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Erscheint wöchentlich drei Mal: Dinstags, Donnerstags und Sonnabends. Preis incl. der Sonntagsbeilage „Der Erzähler" vierteljährlich 1 Mark, durch die Post bezogen 1 Mark 25 Pf. — Einzelne Nummern 8 Pf. — Jnsertionsgebühren pro kleingespaltene Zeile für Abonnenten 7 Pf., für Nichtabonnenten 10 Pf., im Redactionstheil 20 Pf. Bei mehrmaliger Insertion entsprechender Rabatt. — Jnseratsn- Annahme bis Abends 5 Uhr des vorhergehenden Tages. — Geeignete Beiträge sind stets willkommen. 45. Politische LimdschM. * Waldenburg, 11. October 1878. Die zweite Lesung des Socialistenge- setzes, die am Mittwoch begonnen, nimmt das Interesse des Tages am meisten in Anspruch. Wer heute die Zeitung zur Hand nimmt, blickt zuerst nach den Depeschen über die Verhand lungen des Reichstags. Und mit Recht. Handelt es sich ja doch um ein Gesetz, das tief einschnei dend auf unsere gesammte politische Bewegung wirken muß. Die Abgeordneten haben durch seltene Vollzähligkeit ihrer Reihen der Bedeutung des Tages Rechnung getragen. Von den Red nern, welche aus der Milte des Hauses das Wort ergriffen, wurden neue Momente zu der in Rede stehenden Frage nicht beigebracht. Von Seiten der Conservativen wurde ebenso der Eifer für das Zustandekommen, wie ein bereitwilliges Entgegenkommen an die Nationalliberalen be- thätigt, während die Centrumsleute sich absolut ablehnend zu verhalten erklärten. Fürst Bismarck nahm Gelegenheit, wieder eine seiner berühmten Reden zu halten, in welcher er in einer wahr haft klassischen Weise einen Abriß der histori schen Entwickelung der Socialdemokratie in Deutschland gab. Deutschland sei erst seit 1871 zum Schauplatz und Vor ort der Umsturzbestrebungen gemacht worden, nachdem in Frankreich, dem ursprünglichen Lager der Socialdemokratie, durch Niederwerfung der Commune und durch strenge Gesetze der Inter nationale der Boden entzogen worden sei. Die Aufhebung der Zeitungscautionen simd des Stempels, die billige und bequeme Postbeförde rung, die Milde der Strafgesetzgebung, die Gut- müthigkeit unserer Richter, die entgeistete Auf fassung, welche der Strafrichter dem Predigen der Gewaltthat und des Königmordes zwischen den Zeilen entgegenbringt — dies Alles habe gleichmäßig dazu beigetragen, dem „Evangelium der Negation" eine so ungeheure Verbreitung zu schaffen. Sodann geht Bismark auf die Partei- verhältniffe im Reichstage über, und tadelt, daß sich die reichstreuen Parteien nicht, wie es nöthig, enger aneinander und an die Regierung schlössen. Er habe sich bei Auflösung des Reichstags nicht von reactionären Tendenzen leiten lassen. Ob die Vorlage genüge, ob das „umfänglich ge zimmerte Schiff in dem neuen Fahrwasser richtig fahren würde", sei nur durch die Praxis zu er proben, sollte eine Vervollkommnung nöthig sein, so werde er schon in der nächsten Session eine neue Vorlage einbringen. Zum Schluß appellirt er an die reichstreuen Fraktionen, mit der Regie rung eine feste, sich gegenseitig vertrauende Phalanx zu bilden, die allen Stürmen, denen das Reich ausgesetzt sei, zu trotzen vermögen. Der Abg. Brüel, ein Hannoveraner, verleugnete seine nationalen Gefühle so sehr, daß er die Ge fühle seiner Landsleute für den jetzigen Herrscher denjenigen an die Seite stellte, welche unter der Fremdherrschaft Napoleons I. vorherrschten. Be deutsam ist auch die Rede Hasselmanns, die er gestern im Reichstag hielt, und in welcher er mit der Revolution droht, wenn das Gesetz an genommen würde. Glaubt er damit die Abge ordneten in Schrecken zu jagen, die Annahme des Gesetzes zu vereiteln? Der Deutsche Kaiser hat dem Generalfeld Sonnabend, 12. October marschall Grafen Moltke, der in Kassel an der Rose