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Feierabend. Untkrhültusgs-Kkiligk der „Sachs. BolkSzeitung". M 4r. Sonntag, den 25. November ISO«. Aas kehle Wroökci». Kriminal-Novellette auS: Abenteuer des Sherloct HolmeS. Von Conan Doyle. Schluß. fltachdrua derioten.) Wir nachten nun zunächst eine siebentägige herrliche Wanderung das Rhonetak aufwärts, bogen dann in Lenk ab und gingen über den noch tief verschneiten Gemmipaß nach Jnterlaken und weiter nach Meiringen. Es n ar aller liebst, unten das zarte Frühlingsgrün, oben das jungfräu liche Weiß des Winters, aber ich sah ganz wohl, daß Holmes trotzdem nicht einen Augenblick den Schatten vergaß, der über ihm schwebte. In den heimlichen Alpendörfern wie auf den lieblichen Gebirgspfaden verriet sein unruhiger Blick und die Genauigkeit, mit der er die Züge eines jeden uns Begegnenden prüfte, seine unerschütterliche Ueberzeu- gung, daß wir, wohin wir wollten, uns Loch niemals der Ge fahr zu entziehen vermochten, die sich an unsere Spuren hefteten. So erinnere ich mich, daß, während wir auf unserem Wege iibcr den Gemmipaß am Ufer des düsteren Dauben- secs hinschritten, ein großes Felsstück, das sich von dem Ab lang abgelöst hatte, mit lautem Krach herab- und dröhnend hinter uns in den See stürzte. In einem Augenblick war Holmes den Abhang hinausgestürmt, wo er auf einer lufti gen Fclszacke stehend, den Hals nach allen Seiten reckte. Vergebens versicherte ihm unser Führer, daß Felsstürze zur Frühlingszeit in dieser Gegend etwas ganz Gewöhnliches seien. Er sagte nichts, aber er lächelte mir zu, als wollte er nur damit andeutcn, etwas dergleichen habe er längst erwartet. Und doch war er trotz all seiner Wachsamkeit niemals niedergeschlagen, im Gegenteil, ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals in solch überschäumender Laune gesehen zu haben. Immer und immer wieder kam er darauf zurück, wie gern er seine Laufbahn zum Abschluß bringen würde, dürfte er sicher sein, die Menschheit von Mariarty befreit zu haben. „Ich glaube, ich darf wohl sagen, Watson, ich habe nicht ganz umsonst gelebt," bemerkte er dabei. „Fände meine Tätigkeit noch heute abend ihren Abschluß, ich hätte nichts dagegen. Mein Aufenthalt in London würde dadurch an Annehmlichkeit für mich nur gewinnen. In den mehr als tausend Fällen, die mich beschäftigt haben, bin ich mir nicht bewußt, auch nur ein einziges Mal meine Fähigkeiten in den Dienst des Unrechtes gestellt zu haben. Seit einiger Zeit fühle ich mich mehr von den Problemen angezogen, die uns die Natur selbst aufgibt, als von den weit oberflächliche ren Aufgaben, die sich aus unseren unnatürlichen gesell schaftlichen Zuständen ergeben. An dein Tage, wo mir schließlich noch der Triumph zu teil wird, durch meine Tätig- keit die Gefangennahme oder die Vernichtung des gefähr lichsten Verbrechergenies der ganzen gesitteten Welt errücht zu haben, kannst dir die Feder aus der Hand legen, Watson." Das Wenige, was mir noch zu sagen bleibt, will ich in Kürze und doch genau zu berichten suchen. Wiewohl ich bei diesem Gegenstände nicht gern lange verweile, bin ich mir dock) meiner Pflicht bewußt, keine Einzelheit von Wert zu übergehen. Am 3. Mai erreichten wir das Torf Meiringen, wo wir inr Englischen Hof abstiegen. Der Wirt, Peter Steiler der Aeltere. nar