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Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 10.05.1885
- Erscheinungsdatum
- 1885-05-10
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id512382794-188505106
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id512382794-18850510
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-512382794-18850510
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote
-
Jahr
1885
-
Monat
1885-05
- Tag 1885-05-10
-
Monat
1885-05
-
Jahr
1885
- Titel
- Chemnitzer Anzeiger und Stadtbote : 10.05.1885
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KnttryMngs-WM M..Ähemmhcr Anzeiger". Nr. 7S — Sonntag, 10. Mai. terlagr-Exveditiou: Alexander Wiede, Bnchdruckerei, Chemnitz, Theaterstraße 48 (ehemaliges Bezirksgericht, gegenüber dem Kasino). 1885. — 5-. Jahrgang. Das Schloß im Walde. Novelle von K. Pflaume. (Nachdruck verboten.) I. Im bläulichen Schatten der Bäume führt auf und ab durch das grüne Blättermeer des Waldes der kaum bemerkbare, wenig betretene Pfad. Bisweilen von andern ähnlichen gekreuzt, scheint er sich hier und da im dichteren Gebüsch ganz zu verlieren, so daß eS schwer ist, den rechten Weg zu finden. So erging es auch einem jungen Wanderer, der eines Tages jenen Gebirgswald durchstreifte. Mehrmals blieb er unschlüssig stehen und überlegte, welche Richtung er einzuschlagen habe. Nach der Zeit, welche er gebraucht, hätte er längst an Ort und Stelle sein müssen; es wurde ihm klar, daß er sich verirrt habe. Er ließ sich das wenig aufechten; der Tag war schön, der Wald grün, die Blumen zu seinen Füßen lächelten ihn an und das Murmeln der über seinen Weg hüpfenden Quellen klang so traulich und mischte sich mit dem leisen Rauschen der Baumwipfel zu einem harmonischen Willkommen. Ihm war, als ob der Wald selbst ihn frage: was er Neues aus der staubigen Welt da draußen bringe und ob er nicht lieber stets bet ihm bleiben wolle im Grünen, wo ihn eine ganz andere, neue und jugendliche Welt mit frischen, heiteren Augen anblicke. Von fern erklang dazu das dumpfe Gemurr der Holztauben, der Buchsinke schlug vom hohen Aste und das Lied der Amseln und Drosseln hallte zwischen den hohen Stämmen. Einige Male sprangen Rehe auf und eilten in flüchtigen Sätzen davon und öfter hatte er Gelegenheit, ein flinkes Eichhörnchen zu bewundern, welches, durch den ungewohnten Anblick eines Menschen erschreckt, von Ast zu Ast, von Baum zu Baum sprang und selbst fallend noch schwankende Zweigspitzen erfaßte, an denen es, sich an klammernd, wieder nach dem stärkeren Geäst emporkletterte. Aber nicht blos solche friedliche Geschöpfe beherbergte der Wald. In den Gesang der Vögel ertönte bisweilen, Wenn auch aus ferner Lufthöhe, der heisere, häßliche Ton eines Raubvogels, und einmal ließ sich von einem gegenüberliegenden Berge her das Gebell eines Fuchses hören. Freudig lauschte unser Wanderer allen diesen Tönen des großen Frühlingskonzertes. Ihm gewann Alles individuelles Leben, das von der Sonne durchschienene und verklärte Maigrün der Blätter, das zarte Auf- und Niederbewegen der Zweige, die wie grüne Fächer von den Bäumen gehandhabt wurden. Wie einem Taucher auf Meeresgründe war ihm zu Muth, hoch über sich das Wellenrauschen der Baumwipfel, auf dem' Boden gleich Perlen die blühenden Maiblumen Doch die Zeit war über seiner audächtig - fröhlichen Verehrung hingegangen