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Erscheint jeden Wochmtag Abend- S Uyr für den 1 I andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mark 25 Pf., I » zweimonatlich 1 M. 50 Pf. u. einmonatl. 75 Pf. f Wetler-Progaose für Dienstag, dm 17. Mai: Zunehmende Bewölkung, Temperatur kälter, zunächst trocken, später Eintritt von Niederschlägen in Aussicht. Amtsblatt für die königlichen und städtischen Behörden zu Freiberg uud Braud. Verantwortlicher Redakteur Julius Brauu in Freiberg. Inserate werden bis Vormittags 11 Uhr angmom- - , M men und beträgt der Preis für die gehaltene Zeile 1 g oder deren Raum 15 Pfennige. ü MMWyeiaer und TagMM. 33. Jahrgang. Dienstag, den 17. Mai. Lriefe vom Reichstage, n. Ll Berlin, 15. Mai. Es geschehen immer noch Zeichen und Wunder! Vor einigen Monaten hatte es Niemand für möglich gehalten, daß dem gegenwärtigen Reichstage, der so recht eigentlich in den letzten Zügen liegt, zugemuthet werden würde, das Unfallversicherungsgcsctz durchzuberathen; noch weniger hat aber Jemand an die Möglichkeit gedacht, daß das Gesetz in dieser Session zu Stande kommen würde. Selbst Freunde der Wirthschaftspolitik des Reichskanzlers waren der Ansicht, daß die hochwichtige Materie noch lange nicht genügend vorbereitet sei, daß es sich vielmehr in der jetzigen Rcichstagsscssion im Wesentlichen nur darum handeln könne, durch eingehende kommissarische Berathung größere Klarheit in die Sache zu bringen und so dem nächsten Reichstage das Zustandebringen des schwierigen Werkes zu erleichtern. Ein etwas abergläubisches Gcmüth konnte auch aus dem ominösen Namen „Unfallversicherungsgesctz" und der Thatsachc, daß dasselbe der dreizehnten Kom mission zur Vorberathung überwiesen worden ist, den Schluß ziehen, daß der Vorlage kein günstiges Schicksal warte. Statt dessen hört man jetzt, daß der Reichskanzler bereit sei, auf der von der Kommission beschlossenen Grund lage das Gesetz zu akzeptircn, also mit Staatsversichcrungs- anstalten und ohne Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln, auf welche letztere er doch bei der ersten Berathung so großes Gewicht legte, daß ohne dieselben, wie er versicherte, er nicht den Muth haben würde, den Entwurf weiter zu verfolgen und sür die Folgen des Gesetzes der Industrie gegenüber einzustehcn. Sollten die in der Kommission geführten Debatten seinen Kommissar, den Gehcimrath Lohmann, und den Kanzler selbst überzeugt haben, daß die Industrie die neue Last sehr gut tragen könne, oder liegt die Sache so, daß man die Streichung des Staats- zuschusscs nur als ein Interimistikum, als ein Experiment betrachtet und sich vorbchält, nach einiger Zeit durch eine Novelle doch den Zuschuß aus öffentlichen Mitteln gesetzlich zu sanklioniren? Wer kann das sagen! Soviel scheint aber gewiß, daß Fürst Bismarck, indem er das Gesetz so annimmt, wie es ihm vom Zentrum angebotcn wird, damit einen Hauptstrcich zu führen gedenkt gegen den Liberalis mus, der bei den Wahlen vor dem Volke angeklagt werden soll, daß er sich nicht dazu habe bereit finden lassen, zur Verbesserung des Looses der arbeitenden Klassen, zur Lösung der sozialen Frage etwas zu thun. Das Zentrum aber kann sich seinen Wählern gegenüber mit Recht rühmen, daß es nicht nur wesentliche Erfolge erzielt habe in der Durchführung seines wirthschaftlichen Pro gramms, sondern daß es ihm