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LV. Jahrgang. Sonntag, den 13. Oktober. Inserate werden bis Vormittags 11 Uhr angenom men und beträgt der Preis sür die gespaltene Zeile oder deren Raum 1b Pfennige. -- - M Erscheint jeden Wochentag Abends 6 Uhr für den I andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mark 2b Pf., zweimonatlich 1 M. bO Pf. n.cinmonatl. 7SPf. reiö eMInBaek und Tageblatt. i» Amtsblatt für die königlichen nnd städtischen Behörden zn Freiberg und Brand. Verantwortlicher Redakteur Iulius Braun in Freiberg. Vie Einnahmen der europäischen Staaten. Was den modernen Staat gegen den alterthümlichen und mittelalterlichen auszeichnet, das sind seine Schulden und die damit vielfach zusammenhängende kolossale Summe seiner jährlichen Ausgaben, denen natürlich die Einnahmen aus Steuern, Gefällen und anderen Dingen entsprechen sollen und entsprechen müssen. Man braucht sogar nur ein einziges Jahrhundert zurückzugehen, um den ungeheuren Unterschied zwischen dem Aufwand der damaligen und der heutigen Staatswirthschaft staunend sich klar zu machen. Im Jahre 1740 brauchte Frankreich 170 Millionen Franks jährlich, heute über 3000 Millionen. Seit den letzten 15 Jahren hat das französische Budget allein eine Steige rung von700Millionen Franks erfahren, wofür das Frankreich Ludwigs XV. vier Jahre leben konnte. Oesterreich-Ungarn brauchte 1750 höchstens 14 Millionen Gulden, heute kann es knapp mit 635 Millionen auskommen, wenn es nicht eine bosnische Expedition auf Konto nimmt. Bet Friedrich des Großen Thronbesteigung betrug die ganze preußische Staatsetnnahme nur 7 400000 Thaler; vor 1806 waren daraus 140 Millionen geworden, von dem jetzigen ver größerten Preußen ganz zu schweigen. An all dieser so ungemessenen Steigerung der Ausgaben und daher der Einnahmen waren die stehenden Heere schuld, in denen ein großer Staat den andern überbieten wollte. Besonders seit die französische Revolution die allgemeine Konskription eingeführt und fast alle anderen Staaten die Einrichtung nachahmen zu müssen glaubten, ist ein wahres Wettrennen unter den Regierungen entstanden, wobei jede bestrebt war, die andere mit ihren Einnahmen — wegen der nöthigen Ausgaben für Soldaten und wegen Tilgung der aus Kriegsursachen gemachten Anleihen — zu überholen. So ist man nun dahin gelangt, im tiefsten Frieden jährlich in allen Staaten Europa's die Summe von 11 657 Millionen Mark (nach den Etats von 1877) einzunehmen oder einnehmen zu müssen. Diese Summe, welche vor 12 Jahren noch auf 9185 Millionen Mark sich hielt, ist so ungeheuer groß, daß man sich nicht so leicht eine Vorstellung davon zu machen vermag, obgleich wir Deutsche und auch die Franzosen neuerdings mit Milliarden zu rechnen und zu wirthschaften verstehen. In einzelnen Markstücken könnte man damit einen siebenfachen Gürtel um die Erde legen und als eine silberne Säule hätten diese 11 Milliarden eine Höhe von 17 500000 Meter, so daß man würde viertausend silberne Säulen von der Höhe des Montblanc daraus zu errichten vermögen. Interessent ist, die Einnahmebudgets der einzelnen großen Staaten Europa's mit einander zu vergleichen. Da finden wir das deutsche Reich mit über 597 Millionen Mark (nach Abrechnung der den Einzelstaaten zufallenden Matrikularbeiträge); Frankreich mit über 2411 Millionen Mark, Großbritannien mit 1521'/i Millionen, Oesterreich diesseits der Leitha mit 761 und jenseits mit 510 Mil lionen; Preußen mit 702 Millionen, Sachsen 131'/. Mil lionen, Baiern 229 Millionen, Württemberg 95'/, Mil lionen; die Schweiz mit zusammen an 80 Millionen; die Türkei mit 452'/, Millionen; Rußland 1485 Millionen. Diesen Gesammteinnahmen resp. Ausgaben steht in Europa eine Bevölkerung von 304 Millionen Seelen gegen über, so daß auf jeden Kopf eine Ausgabe von beinahe 38 Mark entfällt und auf eine Familie, zu fünf Köpfen angenommen, 190 Mark. Natürlich herrscht in den ein zelnen Staaten eine sehr große Verschiedenheit. Frankreich England und Holland geben etwa das Doppelte auf den Kopf aus von dem, was in Europa als Durchschnitt gilt, während die Schweiz — nur