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Augen der Damen, nämlich um einen verloren gegangenen Mantelsack, welcher nebst einigen Büchern meine sammNichen Papiere und Briefe enthielt. Ich eilte auf das Dampfboot zurück und stellte den Schiffsjungen zur Rede. «Sie meinen einen kleinen, braunlederncn Mantelsack?» fragte der Bengel mit empören der Gleichgültigkeit. «Ja, ganz recht!» erwiderte ich. «O! Sir, der andere Gentleman hat ihn mitgenommen.» «Der andere Gentleman! Und wer zum Henker ist der andere Gentleman?» < Herr John Brown, der in ihrem Bett geschlafen hat. Er ging schon gestern Abends, als wir uns vor Anker legten, ans Land, und ich sah den Proviantmeister den Mantelsack mit dem übrigen Gepäck aufs Verdeck nehmen.» Dieser John Brown schien wirklich nur zu meiner Qual zu cristiren. Während der Ueber- fahrt hatte er mir schon einen so üblen Streich gespielt, und kaum betrat ich den schottischen Boden, so setzte er mich in die größte Verle genheit, denn in dem verloren gegangenen Mantelsacke befand sich mein Brief an den alten Smith, nebst mehreren andern Empfehlungs schreiben. Ich konnte mir übrigens nicht den ken, daß ein »Gentleman» widerrechtlicher Weise mein Eigenthum behalten würde, und ich er wartete mit Zuversicht, daß ich den Mantclsack am folgenden Tage im Dampfschiff-Bureau würde in Empfang nehmen können. Ich be gab mich also in den Gasthof zur «Krone», wo ich die durch das dreitägige Fasten in mei nem Magen entstandene fühlbare Lücke aus füllte, mich in einen anständigen Anzug warf, und dann in Begleitung eines Lohnbcdienten meinen muthmaßlichen Schwiegervater aufsuchte. Leider wußte ich von Letzterem nicht mehr, als der Mann im Monde, da ich mich ganz auf die Adresse meines Briefes verlassen hatte. In der endlosen Lifte von Smiths fand ich mehr als ein Dutzend David Smiths. Einer der Letzteren wohnte in Castle-Street. «Das ist die rechte Gasse», sagte ich, den Namen wie derholend; denn ich erinnerte mich jetzt genau, den Namen dieser Straße als die Wohnung meines präsumtiven Schwiegervaters gehört zu haben. Ich begab mich also nach Castle-Street, fand aber zu meinem Leidwesen das Haus ver schlossen. An einem Fensterladen befand sich ein Zettel, wodurch Jedermann ersucht wurde, Briefe und Packele bei dem Advocaten M'Gru- gar, Königsstraße Nr. 103, abzugeben. Der Letztere, welchen ich sogleich aufsuchte, war ebenfalls von Edinburg abwesend, und ich er hielt in seinem Bureau die tröstliche Nachricht, daß Smith sich auf jeden Fall entweder in Fiseshire oder in Rorburghshire oder in Ayr shire aufhalte, und daß er dorthin adressirle Briefe gewiß erhalten würde. Mit dieser Auskunft war mir sehr wenig gedient. Die Schreiber deS Advocaten wuß ten von Smiths Aufenthalte nicht mehr, als von der Jurisprudenz. Ich beschloß also, die Rückkehr des Advocaten, welche am Ende der Woche stattsinben sollte, geduldig abzuwartcn, und diese Zeit mit der Besichtigung der Merk würdigkeiten und Umgebungen Edinburgs aus- zusüllen. .3. In einem eleganten Salon zu Edinburg saß an demselben Abende ein alter Gentleman mit seiner Tochter. Die Letztere saß am Piano, und sang mit klarer voller Stimme eine schot tische Romanze, während der Vater im behag lichen Armstuhle lag, und mit großem Wohl gefallen die wildmelancholische Melodie anhörte. Da ging die Thür auf, und dem Bedienten, welcher Herrn Brown meldete, folgte der Ge nannte, sich höflich vor dem Ofenschirme ver neigend, den er im Zwielicht für den Mann, welchem sein Besuch galt, gehalten hatte. Der alte Gentleman eilte auf ihn zu. «Es freut mich sehr, Sie bei mir zu sehen», sagte er, ihn herzlich bei der Hand ergreifend. «Liebe Julia», fuhr er, zu seiner Tochter gewendet, fort, «dies ist Herr Brown, von welchem ich Dir bereits so oft gesprochen. Dies ist meine Tochter Julia. Seien Sie nochmals herzlich willkommen.» Brown verneigte sich noch einige Male, und murmelte die herkömmliche Quan tität von nichtssagenden und fast unartikulirtcn Phrasen; Miß Julia verneigte sich ebenfalls vor dem Gaste, und erröthete tiefer, als in dem Dämmerlichte bemerkt werden konnte. «Wann sind Sie angekommen?» fuhr der alte Gentleman fort. «Wir haben Sie schon seit einigen Tagen erwartet.» Diese Aeußerung war dem Besucher im hohen Grade auffallend; aber er äußerte seine Ver wunderung nicht; er erwiderte nur: Die Ueber- fahrt war sehr langweilig. Wir verließen Lon don am Mittwoch, und kamen erst heute früh hier an. Vier Tage stürmisches Wetter. Ich hoffte schon am Freitage hier cinzulreffen, und diese Verzögerung ist mir sehr unangenehm, da mein Aufenthalt hier verhältnißmäßig kurz sein wird. Ich muß schon am Sonnabend wieder abreisen.» «O reden Sie mir nicht vom Abreisen! Wir lassen Sie in dem ersten Monate nicht wieder fort. Nicht wahr, Julia?» «O Sie sind zu gütig!» erwiderte Brown, der diese außerordentliche Zuvorkommenheit gar nicht begreifen konnte. «Ich habe auch ein Schreiben an Sie abzugeben», fuhr er fort, indem er einen Brief hervorzvg und dem alten Herrn überreichte.