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Schloß Ko Menniere. Frei nach dem Französischen von Adele Treuenfels. Fortsetzung Nachdruck verboten. Der erste Brief wird gleichgültig durchslogen. Als sie den zweiten gewahrt, leuchten ihre Augen auf, und mit Interesse beginnt sie: „Derehrteste Tante! Ich habe Ihnen schon so oft Neu jahrsbriefe geschrieben. Dieselben können Sie unmöglich erfreut haben, denn es lvaren nur kalte, nichtssagende Höf- lichkeitsformeln, die ich aufs Papier setzte. Heute will ich es anders machen. Ich will mein Herz reden lassen, habe Ihnen so viel zu erzählen. Der Brief meiner lieben Mutter hat Ihnen unsere elende Lage geschildert. Ja, es ist wirk lich so, und ist glaube, noch viel schlimmer, als sie es Ihnen sagt. — Was mir am meisten Kummer macht, ist die Krankheit meiner lieben Mama. Der Arzt verordnet gute Luft, kräf- tige Kost. Aber woher sollen wir das nehmen? Pierre ist Offizier. Ter Gedanke erscheint mir zu grausam, ihn sei ner militärischen Laufbahn zu entreißen und unser elendes Leben zu teilen. Nein, er wenigstens soll glücklich sein. Verehrte Tante, können Sie uns Rat schaffen, uns hel fen? Werden Sie es mir übel nehmen, wenn ich Sie frage, ob wir Sic besuchen dürfen? Wir werden Ihre Gastfreund schaft mit Liebe und Dankbarkeit vergelten. Ich habe gro ßes Vertrauen zu Ihnen und verbleibe mit den Gefühlen aller Ergebenheit Ihre gehorsanre Nichte Johanna." Die alte Dame seufzt tief, und zu Mr. Patras gewen- det hebt sie an: „Die Kleine muß meinem Neffen Karl ähnlich sehen. Eie hat. ihrem Briefe nach zu schließen, das Herz auf dem rechten Flecke. Mit erstaunlichem Mut überwindet sie alle Schwierigkeiten: sie hat Charakter, sie gefällt mir. Wäre sie Waise, mein Haus stände ihr offen. Aber Madame Bar del ist niir eine Fremde, ich kenne sie nicht: sie könnte mir unsympathisch sein. „Soll ich ihnen eine Pension zukommen lassen? Das wäre für mich mit großen Opfern verbunden." Ter Nachbar stand unbeweglich vor der hohen Dame: ihm war bewußt, daß sie über Millionen verfügte. Doch wagte er nicht, einen Vorschlag zu machen. „Ich werde mir's noch überlegen, für hellte habe ich genug von der Sache," und zu Mlle. Odette gewandt, herrschte sie dieselbe an: „Gehen Sie fort. Sie liegen mir auf den Nerven." „Nachbar, wollen Sie eine Partie mit mir machen?" Ohne eine Antwort abznwarten, stellte sie eifrig die Figuren auf. Bald ist das Spiel in vollem Zuge: die Sckloßherrin sclreint zu gewinnen. Nackrdem Mr. PatraS gute Nacht gewünscht, begibt sich Mlle. de la Mennicre in ihr Schlafzimmer. Sie findet keine Ruhe. Gedanken ver schiedenster Art durchkreuzen ihr Gehirn. Soll sie ihre Nichten kommen lassen? Sie bürdet sich eine Last auf, eine Reilre von Widerwärtigkeiten würde daraus entstehen. Beim Anblick eines Bildes, das über ihrem Bette hängt, tauchen alte Erinnerungen auf: Ein Knabe ist es. mit blon den Locken und ausdrucksvollen Augen. Er schaut die alte Tante fragend an. Ja, das war ein trauriger Tag. sieben- nnddreißig Jahre sind es her, als man ihr sagen ließ: Deine Schwester liegt im Sterben, komme rasch. Sie war kaum aiigelangt. als diese die brechenden Augen noch einmal öfs nete und lispelte: „Schwester, ich vertraue dir inein Kind an." Und schluchzend hatte sie erwidert: „Ich schwöre es dir. ich werde für ihn sorgen." Nach den Beisetzungsfcierlichkeiten nahm sie den Kna ben zn sich und nxir wie eine Mutter für ihn. Er schlief auf ihrem Schoße ein, sie flüsterte ihm tausend Zärtlichkeiten ins Obr, sang ihm