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Feierabend. A»tnl»lt»ars-§til»ßk der „Sachs. Bolkszeitung". M 37. Sonntag, den 2. Juli. 1»0S. Hokdene Schranken. Frei nach dem Englischen von Clara Rheinau. b Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) Es lag keine Klage in ihren Worten. Sie konstatierte nnr eine Tatsache mit einer Einfachheit, die ihn mehr rührte, als Tränen. Sie war häßlich, — er mußte es zu- gcben. Aber welches Mädchen wäre nicht häßlich in einer solch dürftigen, unordentlichen Kleidung und ohne jede Spur der weiblichen Anmut, die so oft die wirkliche Schön heit ersetzte. Sein Herz quoll über vor Mitleid und Ent rüstung, aber er bezwang sich und sagte ruhig: „Wollt ihr alle miteinander heute Morgen einen Spaziergang mit mir machen? Ich werde für das Frühstück sorgen und euch wohlbehalten wieder nach Hause bringen. Gefällt euch/ dieser Vorschlag?" „Und ob er uns gefällt!" entgegnete Mabel, „aber wir können uns nicht mit dir sehen lassen. Nicht um die Welt würde der Vater uns mitnehmen, die Knaben haben so schäbige Kleider." Diesen Einwand ließ Ralph nicht gelten und laut jubelnd entfernte sich die kleine Schar, um sich zum Spa ziergang zu rüsten. Inzwischen ließ Ralph Frau Foster zu einer Unter- redung in das Speisezimmer bitten. Von ihr erfuhr er mehr, als Mabel ihm sagen konnte oder wollte. Frau Godwin und die kleine Vera, das hübscheste von allen Kindern — waren vor sechs Jahren gleichzeitig an Diphtheritis gestorben und von diesem Tage an hatte außer Frau Foster sich niemand mehr um die Kinder bekümmert. Es war nur eine Version der alten Geschichte: franzö sische Köche, exquisite Diners, Rassepferde, jeder erdenkbare Luxus für den Vater — Vernachlässigung und Entbehrung für die Kinder. Schweigend hörte Ralph diese Erzählung an und ge rade, als Frau Foster geendet hatte, traten die Geschwister, für den Ausgang gerüstet ein. Die armen Kinder! Seit Jahren hatten sie ein sol ches Vergnügen nicht mehr gekannt. Vor allem ging es in ein Restaurant, wo ihnen ein Frühstück vorgesetzt wurde, das ihre Augen strahlen machte. Dann führte Ralph sie in eine Konditorei und erlaubte ihnen, nach Herzenslust zu essen, und noch ihre Taschen mit Süßigkeiten zu füllen. Aber die Freude der Mädchen erreichte ihren Höhepunkt, als sie bei einer wohlbekannten Modistin eintraten und mit neuen Hüten beschenkt wurden. Ralph hatte sie alle während dieser Zeit scharf be obachtet und begleitete sie jetzt nach Hause mit dem Der- sprechen, am nächsten Tage wiederzukommen. Er küßte der Reihe nach die häßlichen Gesichter und war tief bewegt, als Mabel in kurz angebundener Weise bemerkte: „Seitdem die Mutter tot ist. hat mich niemand mehr gekiißt, außer den Kindern. Ich bin eben zu häßlich." „Sage das nicht mehr," entgegnete Ralph. „Verwende nur mehr Sorgfalt auf deine Kleidung und dann sieh, ob du in deinem neuen Hut djch noch häßlich nennen kannst." Die arme Mabel glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Ralphs Worte beglückten sie und mit einem dankbaren Blick ihrer traurigen Augen sagte sie ihm Lebewohl. „Ein kolossal netter Mensch," begann Percival, als Ralph außer Hörweite war, „aber er ist noch etwas grün. Er sah gar nicht, daß Wilfred schon alle Taschen voll Scho kolade gestopft hatte und dann vorgab, er habe nichts und noch eine zweite Portion dazu nahm. Und auch du warst schlau, Mabel, du wähltest kolossal teure Hüte und er sagte nichts dazu. Er muß einen Wagen voll Geld haben oder vielleicht bezahlt er die Sachen gar nicht." Einem Sohne Percival Godwins lag dieser Gedanke nahe, aber Mabel rief entrüstet: „Ungezogener Junge! Wie kannst du so von Ralph sprechen? Siehst du nicht, daß er ganz anders ist, als wir? Und was die Hüte an belangt, so dachte ich wirklich nicht an den Preis. Ich wählte sic, weil sie mir gut gefielen. O, was muß er von uns denken," fügte sie seufzend bei. „Ich schäme mich zu Tode." „Guter Gott, Mabel, mache doch nicht so viel Lärm um nichts!" rief Wilfred. „Wir sind seine lieben Ge- schwister und müssen suchen, möglichst viel aus ihm heraus zuschlagen. Morgen ziehe ich meine ältesten Kleider an, vielleicht staffiert er mich neu aus bei seinem Schneider." Wilfred lachte, daß ihm die Tränen über die Wangen liefen, aber Mabel war dem Weinen nahe. Zum erstenmal sah sie ihre Geschwister in ihrem wahren Lichte und er kannte mit Schrecken, was aus ihnen werden würde, wenn diese bösen Anlagen sich ungehindert weiter entfalten könn ten. Sie beschloß, mit Ralph darüber zu sprechen und zog sich auf ihr Zimmer zurück, um in der Einsamkeit ihre erregten Gedanken und Gefühle zu beschwichtigen. Am folgenden Tage fand Ralph sich erst zu später Nachmittagsstunde in der Green Street ein. Sein erster Anblick war eine mit vielem Gepäck beladene Droschke und daneben sein Vater, der mit dem Kutscher um das Fahrgeld handelte. Ralph erkannte ihn sofort, denn trotz seines aus schweifenden Lebens hatte er sich nur wenig verändert. Er trat dicht hinter ihm zur Haustüre hinein und als sie in dem Flur einander gegenüber standen, fragte er ruhig: „Du erkennst mich nicht mehr, Vater?" „Natürlich." schnarrte Godwin, aufs unangenehmste überrascht, „und ich bedauere, dich wiederzusehen. Warum kamst du hierher?" „Um Mabel zu besuchen. Ich meinesteils freue mich, dich getroffen zu haben, denn nach meiner langen Abwesen heit habe ich dir vieles zu sagen." „Das verstandest du immer prächtig," erwiderte sein Vater in etwas liebenswürdigerem Tone. Er sah ein, daß Ralph ein ganzer Mann geworden war. Sein festes Auf treten imponierte ihm tatsächlich und als er ihn sogar ein lud, im Hotel Albert mit ihm zu dinieren, klärte sich seine Miene auf. Das war ein guter Anfang. Lieber wollte er seines Sohnes Gast sein, als diesen zu sich einladen. „Mit Vergnügen werde ich mich einfinden," erklärte er mit seinem bezauberndsten Lächeln. „Ich bin nur heute abend in London. Morgen gehe ich zur Jagd nach Merrikhall." In diesem Augenblicke erschien Mabel und alle drei traten in das Speisezimmer ein. Aber das junge Mädchen rvar so schüchtern und schweigsam, daß Ralph sich sehr bald wieder verabschiedete. 'Er ... IMWM