nicht unbedenklich erkrankt war, sein Bedauern darüber telegraphisch aussprechen lassen. Moltke ist wieder so weit hergestellt, daß er am 7. Oct. zum ersten Male das Bett wieder verlassen konnte und am 9. d. nach Berlin zurückzukehren gedachte. Ein türkisches Rundschreiben ist durch die Botschafter der Pforte bei den Großmächten über reicht worden, welches gegen die österreichisch-unga rische Kriegsführung in Bosnien und der Herze gowina Protest einlcgt. Dieses Rundschreiben hat in London wie in Berlin eine sehr üble Auffassung gefunden, da dasselbe seitens der Pforte wahrscheinlich nur in der Absicht erlassen worden ist, den Widerstand Ungarns gegen die Occupa- tion anzufachen. Die Leiter der Berliner Socialdemokra tie machen in der „Berliner Freien Presse" und im „Vorwärts" öffentlich bekannt, daß die All gemeine Deutsche Associationsbuchdruckerei (ein getragene Genossenschaft) eine außerordentliche Generalversammlung am 3. November abhalten wird, um die Liquidaticn des Geschäfts zu be schließen; dagegen hat sich die Magdeburger socialdemokratische Genossenschaftsbuchhandlung genöthigt gesehen, auf Eröffnung des Concurses anzutragen. Der Erzbischof von Bamberg ist am 8. d. vom bairischen Cultusmünster v. Lutz empfangen worden und am 9. d. Vormittags '/-t10 Uhr mit mehreren Klerikern nach Rom abgereist. Der Kaiser von Oesterreich setzt die infolge der österreichischen Ministerkrisis mit hervorragen den Mitgliedern des Reichsraths eingeleiteten Unterredungen fort. Der Präsident des Herren hauses, Fürst Carl Auersperg, ferner Or. Herbst sind am 9. d. in Wien angelangt und sind vom Kaiser empfangen worden. Vom Occup ations schauplatze. Im Gefecht vom 7. d., das wir in letzter Nummer erwähnten, wurden 2 Lieutenants leicht verwundet; von der Mannschaft 1 todt, 6 verwundet. Das Gefecht an letzterem Tage währte zwar mehrere Stunden, war aber ein leichtes. Generalmajor Reinländer ging sodann an die Entwaffnung der Einwohner von Peci und Umgebung und wollte dann weiter nach Vernograc zu marschiren; er ist der Ansicht, daß die Ruhe bald hergestellt sein wird. Eine wichtige Nachricht wird durch Wiener Zeitungen veröffentlicht. Danach soll der russische Commissar für Ost-Rumelien erklärt haben, daß Rußland Numelien gemäß des Vertrages von San Stefano und nicht laut jenes von Berlin verwalte. Die Wahreit der Mittheilung vorausgesetzt, darf immerhin bemerkt werden, daß dieselbe nicht vereinzelt steht, da Aehnliches auch, wenn auch in einer weit weniger auffälligen Form, der Konstantinopler Correspondent der „Pol. Corr." angedeutet hat. Nach einer Depesche aus Madrid von gestern ist in der Nähe von Tetuan in Marokko ein Beamter des spanischen Consulats ermordet wor den. Die spanische Regierung hat von der marokkanischen Regierung Genugthuung verlangt. Ueberall Zerwürfnisse. Zur englisch-afghanischen Frage meldet der „Standard" aus Allah-abad in Ostindien vom 8. d. M., daß infolge des Erscheinens und der dohenden Haltung einer starken afghanischen Truppenabtheilung unweit Jamrood die Besatzung um 7 Regimenter Fußtruppen und 3 Batterien 1878. verstärkt worden !ist. Der Kommandant, General Roß, traf bereits Vorbereitungen, den unteren Theil des Khyberpafses zu forciren und Alimus- jid anzugreifen, als er die Ordre erhielt, weitere Verstärkungen abzuwarten, damit man nicht den mindesten Echec^riskire. Par! amentarische Verhandlungen. Reichstag. Sitzung vom 9. October. Zunächst erfolgte die Wiederwahl des Präsidiums, nachdem die Abgg. v. Hell dorff und Windthorst die Reserve dargelegt hatten, wes halb sie bei der Geschäftslage des Hauses zur Zeit auf die Vornahme einer Zettelwahl verzichten. Darauf wurde in die 2. Berathung des Socialistengesetzes