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Amtsblatt für die königlichen nnd städtischen Behörden zu Freiberg nnd Brand. Verantwortlicher Redakteur Iuliu- Brauu m Freiberg. > > . - - 32. Aahr,a«g. ..... > > — . /» Erjchcmt jeden Wochentag Abends 6 Uhr für den ü Inserate Iverden bis Vormittags N Uhr angenom- M j Sonnabend, dm 9. Oktiicr. 1880. Ideale Naturen. Mit den Nationaltugenden, welche ein Volk gemeinhin an sich zu rühmen pflegt, ist es ein eigen Ding; meist sind sie gar nicht vorhanden, oder bei Lichte besehen verwandeln sic sich gerade in ihr Gcgcnthcil. Man kann derartige Erscheinungen ja auch an Einzelnen beobachten; gewöhnlich ist der Mensch auf Eigenschaften stolz, auf welche er am wenigsten Anlaß hätte stolz sein. Um Beispiele hinsichtlich jener Nationaltugendcn braucht man keineswegs verlegen zu sein. Die vielgepriesene deutsche Treue können wir beispielsweise in dem Ver halten der Millionen von Deutschen nicht finden, welche im Auslande sobald als nur möglich deutsche Sprache und deutsche Sitte ablegen und es im Haß gegen das Deutsch thum allen Fremden womöglich zuvorthun. Nirgends giebt es so viel elendes Renegatenthum, wie unter den in mitten fremder Umgebung lebenden Dcutschgeborencn. In Böhmen, in Amerika, in den polnischen Gegenden kann man überall solche Leute zu Dutzenden und Schocken an- treffen, welche sich ihrer deutschen Abkunft schämen und dieselbe verleugnen. Auch das elende Benehmen, welches ein recht großer Theil des deutschen Volkes während der französischen In vasion nach dem Jahre 1806 an den Tag legte und welches in dem unwürdigen Verhalten vieler deutschen Frauen den französischen Gefangenen gegen über im Jahre 1870 ein Scitcnstück fand, gehört in dieses Kapitel. Aber auch unser vielgepriesener deutscher Idealis mus kann in gewisser Beziehung als Beleg dafür gelten; denn das, was wir gewöhnlich als Idealismus bezeichnen, ist nichts anderes als eine Untugend, die uns schon viel Unheil gebracht hat und noch heute bringt. Kein Vernünftiger wird dem Ideal seine Berechtigung und Herrschaft streitig machen wollen; es ist der Stern, der uns in der Nacht des Daseins leuchtet, die Kraft, die uns in allen schweren Tagen aufrecht hält. Aber der echte und wahre Idealismus verklärt selbst das Kleine, Unbedeutende und Alltägliche mit seinem rosigen Schimmer; er unterschätzt die Wirklichkeit nicht, denn er weiß, daß er sie nicht entbehren kann. Der falsche Idealismus aber achtet die Wirklichkeit gering oder übersieht sie ganz, blickt nur in die Wolken und gefällt sich in eitler Selbstbespiegelung, welche sich nicht als ein kleines Glied in die große Kette der Welt einreihen lassen will, sondern alles als dienstbar dem eigenen Ich betrachtet. Dieser falsche Idealismus aber, der sich mit allerhand schönen Redensarten drapirt, aber nichts ist und nichts bedeutet, findet bei uns viel fach einen leider sehr günstigen Boden. Davon kommen dann die tausend Existenzen, welche überall mit zu sprechen wissen, allen Leuten gute Lehren und Rathschläge geben wollen, die Beglückung des Menschengeschlechts immer im großen Maßstabe betreiben, aber nicht einmal die ihnen obliegenden Pflichten erfüllen können. Daher kommen ferner die vielen Menschen, welche, an sich gut veranlagt, auf dem Meere des Lebens scheitern, weil sie, stets nur einem erträumten Wolkenkukusheim zu steuernd, sich in der Wirklichkeit nicht zurcchtfinden; die unklaren, verschwommenen Köpfe und Weltverbesserer, welche nie recht wissen, was sie wollen und können; die eingebildeten und aufgeblasenen Männer, welche mit Ver achtung auf den sogenannten Philister herabblickcn, der keinen anderen Ehrgeiz hat als den Platz redlich auszu- fiillcn, auf welchen ihn das Schicksal stellte, die aber selbst keiner Aufgabe gewachsen sind, welche sie sich in ihren hochflicgenden Jdeenkrcisen stellen. Daher kommen dann endlich in weiterer Folge die vielen Unzufriedenen und Unglücklichen, die beständig über den Materialismus der Welt, über die Kälte und den gemeinen, jedes höheren Aufschwunges unfähigen Sinn der Menschen klagen, aber nie darnach fragen, ob sie selbst der Welt gefallen; die vielen schiffbrüchigen Existenzen, welche