und er fand es gerathen, den Versuch zu machen, sich nach dem Ziele seines Wanderganges hiuzufinden. Bald aber ver zweigte sich der Weg wieder in zwei Pfade, von denen der eine so verdächtig unbetreten wie der andere aussah; welchen sollte er wählen? Während er noch zweifelnd stand, hörte er eine Stimme fragen: .Wohin wollen Sie denn eigentlich? Ueberrascht drehte er sich um und sah einen Mqnn vor sich, dessen Nahen so leise gewesen, daß derselbe unbemerkt bis in seine nächste Nähe gelangen konnte. Ein Blick auf die Füße desselben erklärte dies einigermaßen; der Mann war barfuß. Sein Anzug war überhaupt nicht der beste und bestand nur aus einer alten Sack drellhose und einem verschossenen grünen Kittel. Als Kopfbedeckung trug er eine schäbige Mütze. Sein Gesicht war faltig und gebräunt und allem Anscheine noch besaß er an seinem Körper nicht ein Loth überflüssigen Fleisches. Man hätte bei seinem Anblick unwillkürlich an die Magerkeit mancher Raubthiere erinnert werden können, ein Eindruck, der noch durch eine gewisse Unruhe seiner Hellen Augen verstärkt wurde. Trotzdem lag eine freundliche GutmSthigkeit in diesen Gesichtszügen und Augen, wie auch im Ton der Stimme. .Ich muß irre gegangen sein,' sprach der Angeredete, „ich will nach Auers selbe!" .Das ist freilich nicht der Weg nach Auersfelde," bemerkte der Andere, .kommen Sie hier quer durch den Wald, Sie sind weit umgegangen!" Dann, als der junge Mann ihn zögernd anblickte, fuhr er fort: .Sie trauen mir Wohl nicht? Wenn Sie dort jene Hügelkuppe ersteigen, können Sie das Schloß sehen; dann haben Sie wenigstens die Richtung, — kommen Sie!" Damit ging er ohne Weiteres querwaldein voran und führte den jungen WanderSmann nach kurzer Zeit auf einen Punkt, von deui aus dieser plötzlich ein malerisch gelegenes alterthümliches Schloß aus dem Walde emporsteigen sah, dessen Anblick ihm ein lautes ,AH I" der Bewunderung entriß. Das Schloß zeigte sich als ein Stückchen wohlerhalteues Mittel alter, ein Ritterschloß mit hoch auf felsigem Gestein emporragenden Mauem und mit einem Wartthurme, der diese wieder um ein Be trächtliches überragte. Die bräunliche Farbe des Mauerwerkes paßte zu dem frischen Waldesgrün, von dem eS umfaßt war. Wie ein brauner Falke beherrschte es von seiner Höhe rings den Wald. Der Man», welcher ihn hierher geführt, blickte ihn bei seinem Ausrufe an: „Nicht war, es ist hübsch? Es ist die Finsterburg und AuerS selbe liegt nur ein paar hundert Schritte jenseits. Wenn Sie im Dorfe nur zu einem Trünke einkehreu wollen, so gehen Sie in die Schenke, die liegt gleich vorn. Wollen Sie freilich über Nacht bleiben, so rath' ich, in den Gaskhof zu gehen, das neue Gebäude in der Mitte des Dorfes." „Ich will nicht in den Gasthof." „Dann wollen Sie wohl nach Viktorsbad? In Viktorsbad ist theures Pflaster." „Ich denke hier zu bleiben." „Dann haben Sie hier wohl Freundschaft? Wollen Sie zum Herrn Pastor?" „Nein?" „Oder zum Herrn Oberförster?" Die Frage besaß etwas Lauerndes, Ausforschendes, was dem jungen Manne nicht gefiel. Dennoch antwortete er: „Besteht hier nicht noch ein einzeln liegender Gasthof, zur grünen Tanne?" „Ja, aber nicht dicht bei Auersfelde. Wenn Sie dahin wollen, in der grünen Tanne ist's freilich auch gut." Unaufgefordert zeigte er ihm den Weg, den er zu wählen habe und wollte dann mit einem „Verlaufen Sie sich nicht wieder, adjes!" den