eingetreten. Abg. Frhr. von Frankenstein entwickelt die Gründe für die ablehnende Haltung des Centrums diesem Gesetze gegenüber. Abg. Frhr. v. Marschall kann speciell die Ersetzung des Wortes „Untergrabung" durch „Umsturz" keineswegs als gerechtfertigt anerkennen. Sie würde zu der schon von öffentlichen Blättern angekündigten Umgehung des Gesetzes sührsn. Daß Vereine, deren Ziel lediglich „hu manitäre" Bestrebungen seien, von diesem Gesetze schädi gend getroffen würden, kann der Redner in keiner Weise zugeben. Hinfällig sei der Einwand, daß alle Parteien den Gefahren eines solchen Gesetzes gleicherweise unter worfen seien, daß das Gesetz die persönliche und religiöse Freiheit bedrohe. Gegenwärtig brauche die Regierung eine schneidige Waffe, von der er von Herzen wünsche, daß sie recht bald ihre Wirkung gethan haben werde. Abg. Sonnemann ist der Meinung, daß das vor liegende Gesetz lediglich ein Tendenz- und Polizeigesetz sei, das vom Standpunkt des Rechts sich nicht vertheidi- gen lasse. Er kann nicht zugeben, daß das Bedürfniß für dies Gesetz vorliege, die socialdemokratischen Preß erzeugnisse überlasse man am besten sich selbst. Wenn man sie verbiete, würden noch viel gefährlichere Schrif ten aus dem Auslande sich Eingang im Lande verschaf fen. Ueberhaupt habe die Regierung hinlänglich Waffen in der Hand, um socialdemokratische Agitationen un schädlich zu machen. Allorschlimmsten Falls sei ja die Armee da, welche im Frieden 400,000 Mann stark sei und jeden Aufruhr niederhalten werde. Daß eine allge meine Stimmung für das Gesetz vorhanden sei, bestrei tet er. Thatsächlich sei Nobiling ein „Nationalliberaler" gewesen. (Großes Gelächter.) Die Nachtheile dieses Gesetzes würden sich, abgesehen von den ruinirten Exi stenzen, allgemein geltend machen. Die Schädigung der Preßfreiheit würde eine enorme sein. Es gäbe keine größere Aufreizung zum Klaffenhaß als dieses Gesetz, welches 4—500,000 Wähler rechtlos macht. Der Redner warnt dann die Conservativen davor, das erste Wieder erstarken ihrer Kraft dazu zu benutzen, ein Polizeigesetz zu votiren. Sie würden es jedenfalls noch einmal be reuen. Was aber die nationalliberale Partei betrifft, so biete deren jetziges Verhalten im Gegensatz zu den Verhandlungen vom Mai eine höchst interessante Erschei nung. Die nationalliberale Partei würde ihre ganze Vergangenheit verleugnen, wenn sie für ein solches Ge setz stimmen würde. Reichskanzler Fürst v. Bismarck wies darauf hin, daß vielfach die Artikel des dem Vorredner gehörigen Blattes („Frankfurter Ztg.") mit den Aeußerungen der französischen officiösen Presse coindiciren, und daß ihm mitunter Aeußerungen der französischen Presse auf dem gesandtschaftlichen Wege mitgetheilt werden, welchen er zuvor schon in der „Frankfurter Ztg." begegnet wäre. Zum Gesetze selbst übergehend unterscheidet der Reichs kanzler wesentlich zwischen positiven und negativen Vor schlägen, welche auf Verbesserung des Looses der Arbei ter gerichtet seien. Ersteren werde er jederzeit fördernd entgegenkommen; inzwischen ständen wir aber seit Jah ren in dem Stadum der Untergrabung aller Verhält nisse. Das Geheimniß, weshalb die Führer mit keinen positiven Vorschlägen hervortreten, bestände eben dar in, daß sie keinen hätten, daß sie den Stein der Weisen eben nicht besäßen. Der Reichskanzler schilderte dann in eingehender Weise die trostlosen Wirkungen, welche das „Evangelium der Negation" auf die ungebildete, besitzlose Klasse ausüben müsse. Auf den Ursprung der socialdemotratischsn Agitation übergehend, erinnert er daran, daß das Streben derselben nach Herrschaft im Staate doch eigentlich erst seit dem Jahre 1870 sich gel tend mache und beleuchtet dann des Näheren die Um-