in Noth und Schande verkommen, weil sie glaubten, auf den Stelzen der Phrasen durchs Leben gehen zu können. Wer diesen falschen Idealismus recht deutlich sich be sehen will, der braucht nur die Deutschen zu studiren, welche der Strom der Auswanderung alljährlich an die amerikanischen Küsten wirft. Da findet er wahre Pracht exemplare dieses total unfähigen, aber äußerst anspruchs vollen Idealismus. Das amerikanische Leben kurirt die meisten; wer nicht kurirt wird, geht zu Grunde. Aber cs wäre gut, wenn es solcher Kur nicht erst bedürfte, zumal die Amerikaner den Teufel durch Beelzebub austreiben. Herr vr. Hübbc-Schleiden sagt in seinem ausgezeich neten Werke „Uebcrseeischc Politik": „Die einzelnen Deutschen sind im Auslande meist gern gesehene Kräfte wegen ihres Fleißes, ihrer Sparsamkeit, ihrer Intelligenz, Arbeitsfähigkeit, Liebenswürdigkeit und was desgleichen mehr, so lange sie sich nämlich politisch in bescheidener und völlig anspruchsloser Stellung halten. Dies ist erst vor Kurzem wieder offiziell konstatin worden in der Denkschrift unserer Reichsrcgicrung zum Samoa-Vcr- tragc. Wo immer aber solche Deutsche persönlich geachtet werden, sind sic dies bisher nur als tüchtige oder liebens würdige Menschen, nicht aber als Deutsche; sie sind cs wegen ihrer Leistungen, nicht wegen ihrer Nationalität. Ucbcr den kleinen Ucbelstand, daß sic nur Deutsche sind, nicht aber Briten oder Amerikaner, sehen diese Nationen meist in herablassender Weise hinweg. Fast überall, wo hin der Deutsche in der weiten Welt kommt, findet er seine Nationalität hinter derjenigen anderer europäischer Völker zurückstchcnd, oder gar ostentativ zurückgcsctzt- Das Gefühl der Unreife, Unmündigkeit und Unselbst ständigkeit unser Nation lastet bisher wie ein Alp auf allen überseeischen Leistungen, die nur irgend wie einen deutsch-nationalen Charakter erstrebten." Tagesschau. Freiberg, 8. Oktober. Die ultra montanen Agitatoren haben mit der Kölner Dombaufeier entschieden Unglück. Das schöne nationale Fest verspricht wieder einmal die Massen des katholischen Volks am Rhein dem trüben Dunstkreis des kirchlichen Fanatismus zu entreißen und die „würdige Zurückhaltung" findet selbst in den eigenen Reihen der Zentrumsanhänger keinen rechten Beifall, vielmehr manchen Widerspruch. Einen großen Koup glaubte die klerikale Aktionspartei sodann mit einer Jmmediat-Eingabe an den Kaiser auszuführen. Das Schriftstück wird jetzt von der „Köln. Zeitung" veröffentlicht. Es ist für die ultramon tane Denkweise und Taktik charakteristisch. Im konstitu tionellen Rechtsstaat, wo das Gesetz gilt, das über dem Monarchen steht, wenden sich die Petenten an das landes väterliche Herz des Kaisers um Abhilfe für die selbstver schuldeten Nothstände der Kirche- Und doch steht es noch in frischester Erinnerung, wie schroff ablehnend die Kurie sowohl als das Zentrum den ersten Versuch zurückgewiesen haben, einige Erleichterungen zu gewähren. Wahrhaftig, dieser erste Versuch konnte nicht zur Wiederholung ein laden. Es hätte ja in der Hand des Zentrums gestanden, durch Annahme der kirchenpolitischen Vorlage aus der vorigen Session dem Kaiser und seiner Regierung die ge setzliche Fähigkeit zu verleihen, den abgcsetzten Erzbischof zurückzurufen' und auch sonst einem großen Theil der katholischen Beschwerden abzuhelfcn. Allein schroff und trotzig wurde ein Gesetz zurückgewiesen, in welchem nach Auffassung aller Liberalen viel mehr geboten war, als der Staat bieten durfte. Und trotzdem jetzt ein Bittgesuch an den Landesherrn, dem er nach Lage der Gesetzgebung gar nicht entsprechen könnte. Die kaiserliche Antwort auf das Ansinnen, eine Jmmediat-Eingabe solchen Inhalts entgegcnzunehmen, ist denn auch nicht ausgeblieben, indem die Annahme verweigert wurde. Die Angriffe aus das Unterstützt: ngswohnsitz- aesetz, wie sie in jüngster Zeit von einem Theile der Presse ausgeführt worden sind, haben einen nicht unin teressanten Einblick in die inneren Gegensätze gewährt, welche die dermalige Strömung auf sozialpolitischem Ge biete umfaßt. Die „Nordd. Allgem. Ztg." findet irgend wo einen Zeitungsartikel, der dies Gesetz als gänzlich un haltbar darstellt und für