Reisenden allein lassen, als dieser ihn zurückhielt und ihm ein Geldstück reichte: „Ich bin Ihr Schuldner, nehmen Sie wenigstens diese Klei nigkeit!" Der Grünkittel besah das Geld und meinte: „Das ist aber zu viel, lieber Herr und es wäre auch überhaupt nicht nöthig gewesen." „Machen Sie keine Umstände, eS ist ja nur wenig und Sie thaten mir einen großen Gefallen!" „Nun, wenn's Ihnen nicht zu viel ist, was einem aus freiem Herzen geschenkt wird, muß man annehmen," bemerkte der Mann, abwechselnd das Geldstück in seiner Hand und dessen Geber an blickend, „daun dank' ich auch schön, und es wird Wohl das Beste sein, wenn ich noch ein Bischen mitgehe. Die städtischen Herren verlaufen sich bei uns gar oft; wir erleben'- fast jeden Sommer." Sie waren noch nicht weit gekommen, als ein Hirsch unter den mächtigen Buchen des Hochwaldes dahersprang. Beide machten unwillkürlich Halt und blickten dem Thiere nach, welches, eines der stattlichsten seiner Art, das Geweih im Nacken, über den Weg sprang, und, als wenn der Anblick der Beiden seine Flucht noch beschleu nigte, mit gewaltigen Sätzen über die jungen Tannen hinwegsetzte, welche zur linken Seite die Halde eines Hügels bedeckten. Be jedem dieser Sprünge entwickelte er seine wilde Grazie und erstaunens werthe Schnellkraft. Bald war er dem Nachschaucnden verschwunden. „Ein herrliches Thier!" sagte der Reisende und blickte seinen Gefährten an, wurde aber von dem Wechsel betroffen, der im Ge- rchtsausdruck des Letzteren vor sich gegangen war. Die wetter braunen Züge zeigten eine solche Gluth und die Augen zumal ein ganz eigenthümliches Aufleuchten, wie es etwa im Auge jagender Hunde oder Raubthiere stattfindet. „Ein feister Hirsch," antwortete dieser, „und wie er auf dreißig Schritt das Blatt zeigte!" Der Ton, in welchem dies gesagt wurde, trug den Ausdruck herzlichen Bedauerns. „Aber," fuhr er fort, „er ist aufgejagt, entweder durch einen Hund, oder — aha! das war's!" Sie hatten bei diesen Worten eine Waldecke erreicht, wo ihr bisheriger Fußweg von einem breiteren, in schnurgerader Linie durch den Wald führendem Rasenwege, einer sogenannten Schneise, durch- chnitten wurde. Hier sahen sie eine Reiterin dahinsprengen, deren grünes Kleid, grüner Hut und Schleier sie gleich einer Göttin der Jagd erscheinen ließen. Hoch über ihrer schlanken, vornehmen Gestalt wölbten sich die Waldbäume, deren Farbe sie trug, zu einem grünen Triumphbogen. Bon der heftigen Bewegung glühten ihre Wangen, ihre blonden Locken flatterten, jedes Haar ein Sonnenstrahl, und das milchweiße Roß schien stolz auf die schöne Last zu sein, welche über ihm chwebte. Der junge Reisende zog den Hut und als sie sich dankend neigte, ielen einige der schweren Locken nach vorn und umspielten das schöne Oval ihres Angesichtes. „Wer war das?" fragte der Jüngling, sich nach seinem Ge ährten umwendend, der hinter einem Baume hervortrat. (Nachdruck verboten.) Wiener Brief. Original-Feuilleton. Wien, 6. Mai 1885. U. V. Weil es draußen in der Welt ziemlich stürmisch hergeht, befleißigen wir uns auch in Wien — ein kleines Stückchen Weltge schichte zu machen. Herat und Afghanistan heißen die zwei Worte, welche heute Alles gefangen halten; Alles interessirt sich nur dafür, ob England und Rußland Krieg beginnen werden oder nicht! Das mag nun außerhalb Wiens alle Gemülher in Aufregung erhalten, wir begnügen uns