auch gelungen sei, gegen den Reichskanzler seine Ansichten durchzusetzen. Unzweifelhaft wird aus dieser unleugbaren Thatsache feiten der katho lischen Wähler der Schluß gezogen werden, daß auch demnächst, wenn es sich um die Revision der preußischen Maigesetze handelt, der mächtige Kanzler werde klein bei geben müssen, wenn nur die Zentrumspartei in ihrem bis herigen Bestände aus den Reichstagswahlen wieder her vorgeht. Während aber das Zentrum über seine Erfolge trium- phirt, scheint das Unfallversicherungsgesetz für die deutsche Reichspartei eine Klippe werden zu sollen, an der sie ebenso zerschellt, wie an der Zolltarifvorlage die ihr links zunächst stehende Partei, die früher so große national- liberale Fraktion sich zersplittert hat. Es ist eben die nothwendige Folge der scharfen Gegensätze, die heute in dem wichtigsten Zweige der Politik, der Wirthschaftspolitik, sich geltend machen, daß die Mittelparteicn zwischen den extremen zerrieben werden. Bei so prinzipiell wichtigen Fragen kann es sich nur um ein einfaches Ja oder Nein handeln, jede Vermittelungs- und Kompromißpolitik ist ausgeschlossen. Der Zerfall der Reichspartei wird sich um so leichter vollziehen, als die Fraktion, bei Lichte be sehen, doch aus ziemlich heterogenen Elementen zusammen gesetzt ist. Der preußischen freikonservativcn Partei, deren Kern eine Anzahl schlesischer Großgrundbesitzer bildet und die man, ohne ihr Unrecht zu thun, als zentralistisch be zeichnen kann, haben sich im Reichstage mehrere bairische, sächsische und württembergischc Abgeordnete angeschlossen, die in ihrer Heimath als konservativ gelten und jedenfalls zentralistischen und unitaristischen Ideen gänzlich abhold sind. Infolge dessen ist gerade in solchen Fragen, wo die Gegensätze des Unitarismus und des Partikularismus aufeinander platzen, die Fraktion gehindert, kräftig und entschieden Stellung zu nehmen. Es zeigte sich das namentlich vor einigen Jahren, als noch das Reichseisen- bahnprojckt auf der Tagesordnung stand. Die preußischen Frcikonscrvativen waren die entschiedensten Freunde, die bairischen, sächsischen und württembcrgischen Mitglieder aber ebenso entschiedene Gegner dieses Projekts. Zum Glück wurde damals das Reichseisenbahnprojekt nicht weiter verfolgt, sonst wäre vielleicht schon an dieser Frage die Partei zu Grunde gegangen. Jetzt aber heißt es unwiderruflich: die RIioäu8, ine snlt»! Bei der Frage der Rcichsversicherungsanstalt muß sich zeigen, ob die Äcichs- partei eine einheitliche, geschlossene Partei ist oder nicht, und wenn, wie nur allzu wahrscheinlich ist, das Letztere sich ergiebt, so ist auch ihre Existenzberechtigung in Frage gestellt. Zur Zeit liegt die Sache so, daß von den der Rcichspartci angehörigen Kommissions-Mitgliedern der Abg. Stumm die Staatsversichcrungsanstalten als eine Verbesserung des ursprünglichen Entwurfs anerkennt, der Abg. Graf von Frankenberg aber eine Verschlechterung des Entwurfs darin sicht, der er nur »othgcdrungcn bci- stimmt, um in dieser Session etwas Positives zu Stande zu bringen, der Abg. Melbeck endlich so großen Werth auf die Reichsversicherungsanstalt legt, daß er bereit ist, das Gesetz für die gegenwärtige Session an dieser Differenz scheitern zu lassen, (jnot c-cMa, tot son8U8! Soviele Mitglieder, soviele verschiedene Standpunkte! Im Plenum werden die nichtpreußischcn Mitglieder