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1. Beilage M Schönburger Tageblatt. 47. Sonntag, den 34. Februar 1901. ZS Zahn ia Klimm. Rach den mündlichen Mittheilungen eines verbannten pol nischen Insurgenten von Theodor Hermann Lange. VI. Nachdruck verdaten. Aus dem sibirischen Räuber- und Verbrech erleben — Wunderknrev und Aberglaube» der Sibirier — Hochzettssitten der orthodoxen Sibirier — Betrügerische Dorfvorsteher. Zunächst widmete ich mich wieder Schankgeschäften in Lon, dann aber überließ ich es mehr und mehr meiner Wirthschafterin und trieb abermals Handel mit den Tataren, der ziemlich lohnend war. Ich besuchte fort gesetzt die verschiedensten Tatarendörfer, wo ich meine Waaren zu guten Preisen losschlug. Eines Tages herrschte eine fürchterliche Aufregung in einem Tataren dorfe, als ich dort ankam. Es waren nämlich in die sem Dorfe die Nacht zuvor neun Personen ermordet worden, und zwar eine ganze Familie, von der man wußte, daß sie viel Geld besaß. Einige Tage später erwischte man die Mörder. Es waren drei Russen, die aus dem Gefängniß, wo sie Zwangsarbeit zu verrichten hatten, entsprungen waren. Geld fand man jedoch bei den Mördern, die Alles ableugncten, nicht vor. Tataren, Nachbarn jener ermordeten Familie, hatten den Räubern verrathen, wo jene im Zelte ihr Geld aufbewahrten. Die drei Räuber saßen im Gefängnisse und waren ge fesselt. Wie es sich später herausstellte, hatten jene Mörder Verhältnisse mit Mädchen in der nächsten Stadt und dort bei jenen Mädchen war das Geld ver steckt. Diese Weiber gingen nun zu dem Spruwnik (Landrath) des Kreises, Namens Glowkoff, und boten diesem eine große Summe Geldes, wenn er den Räu bern dir Fesseln abnchmen ließe. Der ungetreue Be amte ging auf den Vorschlag ein, nahm das Geld und ließ andern Tags auch thatsächlich den Verbrechern die Fesseln unter dem Vorwand lösen, daß sie noch Unter suchungsgefangene wären und ihnen bisher nichts be wiesen sei. Eine Eigenthümlichkeit der russischen Be amten ist es, daß der Staat sich nie auf ihre Ehrlich keit verlassen kann. Dahingegen kann derjenige, der sie bestochen hat, ans sie felsenfest bauen, denn diesen betrügen sie unter keinen Umständen. Jene drei Mörder blieben sechs Monate in Untersuchungshaft, und schliefen tags über. Nachts aber arbeiteten sie fleißig, aller dings im Geheimen. Unter der Pritsche, auf der sie lagen, hatten sie die Diele aufgebrochen und gruben nun einen Gang bis hinter den acht Meter hohen Pallisadenzaun, bei dem jeder Pfahl spitz zuläuft, so daß eine Flucht unmöglich ist. Die Erde, die sie auf geworfen hatten, schütteten sie in Beutel. Gegen Morgen mußten sie mit ihrer Maulwurfsarbeit aufhören, um nicht entdeckt zu werden. Sie legten sich auf ihre Pritschen und schliefen ermüdet ein, so daß sie der Wärter jeden Morgen mit vielem Gepolter wecken mußte. Tagsüber verbargen sie die Beutel mit Erde unter ihrem langen Kittel und schütteten die Erde in unbewachten Augenblicken bei dem Spaziergang auf dem Hose aus. Als sie diesen unterirdischen Gang so weit es nöthig war ausgehöhlt hatten, horchten sie in der letzten Nacht unter der Erde auf die Tritte des wachthabenden Solda ten. Dem einen Mörder war es gelungen, seine Ge liebte davon zu verständigen, an welchem Tag die Flucht bewerkstelligt