mit kleineren Dingen, wir schaffen uns die in teressanten Neuigkeiten selbst und unseren kleinen Spezial-Krieg be sitzen wir auch, den nämlich, welchen die mandatloscn Abgeordneten mit großer Erbitterung mit ihren Wählern führen. Alle Tage laufen große Schlachtenbulletins ein und viele Wiener fragen sich schon heute: Werde ich Diesen oder Jenen im Parlamente Wiedersehen und mit den dröhnendsten Phrasen die nichtigsten Dinge deklamiren hören? Ein kleiner Krieg ist es auch, der beinahe an unseren sämmt- lichen Theatern geführt wird. Im Hofoperntheater wurde Frau Ehn gewaltsam pensionirt, weil sie für jährliche 12000 Gulden nicht mehr als vier bis fünfmal sang. Der schöne Herr Sommer, dieser NarcissuS unseres Hofoperntheaters, hat seine Entlassung erhalten, weil er mit dem Direktor Jahn etwas antikniggerisch verehrte und zwar deshalb, weil die Herren Reichmann und Winkelmann einen Orden erhielten, er aber nicht. Gleichsam, als ob Herr Jahn die Orden so vertheilen könnte wie die Rollen. Wie soll das nun werden?! Am Theater an der Wien ist die alte Krankheit akut, dort wollen sich die Verhältnisse absolut nicht bessern, Direktor Totarczy vom Karltheater hat bei der jüngsten italienischen Staggione ein Heidengeld verloren und schaut sich allen Ernstes nach Jemandem um, der ihm von der Last der Direktion befreien würde und den Musentempel des Herrn Direktor Costa in „Das Fräulein vom Schlosse. Die Schneise mündet nicht weit von der Burg in den Fahrweg. Wenn Sie ihr folgen, sehen Sie nachher daS Dorf unter sich, als ob Sie den Kirchthurm an der Spitze ergreifen könnten. Dann ein Stück Weges recht- und Sie kommen zur grünen Tanne; adjes!" Der junge Mann schlug die angedeutete Richtung ein. Als er sich noch einmal nach seinem Führer umsah, war dieser schon ver schwunden. „ES war doch wohl ein Laudstreichcr." murmelte er, „weshalb hätte er sich sonst versteckt?" Er ging weiter, bis er plötzlich durch den Hellen Gesang einer Mädchenstimme seinem Nachdenken entrissen wurde. Noch konnte er die durch Gebüsch verborgene Sängerin nicht sehen. Welch' eine Frische lag in dieser Stimme. Es war. als ob ein Frühlingsvogel, erfreut von dem Anblick der verjüngten Welt, ein ungelehrter und doch so liebliche- Lied sänge, so rein, ungeziert, unverfälscht drangen die Töne hinaus. Der Fremde schritt vorwärts und sah nun die Sängerin. Sie band Sträußchen aus Maiblumen und Vergißmeinnicht, deren sie in großer Menge gepflückt hatte. Ein Tragkorb stand neben ihr, um die gebundenen aufzunehmen, die offenbar zum Verkauf in der Stadt bestimmt waren. ' : s Ihre Gestalt paßte zu ihrem Gesänge. Sie war höchstens acht zehn Jahre alt und ihr Wachs untadelhaft. Ihr junge- Gesicht strahlte von der Lebhaftigkeit und Lust, mit der sie ihre Arbeit ver richtete, und ihre Hellen blauen Augen blühten wie ihre schönsten Vergißmeinnicht. Ein lose umgeknüpstes buntes Tuch war ein wenig hintenüber gefallen und ließ das dunkelblonde Haar frei. Der junge Mann fragte nach dem Dorse. Sie sah ihn ver- wundert an: „Da liegt'- ja, dicht vor Ihnen!" Er stutzte. Freilich, da lag eS dicht vor ihm das Dorf, er hatte es nicht wahrgenommen, weil er blos nach dem Mädchen sah. Sie blickte ihn mit offener Stirn und muntern Augen lachend an. „Aber mein Gott, weshalb lachen Sie denn?" „Sie schauen unser Dorf so verdutzt und so verwundert an!" Er fragte nach ihrem