ein verständiger Mann, der auch vortrefflich englisch sprach. Auf seinen Rat brachen wir am 4. zusam men auf, um über die Höhen nach dem Weiler Rosenlaui zu gehen, na lvir übernachten wollten. Er hatte uns übri gens strengstens eingeschärft, hierbei den erforderlichen klei- nen Ilmweg nicht zu scheuen, uni die airf halber Höhe liegen den Reichenbachfälle zu besichtigen. Diese machen mit ihrer Umgebung einen wirklich grauenerregenden Eindruck. Der Bach durch die sckMelzendcn Schneemassen geschwellt, stürzt in einen furchtbaren Abgrund, aus dem der Schaum empor wirbelt, wie der Rauch aus einem brennenden Hause. Die ungel>eure, von glänzenden, kohlschwarzen Felsen umsäumte Kluft, in welche die Wasser Hinabstürzen, verengt sich schließlich zu einem brodelnden Kessel von unberechen- barer Tiefe, über dessen gezackten Rand der Strom dann weiter zu Tale schießt. Man wird schwindelig von dem unablässigen Tonnergelöse der riesigen grünen Wassersäule und von der ewigen Wirbelbcrvegung des aufspritzetiden, flackernden Gischtes, der sich gleich einem dichten Vorhang aus der Tiefe emporzieht. Ganz außen am Rande schauten wir den Wassern zu, wie sie sich in sprühendem Glanze tief unten an den schrvarzen Felsen brechen, und lauschten den Tönen, die — einem menschlichen Jauchzen vergleichbar — mit dem aufspritzcnden Gischt aus der Schlucht herauf- schallten. Auf der einen Seite ist um den Fall herum ein Pfad gehauen, um eine vollständige Ansicht der erstcren zu er möglichen, allein derselbe hört plötzlich auf. so daß man auf demselben Wege wieder umkehren muß. In dem Augen blicke, wo wir uns an dieser Stelle nieder zurückwandten, erblickten wir einen jungen Burschen aus der Gegend, der ! mit einem Briefe in der Hand dahergcrannt kam. Dieser ! trug den Stempel des Gasthofes, den wir soeben verlassen ! hatten, und tvar vom Wirt an mich gerichtet. Es schien ! wenige Minuten nach unserem Weggange eine Engländerin ! im letzten Stadium der Schwindsucht dort eingetroffen zu sein. Dieselbe latte den Winter in Davos zugcbracht und war nun auf dem Wege nach Luzern, wo sie mit Bekannten Zusammentreffen wollte, plötzlich von einem Blutsturz be fallen worden. Sie habe znar aller Wahrscheinlichkeit nach nur noch wenige Stunden zu leben, aber es würde ihr doch ein großer Trost sein, wenn sie einen englischen Arzt bei sich sehen könnte, ich möchte doch zurückkommen usw. In einer Nachschrift versicherte mich der gute Mann noch besonders, wie er die Erfülluirg seines Wunsches als eine sehr große persönliche Gefälligkeit ihm gegenüber ansehen würde, denn die Fremde wolle durchaus keinen sclsweizer Arzt, uird er sehe sich infolgedessen in eine recht verantwortungsvolle Lage verseht. Dieses Ansuchen ließ sich nicht abwcisen: ich konnte doch einer Landsmännin, die in einem fremden Lande im Ster ben lag, ihre Bitte nicht abschlagen; doch nachte ich mir auch wieder darüber Gedanken, daß ich Holmes allein lassen sollte. Schließlich einigten wir uns jedoch dahin, daß er den Bur schen als Führer bei sich behalten sollte, während ich nach Meiringen zurückkebrte. Holmes wollte, so sagte er, noch einige Zeit an dem Wasserfall verweilen und dann langsam über den Berg hinüber nach Rosenlaui wandern, wo ich ihn am Abend wieder treffen sollte. Im Weggehen sah ich noch,