werden sollte. Das schlaue Geschöpf be schloß nun, den wachthabenden Soldaten Nachts in ein Gespräch zu verwickeln und so seine Aufmerksamkeit Von dem Gefängniß abzulenken. Der Plan wurde ausge führt. DaS Mädchen erschien um die bestimmte Stunde, traktirte den Soldaten mit Wurst und Branntwein, und erzählte ihm, daß es sich schon längst nach einem Stell dichein mit ihm gesehnt habe. Der Soldat glaubte ihm und plauderte trotz des diesbezüglichen Verbots mit der Dirne sehr gemüthlich. In derselben Zeit durchbrachen die Gefangenen die Erde, die sie noch von der Ober fläche trennte. Einer entschlüpfte, als der andere aber sich herausarbeitete, kam zufällig ein Polizeidiener des Weges. Dieser Beamte erschrak zunächst sehr, schlug aber im nächsten Augenblick furchtbaren Lärm. Dadurch wurde der Soldat aus seinem Licbesgirren aufgeschreckt. Das Mädchen packte ihn zwar und wollte ihn mit Gewalt zurückhalten. Er stieß es aber von sich und eilte an die Stelle, von der der Lärm zu ihm gedrungen war. Inzwischen war der zweite Gefangene auch entsprungen, nachdem er zunächst den sich auf ihn stürzenden Polizei beamten zu Boden geworfen hatte. Der dritte arbeitete sich gerade heraus, wurde aber von dem Soldaten er- schossen. Der Soldat alamirte die Gefängnißwache; die Flücht linge wurden sofort verfolgt und einer derselben auch i ergriffen, ebenso das Mädchen. Der erwischte Flücht ling wurde einige Tage später aufgehängt. Bei dem Mädchen fand man einen Theil des den ermordeten Tataren geraubten Geldes. Wegen Beihilfe zum Fluchtversuch und Hehlerei wurde dieses zu mehrjähriger Zwangsarbeit verurtheilt. Ten Landrath aber, der den Gefangenen die Fesseln hatte abnehmen lassen, versetzte der Gouverneur in ein anderes Gouvernement. So gewaltthätig und roh der Sibirierist, so aber gläubisch ist er auch. Ein sibirischer Gewohn heitsverbrecher wird nie einen neuen Raub, Einbruch oder sonst eine strafbare Handlung begehen, wenn er nicht zuvor allerhand Zaubergetränke zu sich genommen oder sonstige Zaubermittel angewandt, in dem Glauben, daß er dann nicht erwischt werden könne. Aber auch die solide sibirische Bevölkerung, welche sich ehrlich ihr Stückchen verdient, glaubt noch an allerhand Spuk, Be schwörungen, besonders an das Verhexen und an das Besprechen. Bei Kopfschmerz, den die Sibirier „Urok" nennen — man glaubt nämlich, daß der von Kopfschmerz Be haftete behext worden sei — werfen sie drei glühende Kohlen in ein Waschbecken, nehmen ein Messer, das an diesem Tage nicht gebraucht worden ist und bekreuzen damit das Wasser, indem sie etwas flüstern. Tann wird der Kopf des Leidenden mit dem Wasser gewaschen und derselbe behauptet alsdann, der Kopfschmerz sei wie „weggeblasen". Diesen Vorgang habe ich mir stets mit Suggestion erklärt, denn ich sah wirklich vorher den Schmerzensausdruck auf dem Gesicht des Kranken und dann den Ausdruck der Erleichterung und des Wohlseins. Aber unerklärlich ist mir ein anderer Aberglauben der Sibirier geblieben, den ich in Folgendem beschreiben will. Eines Tages — ich war noch nicht lange in Lon — sagte ich zu meiner Wirthin: „Ich komme eben vom Felde und sah dort, daß unsere schwarze Kuh furchtbar unruhig ist. Der Hütejunge meint, eine Fliege hätte ihre Eier in eine Wunde der Kuh gelegt und die