Unglück seines Dienstes entlassen. — Seitdem schien er eiu elen des, vagabundireudeS Leben geführt nud nur durch gelegentliche Arbeit so viel verdient zu Hab«, um sich und sein Kind, den kleinen Harry, der ihn überall begleitete, vor dem Hungertode zu schütz«. Der Knabe war in der Nacht, al» der Vater starb, von der mitleidigen Wirthiu de- „weißen Roß' in eiu anderes Zimmer ge bettet worden, um ihm d« Anblick de» letzten Kampfe» zu erspar«. Die Meuscheusreundlichkeit de» wacker« Prediger» gewährte ihm ei» dauernde« Asyl, und als ich am letzten Weihnachtsseste im Pfarr- hause zum Besuch war und da» Tagebuch des unglücklich« Richwch Dark« dnrchblättrrte, saß sein unschuldiger Sohn neben mir am Kamt» und schaute mit seinen großen, schwermüthigeu Augen iu da» ver glimmende Fener. stand. Da» Borterrain wurde abgesncht und bald fand man den schwer verwundete» Sergeanten. Er wnrde in die Farme zurück- gebracht, iu einem Kämmerchen zurechtgelegt und seine Wunde uoth- dürftig verbunden. Das Geschoß war iu die rechte Brust ein- gedrnngeu, der Arme athmete schwer, seine Stunden schienen gezählt zu sei». I« aller Frühe schickte der Hauptman» nach rückwärts, nm einen Arzt zu holen, und als dieser aukam, bracht« er den erstaunte» Offizieren die frendi'ge Nachricht, daß eben beim Gro» der Vor posten die Weisung zur Einstellung der Feindseligkeiten eingetroffen sei, da Paris capitulirt habe. Der Bataillonsarzt untersucht« den Verwundeten und erkannte sofort, daß hier keine Rettung mehr mög lich sei. In schonendster Weise machte er den Kranken ans seinen Zustand aufmerksam und fragte ihn nach seinen Wünsche«. Etienue faßt« zu dem Arzte, der geläufig mit ihm in seiner Muttersprache redete, Vertrauen und bat ihn die Mutter in Treteuil zu verständigen, deren Wohnung er gena« beschrieb. Daun sank er erschöpft aus'» Stroh zurück und verfiel in unruhigen Schlaf, aus dem ihn wike Fieberfantasien zuweilen emporschreckte». Unaufhaltsam wälzten sich unterdrffeu die deutschen Eolonnrn gegen Paris, um die Fort» zu besetzen, die sie nun fast fünf Monate lang in ehrerbietiger Entfernung betrachtet hatten. Unter lustiger Musik mit fröhlichem Gesang zogen die Abteilungen dahin und wenige von den glücklichen Kriegern beachteten di« alte Frau, di« da» graue Haupt auf die Hände gestützt neben einem Sanitätssoldaten in eine« Baueruwageu langsam die Straß« dahin fuhr. Es war gegen Mittag, als der Wagen au der un» bekannten Farme hielt. Dieselbe war jetzt ganz verlassen, nur ein Blesfirtenträger war zurück geblieben, der jetzt de» Frau vom Wagen half und sie in da» Kämmerchen znm todtwnndru Sohn führte; Bei ihrem Lintrilt fuhr Etienue auf und schrie in Fieberhitze: „Mutter, Mutter, Du bist hier? Also ist es wahr, wir haben gesiegt. Ich Hab« mich nicht getäuscht, ich hörte sie vorhin fingen, unsere Zuave», das Lied vorn Marschall Bugeaud. Wir haben gesiegt — «S ist ganz richtig — Du könntest sonst nicht hier sein. Ich habe die Marseillaise gehört, sie sangen Frankreich» Sirgeslied!' — „ES war Frankreich» Todte» lied!" murmelte die arme Frau und sank weinend au ihres Sohne» Seite nieder. „Mutter', begann nun wieder der Krank«, „Mutter und Du fingst Nichts? Ach, ich habe Schlaf, großen Schlaf; finge mich, Mutter, in Schlaf!" — „Beruhige Dich, mein Kind', flüsterte die alte Frau, indem sie liebevoll dem sterbenden Sohne die Wangen strich, „ich will Dich einsingeu!' Und leis« begann sie: vsnr revoir m» Xormanäie. Im Fort Charenton waren die Deutschen eingerückt. Hinter den Wällen standen die Truppen aufmarschirt und wartete» der weiteren Befehle. „Hör', Franzl, ich möchte doch wissen, wie e» dem armen Teufel geht, den Du gestern »'ans geschossen hast!' so sprach der Soldat Schlager zu feinem gestrigen Rebeupssteu. „Ich mag gar nicht daran denken', rutgegnete der Franzl, „der junge Unter- officier hat mir in der Seele leid gethan «nd schwer ist » mir unr'S Herz, wenn ich anch uu, meine Pflicht gethau habe. E» war mein erster Schuß!' — „Und ist Dein letzter!' fiel der Schlager ei». .Schau', der Krieg ist jetzt au», die Fahne da droben wird gleich herunter sein, und bald stehst Du unsere dafür flattern!' Und während sie Frankreichs Fahne uiederholte», haucht« dort auf dem einsamen «eierhof Etienue Daru iu den Armen der weinen de, Mutter sein junge« Leben au». Da» war der letzte Schuß vor Pari» I 8. U-n. Für de» redaktionelle» LbrU verantwortlich: Franz Götze in Lhemnitz. — Druck nud Verlag von Alexander Wied» in Ihonnitz.
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