nicht im Kanton Zürich — mit weit weniger auskommt. Kann dies, muß man sich doch fragen, so weiter gehen? Es muß doch einmal eine Grenze für die StaatsauSgaben geben, die, wenn sie überschritten wird, nothwendig den volkswirtbschaftlichen Ruin des betreffenden Landes herbei führen muß. Im Augenblick denken die Großstaaten nicht an's Einschränken, sondern an neue Anspannungen zur Vermehrung der Einnahmen und sie finden neue Steucr- objekte, die sich vortrefflich dafür eignen. Wir sind also offenbar noch nicht an der Grenze, wo von staatswegen weniger gebraucht wird und auf den Kopf also weniger Abgaben für deu Staat kommen. Zur richtigen Beurtheilung dieser Verhältnisse ist es freilich nöthig, nicht einen Staat mit dem anderen zu ver wechseln und denjenigen für den glücklicheren zu halten, der im Verhältnisse am wenigsten einnimmt, weil er — wie die Türkei und Rußland — am wenigsten für das Ge meinwohl leistet. ES Ärmmt eleu darauf an, was die Staatswirthschaft yüt den Mitteln, die ihr zu Gebote stehen, zum Besten ihrer Angehörigen zu Wege bringt. Vollendet ist aber die jetzige Staatswirthschaft noch lange nicht, denn mit Erreichung dieser Stufe, die in der Sicherung fortgeschrittener Entwicklung sich bietet, müssen manche der kostspieligen Bedürfnisse doch offenbar mehr und mehr aufhören. Je mehr z. B. der Rechtssinn sich entwickelt und überhaupt die allgemeine Bildung fort schreitet, desto weniger Richter und Gerichtsbeamte, desto weniger Gensdarmen und Polizisten wird man nöthig haben, desto geringer wird auch der Aufwand sein, der für Gefäng nisse und Strafanstalten nöthig ist. Gewiß wird auch einmal die Zeit kommen, wo die schweren Kosten sich mindern müssen, die zum Schutze nach außen vom Staate gemacht werden und bei noch höherer Entwicklung würde also auch diese Seite der Staatsbudgets viel geringere Summen darbieten. Aber, ist diese Logik richtig, so nicht minder die Thatsache, daß der moderne Staat noch sehr weit von alledem entfernt ist. Das beweisen die Budgets. Tagesschau. Freiberg, 12. Oktober. Jetzt kann man wohl mit ziemlicher Gewißheit be haupten, daß das Sozialistengesetz im Reichstage An nahme findet, da bis jetzt in zweiter Lesung Paragraph auf Paragraph genehmigt wurde. Während sich unsere Reichsbeten mit dieser viel angefochtenen Regierungsvorlage abmühen, tritt heute in unserer sächsischen Residenz der zweite deutscheArbeiter-Kongreß mit hochinteressanter Tagesoidnung zusammen. Or. Max Hirsch wird die Er öffnungsrede „über die wahre Bekämpfung der Sozial demokratie" halten und zweifelsohne den Beitritt zu den Gewerkvereinen und die Betheiligung am Arbeiter-Kongresse für die besten Mittel erklären, die Gefahren des Sozialis mus zu verhindern. So sehr wir auch den praktischen Werth der Gcwerkoereine und eine tüchtige Organisation des Arbeiter-Kongresses schätzen, so möchten wir es doch als einen verhängnißvollen Fehler bezeichnen, wenn dic Bestrebungen zur Bekämpfung der Sozialdemokratie auf diese beiden jungen und noch schwachen sozialen Vereine beschränkt blieben. Es ist lebhaft zu bedauern, daß die große Gefahr, welche man in dem Wachsthum des Sozialismus erkannt hat, nicht dazu führte, eine mächtigere Gegenorganisation zu schaffen. Eine solche war und ist nur zu schaffen durch die ersten parlamentarischen und sozialpolitischen Kräfte unseres ganzen Vaterlandes, durch eine einheitliche und kräftige Vereinigung aller Parteien,welche die Sczialdemokratieallesammt als „reaktionäre Masse" bezeichnet. Aber auf dem Dresdner Kongreß vermissen wir sämmtliche sozialpolitische Größen Deutschlands, sowohl Gneist, Bam berger, Treitschke u. A., wie Schulze-Delitzsch, Richter-Hagen u. s. w. Nicht einmal die bewährten Volkswirths Böhmert- Dresden, vr. Engel-Berlin, Jakobi-Liegnitz rc. haben irgend ein Referat übernommen oder ihr Erscheinen zugesagt. Kein einziger Vertreter der Statistik, kein Name aus der neuesten Literatur gegen die Sozialdemokratie, mit Ausnahme der Verfasser der Gewerkvereins - Broschüren, ist auf der „Tagesordnung" zu finden. Man weiß in der That nicht, worüber man mehr staunen