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^l- 142 schenkte?" fragte Mending erstaunt, als Anne immer von neuem für die Geschwister aussuchte und für sich das Geringste behielt. Das Kind lachte hellauf. „Das tut man nimmer, Onkel Kurt", sagte es darauf ganz ernsthaft. „Denn, hat man auch noch soviel Gutes und jeden Tag wieder was Gutes und kann gar nie einem Menschen davon abgeben, so freut's einen nicht", sagt der Vater. „So freut's einen nicht?" „Nein, gar nicht", war die bestimmte Antwort. „Lieber so viel trocken Brot haben, daß man selber satt hat und noch abgeben kann, als sein Lebtag was Leckeres immer nur für sich allein haben, sagt Vater", berichtete das kleine Pastoren töchterchen, ebenfalls wieder in einem so bestimmten Ton, als wäre es völlig unmöglich, anderer Ansicht sein zu können wie der Vater. Der Regierungsrat antwortete nicht, sondern betrachtete scheinbar interessiert eine kleine Schokoladentafel mit einem bunten, verblichenen Bildchen darauf. Annes kluge Augen beobachteten ihn genau. Plötzlich wandte sie sich wieder eifrig den er haltenen Gaben zu, aber mals wählend und teilend. Diesmal jedoch ohne den Onkel zu Rate zu ziehen. Nach wenigen Augenblicken schob sie dein erstaunten Re gierungsrat eine rosa Schach tel, ejn Päckchen Schokola- dentüfelchen und einen Pfef ferkuchen hin. „Hier, Onkel," bat sie lieb lich, „das nimmst dp deinen lieben Kindern mit." „Meinen Kindern?" „Ja, deinen kleinen Mäd chen und deinen Jungens," nickte das Kind. „Ich habe keine Kinder," erwiderte er schnell, dis Sa chen zurückschiebend, „O," bedauerte Anne, „armer Onkel, keine Kinder." Nach kurzem Besinne,, fügte sie hinzu: „Nun, dann bringst du deiner lieben Mama die schönen Sachen mit." Mending schüttelte den Kopf „Ich habe auch keine Mama", bekannte er fast verlegen. „Armer Onkel," sagte die weiche Kinderstimme noch mals, „auch keine Mama? Bist du denn ganz allein?" „Ganz allein." In Annes Augen leuch tete es verständnisvoll auf. „Ja siehst du, Onkel, daher kommt's, daß du nicht weißt, was man für eine Freud' hat, alles zu teilen, was man geschenkt bekommt. O, o, armer Onkel, nun mußt du all das Gute immer nur für dich behalten." Liebkosend strich sie über seine Hand. „Deswegen schaust du auch nicht froh aus wie der Vater! Und du bist doch so gut, o, so sehr gut. Warum hat dir denn bloß der liebe Gott keine Mama und keine kleinen Kinder gegeben?" „Der liebe Gott?" war die erstaunte Gegenfrage. „Ja, weißt du nicht, daß der liebe Gott das tut? Er gibt doch alles! Man muß ihn nur recht sehr bitten, sagt Vater, und wenn's nichts Böses ist, kriegt man's schon." Um Mendings Mund glitt ein leises Lächeln über den Eifer, mit welchem Anne diese Frage behandelte. War es doch, als ob er ihren Vater hörte. „Ja, siehst du, Onkel," fuhr sie fort, „recht sehr bitten mußt du, jeden Morgen und jeden Abend — dann gibt dir der liebe Gott schon eine Mama, damit du nicht so allein sein brauchst." „Ist denn eine Mama etwas so sehr Gutes?" „O! O!" machte Anne, „wie gut die ist, kannst du dir nicht denken Unsere Mutter gibt ims alles. Und vom Festbraten nimmt sie sich das kleinste Stückchen, damit der Vater ordentlich satt haben soll, die Großmutte , und wir Kinder. Ich seh's ganz genau, aber sagen darf ich nichts, denn sonst merkt's der Vater, und der Vater soll's nicht merken, weil