Würmer wären ausgekrochen. Ich sah auch in der That eine Wunde, in der faustdick die Maden saßen." „Das ist nicht schlimm, Herr, ich will die Kuh schon kuriren." Ich schaute auf das achtzehnjährige Mädchen und ent gegnete: „Da bin ich aber neugierig, wie Tu das be ginnen willst, denn weder von mir noch von dem Hüte jungen ließ die Kuh die Wunde berühren." „Ich werde sie ganz allein kuriren," entgegnete das Mädchen. „Rede keinen Unsinn; es müssen mindestens sechs kräftige Männer die Kuh halten, dann werde ich die Maden herausholen. Du mußt gleich gehen und einige Männer auf heute Abend bestellen." „Das ist aber garnicht nöthig," sprach das Mädchen, „das besorgen wir Frauen selber, es dürfen nur vorher die Maden nicht berührt werden!" Mich belustigte dieser Eigensinn des Mädchens. „Tas Berühren wäre ein Kunststück, weißt Du. Die Kuh hätte mich einfach auf die Hörner genommen; sie ließ mich garnicht in ihre Nähe. Du kannst mir ja Deinen Heilversuch vormachen. Ich bürge Dir dafür, daß Tu aber, sobald Tu allein die Kuh nach Deiner Art behandeln willst, in die Höhe fliegst. Jedoch wenn Du durchaus willst, sollst Du das Vergnügen haben!" schloß ich lachend. Tas Mädchen zuckte geringschätzig mit den Schultern und erwiderte nur: „Du wirst schon sehen, in drei Tagen fallen die Maden todt heraus, ohne daß ich sie berühre!" Ich ging an meine Arbeit. Als bei Sonnenunter gang meine Kühe nach HauS kamen und meine Wirthin mit dem Melken der Thiere begann, machte ihr die schwarze Kuh viel Mühe, denn sie warf sich hin und her. Kaum war die Sonne untergegangen, da rief noch meine Wirthin. „Komm Herr und sieh zu, wie ich die Kuh heile." Neugierig folgte ich dem Mädchen, das eine Scheere und einen Bohrer in der Hand trug. Das Mädchen trat an die Kuh heran, schnitt ihr ein Büschel Haare ab, ging an den Hofzaun, bohrte in eine Aststelle eine feine Oeffnung und stopfte die Haare hinein, indem es dabei unausgesetzt etwas murmelte. Lächelnd sah ich zu. „Und die Maden?" fragte ich, als das Mädchen sich anschickte, ins Haus zurück zu kehren. „Fallen am dritten Tag um dieselbe Stunde todt her aus," entgegnete es ernst. «Na, wir wollen's hoffen!" entgegnete ich, da ich das Mädchen nicht länger durch meine Spottsucht ärgern Wollte. Das war an einem Dienstag. Freitag Abend, als die Kühe zum Melken kamen, wunderte ich mich über meine schwarze Kuh. Ich sah keine Spur von Unruhe mehr. Als ich näher trat, entdeckte ich zu meinem j größten Erstaunen, daß die Würmer wirklich todt her ausfielen. „Na," rief mich meine Wirthin an, „hat mein Mittel nicht gewirkt? Bin ich in die Höhe geflogen? Was bekomme ich nun für mein Kunststück?" Ich versprach ihr eine schöne rothe Schürze, konnte mir aber nicht erklären, inwiefern dies Mittel geholfen hatte. In der Folge hatte ich noch oft Gelegenheit, meine Wirthin das Helle Kunststück ausführen zu sehen. Die Würmer fielen stets am dritten Tage todt her aus. Einmal ließ ich nichts anwenden, weil ich dachte, daß diese Schmarotzer vielleicht nur drei Tage leben. Doch ich täuschte mich. Tie betreffende Kuh bekam eine furchtbare Eiterbeule, brüllte und tobte unausge setzt, bis meine Wirthin wieder ihr sonderbares Mittel anwandte. Bestellt der Sibirier im Frühjahr sein Feld, so be sucht er zunächst den Gottesdienst, der