Namen. „Suse Schindler," sagte sie, „und Sie?" „Hugo Günther!" „Weiter nichts?" „Rein, es ist Vor- und Zuname, weiter nichts. Was soll es denn noch sein?" „Ich meinte nur so," begütigte sie, indem ihr die Röche ein wenig in die Stirn stieg und ihre Augen ihn etwas schüchtern an blickten. „Alle die Herren haben doch noch einen Titel, wie Herr Doktor oder sonst so was." „Das heißt gut getroffen, den Titel führe ich allerdings auch," ägte er lächelnd, suchte einige Blumensträußchen für sich aus, die er hr abkaufte, und schied mit einem freundlichen: „Guten Tag!" den je ihm ebenso nachrief. In der fröhlichsten Stimmung schritt er weiter, der grünen Tanne, seiner Herberge, zu. Es soll Glück bedeuten, wenn Jemandem beim Einzüge in einen neuen Ort ein hübsches Mädchen begegnet, und für ihn hatte sich diese gute Vorbedeutung sogar doppelt ge zeigt. Wie ein echter Wanderbursche war er ausgezogen, der nicht- darnach fragt, ob der Weg sich krümme und von der großen Heer straße weit abführe. Es summte und blühte und grünte in ihm, wie draußen die Welt um ihn. Was wollte er denn eigentlich? Freude? Ja, da flatterte sie hemm wie ein bunter Schmetterling, von Blume zu Blume, über Wiesen, Gebüsch und Bäume hin. Sie fangen muß Niemand wollen, aber, wer eS versteht, die Seele mit ihr fliegen lassen. Und weiter summte und blühte es in ihm: Die Sonne scheint, das Wasser fließt, Feld, Wald und Wiese sind grün, der Himmel ist blau, und wie kommt es, daß alle diese einfachen Dinge dennoch so tief auf den Menschen einwirken, und wie kommt es, daß diesem die Natur nicht veraltet, daß er ihrer tausend Mal erblickten Reize nicht müde wird? Drüben, vor dem goldgrünen Gmude der Baumwipfel, flog glänzend im Sonnenschein eine weiße Taube. Und es kam ihm in Erinnerung die schöne Reiterin auf milchweißem Rosse, die ihm auch erschienen war wie eine fliegende weiße Taube. II. Hoch über das im Thale eingebettete Dorf erhob sich auf dem Berge das Schloß, welches wir nun ein wenig näher betrachten wollen. Es war ein altes Gebäude, dessen ältester Theil, ein grauer Thurm, an welchem der Epheu emporkletterte, wohl noch aus der Zeit der Ottone herrühren mochte. Um ihn hemm Ware« die Wohngebäude u der Art angebaut, daß er bis zu mehreren Stockwerken hinauf als Treppenthurm für die Gemächer diente, während seine höchste Höhe noch immer den besten Lugaus in die weite Umgegend abgab, jetzt um der friedlichen Aussicht willen, einst, um Feinde oder Raub zu erspähen. Doch noch einem anderen, seltneren Zweck diente das hohe Thurm zimmer; es enthielt eine Glocke, welche immer nur beim Tode eine- der Josefstadt hat man sogar ganz einfach zugesperrt. Wenn das nicht höchst idyllische Theaterverhältnisse sind, dann giebt es über haupt keine solchen. Während aber die Herren Direktoren Heulen und Jähneklapperu haben, befinden sich unterschiedliche Mitglieder der hiesigen Theater ganz wohl. Die Zeiten haben eben aufgehört, da zwischen den Direktoren und den Schauspielern ein Verhältniß wie zwischen Master und Nigger herrschte. Heute giebt es Direktoren, die arme Teufel sind, während die Mitglieder ihrer Theater keineswegs unter die armen Leute gehören. Es verlautet, daß der Komiker Blasel das Theater in der Josefstadt übernehmen soll. Er verstand zu paren und wußte sich eben seine paarmal hunderttausend Gulden bei Seite zu schaffen. Zu den reicheren Schauspielern