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Das verschwundene Kuch. Von H. v. Linz. Der alte Kanzleirat und Archivar Hufenstein hatte viel Enttäuschungen und Bitternisse durchkämpfen müssen, ehe er sich zu dem jetzigen Vertrauens- und Ehrenposten empor gearbeitet hatte. — Böse Zungen behaupteten sogar hinter seinem Rücken, das; sein unerbittlicher Ehrgeiz tmbei manchen Kollegen, der größere Anwartschaft auf diese Stellung als er gehabt, niedcrgeworfen habe . . . Nun, über die Veranlagung seines Charakters und über die Beweglichkeit seines Geistes konnten verschiedene Auffassungen herrschen. Die Verdienste seiner Pflichttreue mußten indes auch seine Feinde ungeschmälert bestehen lassen. Darum traf ihn das jüngste Geschehnis ja auch mit solcher Härte. Das Archiv der Regierung war reich an kostbaren Wer ken und Nachschlagebüchern. Jedes einzelne war genau in einem Tagebuch verzeichnet, aus dem zuverlässig hervorging, in wessen Besitz es sich befand. Nun verlangte eines Tages der Geheime Ober-Rcgierungsrat eins der ältesten und wichtigsten Werke und . . . verlangte es umsonst. Der Ausweis meldete zwar den ersten Tag der letzten Woche als Ablieferungstermin und seitdem keine erneute Ausgabe. Trotzdem blieb es verschwunden. Des alten Kanzleirats Unruhe und Angst wuchs von Tag zu Tag. Seine Lippen waren beständig ein wenig geöffnet, als wollten sie irgend , erwas hcrvorstoßen, das darauf brannte. Schließlich bat er den Regiernngsrat um Gewährung einer Unterredung. Er (sehr verliebt): „Anna, ich kann mir nicht satt sehen an Dir!" Sie: „Ja, dann laß doch etwas zu essen kommen, ich habe auch Hunger!" Der wohlwollende Vorgesetzte schätzte die überaus ge naue Arbeit des alten Beamten und redete ihn freundlich an: „Nun, Herr Kanzleirat, was bringen Sie? Hat sich etwa das verschwundene Buch aufgefunden??!" Die welken Lippen begannen nervös zu zucken. „Leider nicht, Herr Geheimrat ... ich komme —" Er stockte. Es Ivar doch schwer, auf bloße Vermutun gen hin einen Verdacht auszusprechen. „Seien Sie ganz offen," ermutigte der Geheimrat. Da begann der Alte endlich: „Herr Geheimrat halten große Stücke auf meinen jetzigen Assistenten Riehlmann, der mir ja auch, entgegen meiner gehorsamen Bitte — zuge- tcilt wurde." Die hohe Stirn des Vorgesetzten legte sich in Falten. „Allerdings und ich begreife nicht, was Sie gegen den strebsamen jungen Mvnn haben." „Ich traue ihm nicht recht, Herr Geheimrat, ihm ist alles zu leicht im Leben geworden." „Bewahren Sie sich im Dienst vor persönlichen Ab- wägungen," sagte der Geheimrat streng. Das traf den Alten hart. „Herr Geheimrat wissen . . ." „Nur das, was ich zufällig gesehen. Unsere Stadt ist eben klein. Herr Riehlmann begehrt Ihre Tochter, nicht wahr?" Die Stirn des Alten färbte sich rot. „Jawohl . . . weil ich ihr Vater bin. Es ist dann alles viel bequemer für ihn. Aber ich bleibe unerbittlich. Ich habe ihn beobachtet, Herr Geheimrat, und ich glaube..." „Ueberlegen Sie es sich noch einmal, ehe Sie es aus sprechen, Herr Kanzlcirat." „Herr Geheimrat, ich kann nicht länger schweigen. Riehlmann hat das verschwundene Buch registriert. Er muß über seinen Verbleib Bescheid wissen und . . . weiß nichts." Es war allbekannt, daß das Erinnerungsvermögen des jetzt Sechsundachtzigjährigen zuweilen versagte. Man hatte anfangs gemeint, daß der alte Herr selbst der Verwahrende gewesen sei. Jetzt glaubte niemand mehr daran. „Schön," sagte der Geheimrat langsam, „und was wollen Sie nun eigentlich damit sagen?" „Daß, wenn einer das Buch hat verschwinden lassen, er der Täter gewesen ist . . . nur er . . ." „Haben Sie irgend einen Beweis dafür?" „Nur den, welchen der Diener auch bereits Herrn Ge heimrat mitgeteilt hat." „Und obschon ich davon keine Notiz nahm und Sie mir Neues nicht zu melden haben, sind Sie gekommen?" „Herr Geheimrat, ich mußte es tun. Sonst blieb es auf mir sitzen. Und ich ich . . ." Seine Stimme brach. Der Geheimrat fühlte plötzlich mit dem Verzweifelten Mitleid. „Wer käme Wohl auf solchen Gedanken, Hufenstein? In wenigen Wochen sind Sie fünfzig Jahre im Amt. Ihre Vergangenheit als Mensch und Beamter ist gleich untadelig. Sie sind aufgeregt und überarbeitet, Sie sollten einen län geren Erholungsurlaub nehmen . . ." Die zufammengesunkene Gestalt richtete sich empor. „Untertänigen Dank, Herr Geheimrat. Aber ehe das mit dem Buch nicht heraus ist, darf ich meinen Posten auch nicht für Tage verlassen." „Wie Sie wollen, Herr Kanzleirat. Ich sagte es lediglich in Ihrem Interesse." Der alte Mann war entlassen. Einen Augen blick saß der Ober-Regierungsrat in tiefen Gedanken da, dann streckte er die Hand nach der Klingel aus und ließ den Assistenten Riehlmann rufen. Das junge, kluge Gesicht des Eintretenden zeigte weder Angst noch Bestürzung. Die Hellen Augen richteten ihre Blicke erwartungsvoll auf den Vorgesetzten. „Herr Assistent, ich möchte nochmals mit Ihnen über das ominöse Buch sprechen." Jetzt malte sich doch eine leichte Verlegenheit auf dem offenen Gesicht aus. „Nicht wahr, Sie registrierten es und verwahrten es danach an dem alten Platze."