der Partei jeden falls den Standpunkt des Herrn Stumm mit Freuden akzeptircn, der größte Theil der preußischen Frcikonser- vativcn wird sich vcrmuthlich zu der Ansicht des Grafen Frankenberg bekennen; wie viele Mitglieder der Fahne des Herrn Melbeck folgen werden, steht dahin, cs ist aber nicht zu erwarten, daß cs soviclc sein werden, um die Rcichsversicherungsanstalt — für welche in der eventuellen Abstimmung wahrscheinlich auch die gesammte Linke ein treten wird, um dadurch die Staatsversicherungsanstalten zu Falle zu bringen und in der definitiven Abstimmung auch die Reichsanstalt über Bord zu werfen — zu retten. Die vom Präsidenten in Ucbercinstimmung mit dem Reichstage getroffene Maßregel, den zur Vorberathung der großen Gesetzgebungswerke berufenen Kommissionen sür ihre Arbeiten einen längeren zusammenhängenden Zeit raum zur Verfügung zu stellen, hat sich entschieden be währt. Früher verstand sich das Plenum meist nur dazu, einzelne Tage in jeder Woche für die Kommissionsde- rathungen völlig frei zu geben. Noch die Zolltarifkommission der Session 1879 mußte ihre Arbeiten neben den ununter brochen fortgesetzten Plenarberathungen erledigen. Man gab wohl wöchentlich einen bis zwei Tage frei, man be gann auch, um die Vormittage für die Kommissionen zur Verfügung zu halten, die Plenarsitzungen in die Regel erst um 12 Uhr; aber für beide Theile war diese Ge pflogenheit nichts weniger als bequem. Die Kommissions mitglieder mußten früh um 9 Uhr zur Kommissionssitzung, um 12 Uhr zur Plenarsitzung und nach Schluß der letzteren, sowie nach einer mehrstündigen Mittagspause womöglich wiederum zu einer Kommissionssitzung sich be geben. Daß das eine anstrengende und aufreibende Thätig- keit war, versteht sich von selbst. Andrerseits wußten die jenigen Abgeordneten, welche nicht zu Kommissionen ge hörten, nicht, wie sie an sitzungsfreien Tagen die Zeit todtschlagen sollten. Es ist daher im Interesse beider Theile als eine zweckmäßige Maßregel zu begrüßen, daß den Kommissionen eine ganze Woche zur Verfügung ge stellt wurde, in der sie mit Muße in langen täglichen Sitzungen ihre Aufgaben erfüllen konnten, während die jenigen Mitglieder, die Kommissionen nicht angehören, ruhig in ihre Heimath reisten zur Erledigung ihrer Privat geschäfte. Die drei Kommissionen für die Gewerbeordnung, für das Unfallversicherungsgesetz und sür das Reichs- stcmpelgesetz sind nun in der Lage, gleich nach Wieder eröffnung der Plenarsitzungen ihre Berichte zu erstatten, sodaß das Plenum bis zum Schluffe der Session Material genug zur Verfügung hat für tägliche fünf- bis sechs ¬ stündige Sitzungen. Im Rückstände geblieben ist nur die Kommission zur Vorberathung des Gesetzes über die Be strafung der Trunkenheit, auf dessen Zustandekommen an scheinend von keiner Seite ein erheblicher Werth gelegt wird. Die Gewohnheitstrinker können also mindestens noch ein Jahr lang ihrem Laster fröhnen ohne Besorgniß, daß ihrer hohe Geldstrafe wartet oder Gefängniß mit Entziehung der warmen Kost. Die Gewerbeordnungsnovelle wird dem Plenum von der Kommission im Wesentlichen in der Gestalt unter breitet werden, die sie auf Grund der im vorigen Jahre durch die Koalition der Konservativen und des Zentrums durchgebrachten Reichstagsbeschlüsse in dem Entwürfe der verbündeten Regierungen erhalten hatte. Der jüngste Sohn des Reichskanzlers wird