gehören auch Girardi, mit etwa hunderttausend Gulden, Knaak, der wenigstens seine halbe Million beisammen hat und vor Allem Schweighofer, welcher, trotzdem er ein ganz ausgezeichneter Künstler ist, einen so praktischen Blick für das Geschäftliche besitzt, daß er heute bereits unter die Millionäre Wiens gezählt werden kann, g Ein Millionär Wiens, aber ein vollkommen echter und gediegener, wurde dieser Tage zu Grabe getragen: Der Fürst Friedrich Liechten- lein. Die Fürsten Liechtenstein sind wohl die reichsten Aristokraten Oesterreichs; aber nicht sein Reichthum allein war es, welcher den Fürsten bekannt machte. Er war einer der schneidigsten Reitergenerale und man erzählt von ihm so manches Bravourstückchen, das er aus geführt. Als jungem Leutnant wurden ihm in einer Schlacht zwei Pferde erschossen, von diesen war das eine sein Lieblingspferd, so daß ihm die Thränen in die Augen kamen, als er es von einer kugel durchbohrt zur Erde sinken sah. Er hatte den feindlichen Soldaten wohl gesehen, der das Pferd erschossen hatte und aus diesen türmte er unaufhaltsam los, als er wieder im Sattel saß. Mitten u das feindliche Heer stürmte er hinein und holte sich seinen Mann jeraus, indem er ihn an der Kravatte erfaßte und mit sich schleppte. ! Der Bursche bekam seine Freiheit niemals wieder. Er wurde Pferde wärter bei dem Fürsten und wurde so gut behandelt, daß er für seinen Herrn freudig in den Tod gegangen wäre und ihn auch nicht ver ließ, bis er vor zwölf Jahren, ein Greis, daS Zeitliche segnete. Vor drei Tagen wurde hier ein Mädchen zu Grabe getragen, dessen Schicksal als Illustration dazu dienen könnte, daß eS doch möglich sei, am gebrochenen Herzen zu sterben. Sie war vor einem halben Jahre die Braut eines jungen Hauptmannes, bis da ein ent fernter Verwandter im Geschäfte ihres Vaters als Buchhalter ausge nommen wurde. Das schöne gebildete Mädchen verliebt sich leiden schaftlich in den Buchhalter, so daß ihr Vater, ihren Bitten nach- gebeud, ihre bevorstehende Vermählung mit dem Hauptmann aufhebe« mußte. Der Vater — ein in Wien sehr bekannter Millionär — stand völlig unter der Botmäßigkeit seiner Tochter und er willigte daher auch ein, daß sie die Gattin des armen Verwandten werde. Damit er aber auch den guten Ton der feinen Gesellschaft kennen lerne, wurde er vor vier Monaten, ausgestattet mit einem großen Kreditbrief, nach Paris gesendet. Selbstverständlich korrespondirte das Liebespaar alltäglich, bis vor drei Wochen aus Paris keine Briese mehr ein trafen. Das Mädchen wurde tief unruhig, es wurde nach Paris telegraphirt und als auch jetzt keine Antwort eintraf, reisten Vater und Tochter nach Paris. Der junge Mann wurde dort nicht mehr vorgefunden, doch erfuhren sie in dem Hotel, wo er gewohnt, daß er nach Nizza gereist sei und zwar in Gesellschaft einer Dame. Mit dem nächsten Zuge fuhrin Beide nach Nizza, und dort erfuhren sie von einem Wiener Bekannten, daß sich der Verlobte deS Mädchens ^ vor acht Tagen mit einer Schauspielerin vom Variets verheirathet habe. DaS Mädchen hat seither kein Wort gesprochen. Sie reiste ^ sofort mit ihrem Vater nach Wien zurück, wurde aber noch unterwegs schwer krank. Sonntags ist sie, ohne noch ein Wort gesprochen zu haben, verschieden. — Ob wohl eine Krankheit existirt, welche ma« ! ein „gebrochenes Herz" heißt?
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