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^ Uotkrhaltniigs-Kkilask! ^ ..Sachs- Vol'kszeitung". M 49. Sonntag, den 4. September- 1994. Die schwarze Schar. Roman, nach dem Französischen von Ludwig Wechsler. l. F«rlsetzu»,. (Nachdruck Verbote») 4. Unter den im Laufe der letzten Jahre in der Offemont- Ltraße nenerbauten Häuser befindet sich eins, das sich durch die auserlesene Originalität seiner Architektur vorteilhaft von den übrigen unterscheidet. Zeine in Rohziegeln aus geführte Stirnseite erhebt sich inmitten der es umgebenden steifen, gewöhnlichen Landsteinbauten und stellt eine getreue Nachbildung jener hohen holländischen Häuser aus dem 16. Jahrhundert dar. die sich ans den Kais zu Amsterdam er heben. Während der finsteren unheimlichen Nacht des 26. No vember war ein Fenster im ersten Stock dieses Hauses un unterbrochen erleuchtet. An einem Kamin aus geschnitztem (richenholz sasz ein junges Mädchen in einem großen begucmen Fauteuil. Es war sehr bleich, und die ungeordneten schwarzen Haare, die in dichten Massen über seine Lchnltern sielen, ließen die Blässe des Gesichts noch mehr hervortretcn. Die Augen wa ren von vergossenen Tränen gerötet, und das nervöse Zucken der ans den Armlehnen ruhenden schönen, schlanken Hände zeugten für die Unruhe, die die junge Dame dnrchwühlte. Von Zeit zu Zeit erhob sie sich und trat an das Fenster, daß sie unbekümmert um die cindringende eisige Kälte öff nete. Lie neigte den schlanken Oberleib hinaus und schien die Dunkelheit mit ihren Blicken dnrchdringen zu wollen, worauf sie matt und entmutigt zu ihrem Fauteuil zurück kehrte, um sich neuerdings ihren schmerzlichen Gedanken zu überlassen. Zuweilen auch öffnete sie eine Tür und trat in ein Nebenzimmer, welches von einer Nachtlampe nur schwach er hellt wurde. Dort neigte sie sich über ein kleines Bett, in dem ein etwa zehnjähriger Knabe mit abgemagertem Gesicht und langen blonden Haaren schlief. Und die Tränen, die sie bisher tavfer zurückgedrängt batte, flössen jetzt ungehindert über die bleichen Wangen. Gegen fünf Uhr morgens vermochte sic ihre Unruhe nicht länger zu bemcistern und wiederholt drückte sie mit dem Finger auf den Knopf einer Klingel. Gleich darauf trat eine Dienerin ein. „Kommen Lie, Klara", sprach das junge Mädchen mit tonloser Ltinimc. „Diese Ungewißheit reibt mich ans . . . Nun ist auch die dritte Nacht vorüber . . . Ach Gott, ich kann es nicht glauben ... cs ist nicht möglich . . ." Und wirren Blickes narrte sic vor sich hin, als wäre mit einem Male eine wirre Vision vor ihr aufgetancht. „Was soll ich tun . . . wohin soll ich gehen?" nahm sie mit fieberhafter Hast wieder ans. „O, ich bin überzeugt, daß alle diese Nachforschungen nicht ersprießlich betrieben werden . . . diesen Leuten fehlt es an Eifer und gutem Willen . . . Ich kann aber nicht länger hier bleiben . . ." Lie hatte so sprechend ihren Hut genommen und die Bänder desselben hastig um das Kinn zu binden begonnen. „Wohin wollen Lie gehen, gnädiges Fräulein?" fragte die Dienerin traurig. „Es ist ja noch stockfinstere Nacht." „Das ist wahr . . . und dennoch muß es Mittel und I Wege geben ... Oh! wenn ich ein Mann wäre!" rief das junge Mädchen mit einer energischen Bewegung aus. Damit sank es abermals in den Fauteuil zurück und ver harrte volle zwei Ltunden unbeweglich, bloß von seinen quä- lenden Gedanken in Anspruch genommen. Als der Morgen anbrach, ertönte die Lorglocke. In höchster Erregung stürzte die junge Dame ans Fenster und erblickte einen großen, starken Herrn, dessen Lchnltern und Hut mit Lchnee bedeckt waren. „Das ist er!" rief sic aus und sank halb ohnmächtig in die Arme der Dienerin. Doch eine grausame Enttäuschung harrte ihrer. Die Tür des Zimmers ward geöffnet und sie sah Herrn Mören- tier, einen alten Freund ihres Vaters, cintreten. Lie stieß einen tiefen Seufzer aus und verbarg das Ge sicht in beiden Händen. „Mein armes Kind!" srach der alte Mann mit teil- nahmsvoller Stimme, indem er auf sic zuschritt. „Ich habe Kenntnis von dem traurigen Ereignisse . . . Doch dürfen Lie nicht vcrweifeln; noch ist nicht alles verloren. Seit wann hat Ihr Vater Sic verlassen?" „Seit drei Tagen", gab sie mit ersterbender Stimme zur Antwort. „Haben Lie den Zeitungen und der Polizei seine Per- sonalbcschrcibnng übermittelt?" „Natürlich habe ich das getan." „Arme Johanna! . . . Und noch ist keinerlei Spur ge sunden? . . . Um wie viel Uhr verließ er denn das Haus?" „Um drei Uhr. Er ging wie gewöhnlich zu Fuße." Und mit einer gewissen Selbstüberwindung fügte er hinzu: „Er schieil mir schon seit einiger Zeit so merkwürdig verändert. Er, der sonst io gütig und beiter war, schien traurig und ge dankenvoll zu sein! An all das erinnere ich mich jetzt erst. Er Pflegte nns, Georg und mich, so eigentümlich anzu blicken." „Ter arme Junge weiß noch nichts?" „Nein . . . Ein solcher Schlag könnte sein Tod sein. Er ist ja so schwach und zart! . . . Doch horch!" Wieder war die Torglocke ertönt, nnd bleich vor inner licher Aufregung war Johanna abermals ans Fenster ge eilt. Doch war nnr einer der Lieferanten gekommen, um seine Waren abzugeben. Dieser Vorgang spielte sich wohl noch zwanzigmal im Lause des Vormittags ab, und immer wieder erlebte sic die gleiche grausame Enttäuschung, die ihr das Herz zerriß. Herr M^rentier war seinen Geschäften nachgegangen und sic war allein mit den Dienstboten, die sie jeden Augen- blick in eine andere Richtung ausschickte, um deren verstörte Miene angstvoll zu studieren, wenn sie von ihren Wegen znrückkehrten. Georg hatte sein Lager verlassen und war mit feinem schwachen, schleppenden Gang ans sic zugekommen, um sie lächelnd zu küsse», wie er das jeden Morgen tat. Sie hatte den Kops abgewcndet, damit er die Tränen nicht sehe, die ihre Augen füllten. Gegen Mittag vermochte sie nicht länger an sich zu halten, sondern verließ mit einem Male das Haus und stieg in den erstbesten Fiaker, dem sie begegnete. „.'sin Morgue!" ries sie dem Kutscher zu, als sich dieser herabneigle, um ihre Weisungen entgegenzunehmeu.