bei der Plenarberathung als Berichterstatter Gelegenheit haben, die Grundsätze zu- entwickcln, von welchen er sich in seinem zukünftigen öffentlichen Leben leiten lassen wird, wenn es ihm be- schicden sein sollte, auf dem Gebiete der Wirthschafts politik einmal eine Rolle zu spielen. Auch die Reichs stempelkommission hat, unter Verwerfung der vexatorischen Quittungssteucr, aus dem ihr zur Berathung überwiesenen Entwürfe eine Börsenstcuer, eine Steuer auf Aktien und Werthpapierc und eine Steuer auf Lotterieloose heraus- gcschält. Wenn, wie zu erwarten ist, auch hier Fürst Bismarck dem in der letzten Zeit von ihm angenommenen Grundsätze folgt, daß er nimmt, was er bekommen kann und von wem er cs bekommen kann, so wird auch diese Angelegenheit dem Reichstage einige Tage wegnehmen. Im Ganzen schützt man die Dauer des Reichstags, wenn das Reichsstempelgesetz, die beiden Gcwerbcordnungs- novellen, das Unfallvcrsicherungsgesetz und außerdem noch der noch nicht vorgelcgte Handelsvertrag mst Oesterreich und einige andere noch zu erwartende Vorlagen erledigt werden sollen, auf noch fünf Wochen, und zwar unter der Voraussetzung, daß zu Pfingsten eigentliche Ferien nicht tattfinden, vielmehr nur die beiden Feiertage und je ein Tag vor- und nachher frei bleiben. Die Arbeit wird eine mühsame und anstrenge.,de sein. Die einzige Sorge ist, ob sich das Haus immer als beschlußfähig erweisen vird. Bis jetzt sind 40 Sitzungen abgehalten worden, larunter kann man von 30 annehmen, daß die zur Be schlußfähigkeit ausreichende Anzahl nicht gegenwärtig war. Wenn man das in den meisten Fällen ignoriren konnte, so lag dies daran, daß die Hauptthätigkeit in ersten Lesungen bestand und prinzipiell wichtige Abstimmungen wenig häufig stattfanden. Das ändert sich nun. Alle Ge setze, die noch zur Berathung kommen, sind als höchst wichtige zu bezeichnen. Die Zahl der bestrittenen Punkte ist eine sehr große und an Gelegenheiten, namentliche Ab stimmungen zu beantragen und so für die kommenden Wahlen die für oder wider abgegebenen Stimmen zn fixiren, wird es demnach nicht fehlen, ganz abgesehn von den Abstimmungen durch Zählung, die eintreten müssen, wenn die Abstimmung durch Aufstchen oder Sitzenbleiben zweifelhaft ist, und die vcrmuthlich in großer Zahl ein treten werden, weil die gesammte Linke, wenigstens bei den wirthschaftspolitischen Vorlagen, in der Opposition sich befindet. Wenn der jetzige Reichstag, der seit seiner Einberufung stets die entschiedenste Unlust kundgegeben hat, sich noch auf größere Gcsetzgebungswerke einzulassen, seinen Geschäftsbankerott erklären und durch permanente Be schlußunfähigkeit einen vorzeitigen Schluß erzwingen sollte, so wäre dies zwar im höchsten Grade zu bedauern, aber es könnte sich Niemand darüber wundern. Tagesschau. Freiberg, 16. Mai. Wie aus vorstehendem Reichstagsbriefe hervorgeht, ist zwischen der Reichs rcgierung und dem Zentrum eine Verständigung über das Unfallvcrsicherungsgesetz erfolgt. Wie sich dies gemacht hat, ist schwer zu sagen, aber daß es sich gemacht hat, kann ferner nicht bezweifelt werden. Das Zentrum erringt damit einen Erfolg: es vereitelt eine Ausdehnung der Kompetenzen des Reiches und ver hilft dem partikularistischen Gedanken zu einem Triumphe. Das ist in seinen Augen viel; es hält sich für den Wächter der föderativen Idee. Dem Reiche Machtbefugnisse zu