die zweijährige Frist, welche heute zur Erlangung des Unterstützungswohnsitzcs an einem Orte erforderlich ist, eine mindestens fünfjährige verlangt. Mit freudiger Eile verkündet das gouvernemental-konser- vative Blatt der Welt diesen neuen Beweis von der Un brauchbarkeit der „liberalen" Gesetzgebung. Sofort aber wird cs von einem Freunde „aus den östlichen Provinzen" belehrt, daß es sich mit seiner Befürwortung der fünf jährigen Aufenthaltsdauer gar sehr auf dem Holzwege befinde, sintemalen nicht eine Verlängerung der be stehenden gesetzlichen Frist von zwei Jahren, sondern viel mehr eine Verkürzung derselben im Interesse der länd lichen Gegenden liege, wobei man sich dann erinnern muß, daß 1870 bei Berathung des Unterstützungswohnsitzgesetzes gerade die preußischen Liberalen es waren, welche die ein jährige Frist vcrtheidigten. Die ..Nordd. Allgem. Ztg." . aber druckt die Belehrung ihres östliches Freundes ab, ohne eine Miene zu verziehen; bei dem Uriheil über die schlechten liberalen Gesetze behält es eben sein Bewenden. Ein drastischeres Beispiel von der unerhörten Oberfläch lichkeit, mit welcher diese reaktionären Kritiker zu Werke gehen, läßt sich nicht denken. In Wirklichkeit wird es kaum ein Gesetz geben, das mit politischen Parteibestre bungen weniger zu thun hat, als das Unterstützungswohn- sitzgesctz. Es sind rein wirthschaftliche Gegenstände, welche hier in Frage kommen Fast alle industriellen Orte, be sonders aber die großen Städte, beklagen sich über das Anwachsen ihrer Armcnbudgcts unter der Herrschaft des in Rede stehenden Gesetzes. Daß Jemand bereits nach zweijähriger Aufenthaltsdauer an einem Orte das Recht auf Unterstützung im Bedürfnißfalle gewinnt, bezeichnen sic als ungerecht; mindestens eine vier- bis fünfjährige Aufenthaltsdauer sei nothwendig, um eine Verpflichtung der betreffenden Gemeinde zu begründen, für den aus dm wirthschastlichcn Leistungen eines Zugczogenen erhaltenen Nutzen ihm im Falle der Unterstützungsdedürstigkeit ge wissermaßen eine Vergeltung zu gewähren. Auch biete uns eine so lange Frist einige Gewähr, daß nicht der Un terstützungswohnsitz auf unrechtmäßige Weise erworben werde. Andererseits beschweren sich zahlreiche ländliche Gemeinden, daß ihnen nach dem bestehenden Gesetze ihre in die Städte, die Fabrikdistriktc gewanderten jungen Leute noch bis zum vollendeten sechsundzwanzigsten Lebens jahre, auch alle älteren aber noch vis zu zwei Jahren nach ihrem Abzüge im Falle der Unterstützungsbedürftig keit zur Last fallen. Sie verlangen daher meistens, daß die zweijährige Frist, innerhalb welcher der bisherige Un terstützungswohnsitz verloren wird, in eine einjährige um- gewandclt, und der Lauf dieser Frist, statt mit dem vol lendeten 24 , mit dem vollendeten 21. Lebensjahre begonnen werde, so daß sie in Zukunft für Fälle der erwähnten Art nur noch bis zum vollendeten 22., statt bis zum vollen deten 26. Lebensjahre in Anspruch genommen werden könnten. Die echten Agrarier wollen sogar die Fristbe stimmungen ganz beseitigt wissen, so daß Jeder ohne Wei teres von dem Orte unterstützt werden würde, an welchem seine Unterstützungsbcdürftigkcit eintritt. Man steht, es sind zwei diametral entgegengesetzte Standpunkte. Und dabei ist eigenthümlich, daß gerade die Konservativsten einer Reaktiviruna des alten Heimathsrechts in diesem Punkte am schärfsten cntgegcntreten — eigenthümlich, aber sehr erklärlich. Sie würden natürlich nichts dagegen haben, wenn das alte Hcimathsrccht voll und ganz wieder hcrgestcllt und die Freizügigkeit wieder aufgehoben würde. Für eine blos partielle Wiederherstellung im Punkte der Unterstützungspflicht aber bedanke» sie sich bestens. Eine solche würde aber die einfache Verlängerung der Frist von zwei auf fünf Jahre sein- Wer die letztere erreichen will, müßte also zugleich eine starke Beschränkung der Freizügig keit in den Kauf nehmen. Um diesen Preis aber wird man in den industriellen Kreisen wohl auf eine Aenderung des „schlechten liberalen Gesetzes" verzichten. Der Reichs-Anzeiger enthält einen Erlaß der königl. preußischen Regierung, Abthcilung des Innern ä. ä. Oppeln, den 3. Oktober, nach welchem, da amtlichen Nachrichten