soll, über die vornehme Zurück haltung, die durch Abwesenheit glänzt, oder über die Naivität, daß die Sozialdemokratie ohne die Einigkeit und ohne das entschlossene Zusammenwirken aller berufenen Kräfte der deutschen Nation bekämpft werden könne. Bei der Theil- nahmlosigkeit der Berufenen und Auserwählten kann man den bescheidenen Arbeiter-Kongreß nur freudig begrüßen, weil dieser — und das bleibt trotz aller Mäkeleien das Verdienst des Vr. Max Hirsch — doch wenigstens Etwas bittet, vor Allem aber von den antisozialistischen Phrasen der Treitschke und Gneist absieht und zur sozialen That schreitet. Den Berichten über Gewerkvereine sollen nach stehende wichtige Besprechungen folgen:' 1) Verwendung der Wilhelmsspende und freie Hilfskaffen; 2) Wesen und Wirken der Gewerkvereine ; 3) Aufgaben der Fabrikinspektoren; 4) Presse und Arbeiterfrage; 5) das HerbergSwesen; 6) Arbeiterstatistik, Lehrlingswesen, gewerbliche Schiedsgerichte u. s. w. —. DaS Wichtigste aber bleibt die Organisation des Kongresses selbst, die Drfinirung seiner Aufgaben und die Vorschläge zu seiner Ausbreitung und praktischen Wirk samkeit. Von der Theilnahme des deutschen Volkes hängt es ab, etwas Gedeihliches und Großartiges zu schaffen, und wahrlich, es predigen tausend Gründe dafür, eine solche Gelegenheit dazu nicht nutzlos vorübergehen zu lassen. Die in letzter Zeit aus Postwaggons der Eisen bahnen vorgekommenen und durch leichtfertiges Verfahren der Absender von Gütern veranlaßten Unglücksfälle haben auf's Neue die Frage zur Beantwortung gestellt, wie solchen Unglücksfällen vorzubeugen sei? Bereits vor Jahresfrist hatte das Reichseisenbahnamt Vorschläge aus gearbeitet, wie namentlich die Versendung von Sprengstoffen regeln sei? Diese Vorschläge wurden dem Bundesrath M Erklärung vorgelegt. Die weitere Verfolgung auf diesem Wege unterblieb aber, weil inzwischen eine gesetzliche Regelung durch die Reichsregierung veranlaßt worden war. Zu diesem Zweck haben Erhebungen durch das Reichs kanzleramt stattgefunden, welche jetzt beendet sind. Wie wir hören, werden sich demnächst die betreffenden Ausschüsse des Bundesraths mit der Angelegenheit zu befassen haben. ' Das BerlinerStadtverordneten-Kollegium hat 50,000 M. zur Bestreitung der Kosten für den Empfang der Kaisers in Berlin bewilligt. Es wird an diesem Tage auch eine große Armenspeisung stattfinden. — Das Berliner Central- Komitee für Pflege der Verwundeten im Kriege, „Rothes, Kreuz", überwies 10,000 Mark für die bosnische Okkupa tions-Armee. — Generalfeldmarschall Graf v. Moltke ist wieder in Berlin eingetroffen und wohnte gestern den Reichstagsverhandlungen bei. — Am 10. Oktober ist in München der Chef des Generalstabes Generallieutenant Graf Bothmer gestorben. Zu der gestern erwähnten Zirkularnote der Pforte be merkt die National - Zeitung: Es hört sich eigenthümlich an, daß die Pforte sich feierlich über die von den öster reichischen Truppen in Bosnien begangenen Grausamkeiten beklagt und an die Gefühle der Menschlichkeit und die Sympathie des Grafen Andrassy appellirt, damit dieser dem bisherigen Auftreten der Truppen Einhalt thue. Die Welt, sollte man meinen, hat sich seit zwei Jahren auf den Kopf gestellt. Die Türken fordern Menschlichkeit von Oesterreich! Man ist geneigt, entweder zu lachen über diese Unverfrorenheit, oder sich zu ärgern über solche Schamlosigkeit. Aber für ungarische Köpfe mag auch hier noch weder Lächerliches noch Aergerliches zu finden sein. In Pest wird man vielleicht wieder türkischer als die Türken sich zeigen und über diese frechen Verdrehungen in die umgekehrte Entrüstung gerathen; dazu war die Note ja vielleicht abgefaßt, um das Magyarenthum Wetter gegen Oesterreich zu Hetzen. Die beiden Ministerkrisen in Oesterreich-Ungarn harren noch ihrer Lösung. Man versichert, daß diesseits der Leitha Graf Taaffe zwar den Auftrag zur Bildung eines Kabinet noch nicht erhalten hat, aber es an Versuchen nicht fehlen läßt, ein Ministerium zu bilden. Graf Taaffe hat Unterhandlungen mit einzelnen Mitgliedern der denns- sionirten Regierung gepflogen, unter Anderen mit dem