dann sehr zeitig abgehalten wird. Die Sibirier säen nämlich nur vor Aufgang der Sonne und nach deren Untergang. In der Zwischenzeit zu säen, wagen sie nicht, denn das wäre ein böses Omen für die Saaten. Auch wird nie mals an solchen Tagen gesäet, die einem Märtyrer ge weiht sind. Begegnet ein Sibirier, der mit seinem Wagen über Land fahren will, einer Frau, die mit leeren Eimern Wasser holt, so kehrt er sofort wieder um, denn sonst würde ihn Unheil treffen; davon wenig stens ist er felsenfest überzeugt. Dasselbe gilt von einer Begegnung mit dem Popen (dem russischen Geistlichen). Dagegen ist cs für ihn von großem Vortheil, ein junges Mädchen zu treffen, denn dann wird er Glück in seinen Geschäften haben. Natürlich fehlt es auch nicht an „klugen" Frauen, die vorzügliche Liebestränke brauen und die infolge dessen stark in Anspruch genommen sind. Bei Hochzeiten hatte ich stets Gelegenheit zu sehen, daß man den Pferden etwas ins Ohr raunte, ehe die Hochzeitswagen aus dem Hofe nach der Kirche fuhren. Als ich dies das erste Mal gewahrte, sagte ich zu dem Landwirth, der mich fuhr: „Na, Brüderchen, genügt Dir denn meine Gesellschaft nicht, daß Du mit den Pferden Dich unterhalten willst?" „Bei Hochzeiten ist es immer besser, wenn man den Pferden etwas sagt." Ich sah mir den Mann an und glaubte, der Genuß des selbstgebrauten Hochzeitsbieres habe den Pferden eine Unterhaltung mit ihm verschafft. Er mochte meine Gedanken errathen, denn er begann: „Latjutsrsta (Väterchen), Du mußt nicht glauben, ich wisse nicht, was ich thue. Bian muß den Pferden eine Besprechung ins Ohr flüstern, denn Tu weist nicht, was es für boshafte Menschen hier giebt." „Ja was haben aber die Pferde damit zu thun?" Nun sieh mal, es kommt nämlich sehr oft vor, daß manche der Gäste mit der Bewirthung nicht zufrieden waren, dann gehen sie hinaus und behexen die Pferde. Sobald wir uns dann anschicken, in die Kirche zu fahren, so bäumen sich die Thiere und wollen auf keinen Fall den Hof verlassen, und dabei ist schon manches Unglück passirt." „Warum hat man in solchen Fällen denn nicht mit den Thieren geredet," sagte ich lachend. „Wenn man es vorher versäumt, dann ist es eben schlimm. Sobald man anfängt zu fahren, ist es zu spät," schloß der Bauer im Brustton der Ueberzeugung. Bei den Hochzeitsfeierlichkeiten herrscht überhaupt viel Aberglauben. Braut und Bräutigam dürfen z. B. am Hochzeitstage vor der Trauung nichts essen, damit eS ihnen im Ehestande gut gehe. Nach der Trauung be kommen sie zunächst ein Glas Branntwein aus einer bekränzten und bändergeschmückten Flasche, die vorher der Hochzeitsbitter — nächst dem Popen die wichtigste Persönlichkeit — feierlich und geheimnißvoll „be sprochen" hat. Bei den sibirischen Bauern kommen — im Gegensatz zu den Tataren — viel Liebesheiraten vor. Natürlich geht es dabei auch wie anderwärts zu. Gar oft sind die Eltern nicht von der Wahl ihrer Kinder entzückt. Indessen habe ich nie beobachtet, daß die Eltern des Bräutigams etwas an der Braut auszusetzen gehabt hätten. Stets waren es die Eltern des jungen Mäd chens, denen der junge Mann mißfiel. Und so kommt es nicht selten vor, daß die Eltern dem jungen Manne das Haus verbieten. Nunmehr Haden die Eltern meist keine ruhige Stunde mehr. Denn ist ihre Tochter dem