Lieder vor und verließ ihn nie. Er sollte den Tod der Mutter nicht empfiilden. Und während fünfzehn Jahren blieb dieses innige Ver hältnis bestehen. Der kleine Knabe liebte sie heiß, folgte ihr auf Schritt und Tritt. Als er älter wurde, zog es ihn nach Paris, uni dort seine Studien zu vollenden. Eine furchtbare Leere war dann ins Haus gezogen, eine Leere, die niemand auszufüllen vermochte. Da sagte sie sich, daß die Liebe vergänglich sei; ein Unsinn, sich ail Menschen hängen. Sie hatte ihr Herz ver schlossen gegen die Außenwelt: niemand sollte mehr daran rühren. Warum war sie heute abend so erregt, warum konnte sie keinen Schlaf finden? Die Züge des kleinen Neffen schienen sich zu beleben. Es war ihr, als ob die Kinderlippen sich öffneten: „Hab Erbarmen mit denen, die ich zurückgelassen. Du wirst sie wegen meiner lieben." Ihr dünkte es. als ob die Buchstaben des Briefes Gestalt annahmen und ihr zurie fen: „Erbarmen. Erbarmen!" Um sechs Uhr früh steht die alte Dame auf. nun ist sie entschlossen. Mit fester, klarer Schrift schreibt sie folgendes: Liebe Nichte, ich erwarte Dich und Deine Mutter für einige Wochen bei mir. Ein Wagen wird Euch an der Sta tion erwarten. Enphrosine de la Meuniere." 4. Einige Tage darauf genießt die Familie Patras ein seltenes Schauspiel. Eine altmodische Kutsche bewegte sich langsam vor dein Häuschen der Bahn zu. Als Vorspann diente eine bejahrte Stute: mit eingezogenem Schwänze und traurig gesenkten Ohren trabte sie einher. Auf dem Bocke saß ein ebenso origineller Führer, ein hagerer Mann, der durch Zurufe und Kosenamen seine Eocette zum Weitergehen ermuntern wollte. Auf dem Hin tersitze thronte Mlle. Odette. Ein umfangreicher Schirm sollte sie vor neugierigen Blicken schützen. Nach dreiviertel Stunden war die Equipage an ihrem Ziele aiigelangt. Philipp, der Kutscher, wendet sich zu Mlle. Odette und trägt: „Wo soll ich hinfabren?" Doch Odette ist außer sich vor Aufregung: sie seufzt, sie zögert, und da ihr keine Antwort einfällt, entschließt sie sich, ihrerseits zn fragen: „Ist der Zug wohl angekoinmeir?" — „Wird schon so sein!" Odette hat ihre Fassung wiedererlangt, und findet es richtig, im Schatten einer Buche zn warten. Entzückt über diesen Vorschlag, macht sich Philipp daran, den mitgebrach- len Haber Eocette vorzulegen. Mlle. Odette spannt von neuem ihrem Schirm ans, breitet ihr Taschentuch ans und legt sich zn einem Nachmit- tagsschläfchen zurecht. Indessen nxircn die Damen Bardel angekoininen und nachdem sie umsonst Umschau gehalten, ließen sie sich ans eine Bank nieder. Tie Mutter nickte bereits, ermüdet von den Strapazen der Reise, ein. Johanna sucht sich Bewegung zu machen: auch komm: ! cs ihr eigentümlich vor, daß sie niemand erwartet. Nach einigen Minuten keimte sie aus vollen! Halse ^ lachend zurück. „Mutter, ich glaube, unser Wagen steht dort, noch nie § in meinem Leben habe ich solch komisches Fuhrwerk i gesehen." Sie zieht Mine. Bardel mit sich, und wahrhaftig, welch ! eigenartiges Bild bietet sich ibren Blicken: Eocette, unbe weglich. mit gerenktem Kopfe, Philipp läßt ein lautes Schnarchen vernehmen, und endlich dort unter dem umge- worsenen Schirm liegt Odette: ihr dickes Gesicht ist durch die Hitze stark gerötet und erinnert an eine Klatschrose. Johanna läßt der Mutter keine Zeit zum Sprechen. Sie berührt die Schulter der alten Gesellschafterin, worüber diele erschrocken auffährt, „Verzeihen Sie," sagt Johanna, indem sie auf die Lippen beißt, um das Lacken zu unterdrücken. „Erwarten Sie jemand?"