er dann seinen Braten der Mutter geben würde, und die Mutter sagt doch immer: ,Dem Vater tut's am nötigsten'." „Du hilfst der Mutter gewiß fleißig, weil der Vater dich Haus mütterchen nennt?" forschte Mending. „Ach, Onkel," erwiderte Anne betrübt, „oft bin ich recht garstig und geb' nicht Obacht bei der Milchsuppe und laß sie überlaufen oder anbrennen. Und gestern erst hab' ich Mütterchens beste, neue Schüssel entzwei geworfen — weißt du, die mit dem blauen Rande von Großmutters Aussteuer. Aber Mutter ist so gut, sie hat mir bloß einen einzigen Klaps auf die Hand gegeben." Mending furchte die Stirne. Er zürnte Frau Anna, daß sie diese Strafe erteilt. Fast unbewußt strich er über die kleine Kinder hand hin, welche den Klaps erhalten. „Nun," rief der zurückgekehrte Pastor Otto, „ihr habt wohl Freundschaft geschlossen?" Jubelnd lief Anne ihm entgegen, um von den schönen Ge schenken zu berichten. Im Umsehen verstrich die letzte Stunde des Beisammenseins. Der Zug, der den Regie rungsrat nach Berlin zurück führen sollte, wurde schon von der letzten Station ge meldet. Anne flüsterte noch eifrig mit dem Vater. Auf sein bejahendes Nicken entfernte sie schnell die Zeitung von ihrem Spankörbchen und zog zwei Sträuße hervor, denen man es ansah, daß eine Kinderhand sie zusammen gefügt. Sie bestanden aus kleinen Tannenzweigen, ei nigen Weidenkätzchen und Schneeglöckchen. Als erster Frühlingsgruß aus dem Melliner Pfarrgarten waren sie für den Großvater be stimmt gewesen. Jetzt nahm Änne jedoch das eine Sträuß chen, reichte es dem Regie rungsrat mit stolzem Lächeln und sagte: „Hier, lieber Onkel, weil du so sehr gut bist, schenke ich dir eins von meinen schö nen Sträußen " „Danke, liebe, tleineÄnne", erwiderte dieser das Ge schenk mit etwas erschrocke nen Blicken messend. „Der Pastor, dies bemer kend, flüsterte ihm zu: „Dil kannst es ja nachher fortwer fen, Kurt — nur nicht gleich Der Anne würde es schmerz- lich sein — sie will dir ihre (Mt Text.) Liebe beweisen und hat nichts Besseres zu geben." Bevor Mending antworten konnte, fuhr der Zug ein. Ein letzter Händedruck der Herren, ein Kuß von Änne, und der Re gierungsrat befand sich allein im Coup«. Er betrachtete Ännes Gabe nochmals und schlug sie sorgfältig in seine Zeitung ein. . Bequem in eine Ecke geschmiegt, blickte er auf die Felder, Wälder und Wiesen, die schnell an ihm vorüberglitten. Dort lag ein Dörfchen, dort die Kirche — ein efeuumranktes, weiß getünchtes Haus daneben. Vielleicht das Pfarrhaus, wo auch so zufriedene Menschen wohnen mochten, wie er soeben verlassen. Eine kleine fürsorgliche Änne gab es dort vielleicht ebenfalls. — Mending wurde es warm ums Herz, als er an das Kind dachte. Er meinte das Anschmiegen des weichen Gesichtchens wieder zu verspüren und den Kuß von den warmen Kinderlippen. — Eine gute Stunde später hatte der Regierungsrat seine Woh nung erreicht, wo er die Tannenzweige in einer kleinen Bronzevase auf seinen Tisch stellte. Dann ging er zum Mittagessen aus, traf Bekannte und kehrte erst in der Dämmerung zurück. Franz hatte das Zimmer schon für den Abend hergerichtet. Di" Stores waren heruntergelassen, das Feuer knisterte im Kamin, und Jakob flog freudig kreischend seinem Herrn auf die Schulter, rieb den Kops au seiner Wange und schnarrte einige eingelernte Der Katzenbrunnen in Hildesheim.