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und Tageblatt. Amtsblatt für die königlichen und Wüschen Behörden zn Freiberg und Brand. Verantwortlicher Redakteur Iulius Brauu in Freiberg. -H Erscheint jeden Wochentag Abends 6 Uhr für dm -/Vt) I andem Tag. Preis vierteljährlich 2 Mar! 2b Pf., E zweimonatlich 1 M. bO Pf. u.cinmonatl. 7bPf. 30. Jahrgang. Freitag, den 20. September. Inserate werden bis Bormitlags 11 Uhr angenom- ! - men und beträgt der Preis für die gespaltene Zeile 1 »L > ML oder deren Raum 1b Pfennige. -R.O I Ein Sündenbock. „Es ist meinem Vater schon recht, warum kauft er mir keine Handschuhe" — klagte bekanntlich jener Bauernjunge, der sich die Hände erfroren hatte- Ganz nach derselben Logik verfährt man heute in Oesterreich, um die Schuld an den Unfällen und Niederlagen bei der Okkupation nicht sich selbst, sondern Andern aufzubürden. Man braucht eben einen Sündenbock und wer böte sich dazu bester und bequemer dar als Fürst Bismarck! Er ist ja daran gewöhnt. Zwar hat es seit einigen Jahren etwas nachgelasten, aber man weiß, daß an Allem, was in Europa und noch darüber hinaus Unglückliches geschah, kein anderer die Schuld trug als Bismarck; es ging ihm wie in neuester Zeit dem Liberalismus, der bekanntlich die Schuld an den Aus schreitungen der Sozialdemokratie tragen soll. Bismarck — behauptet die österreichische Presse — hat aus einer leicht begreiflichen Malice den Reichskanzler Grafen Andrasty in die Falle gelockt; Bismarck hat nun auch die letzten seiner Freunde, die Deutschen in Oesterreich ver loren, denn sie können ihn nicht mehr vertheidigen, da er Oesterreich in's Unglück gestürzt; Bismarck hat die Freund schaft, die ihm der offene und ehrliche Andrasty entgegen trug, verrathen; er triumphirt über die Unglücksfälle, die Oesterreich in Bosnien betroffen u. s. w. Wir könnten zunächst entgegnen, Bismarck ist vor Allem Kanzler des deutschen Reiches; seine erste Pflicht besteht darin, die Interessen Deutschland zu wahren. Wenn die österreichische Okkupation in Bosnien und was dazu gehört, nöthig wäre, die deutschen Interessen zu fördern, fo hätte Bismarck vollkommen Recht gehabt, wenn er, wie man in Oesterreich sagt, Andrasty, „in die Falle ge lockt" hätte; nicht er, sondern Andrasty ist der Minister für Oesterreich-Ungarn. Aber wir haben das nicht nöthig; wir behaupten nach wie vor, daß beide, Andrasty und Bismarck, vollkommen im wohlverstandenen Interests der beiderseitigen Reiche gehandelt haben, wenn Bismarck das Mandat, welches nicht er, nicht Deutschland, sondern Europa Oesterreich übertrug, befürwortete und wenn Andrasty es annahm. Beide haben darin vollkommen offen und ehrlich gehandelt, fern von allen diplomatischen Ränken und Jntriguen, und wenn die Okkupation Bosniens nicht so leicht und schnell vor sich gegangen, wie Beide anzu- nehmen das Recht hatten ».so trägt weder Bismarck noch Andrasty die Schuld,sondern einzig und allein Oesterreich, d. i. die militärische Oberleitung in Oesterreich; wir meinen natürlich nicht die Generäle, welche man nach Bosnien ge schickt; diese sollen sich ja allen Berichten zufolge außer ordentlich fähig und tüchtig bewiesen haben, sondern wir meinen die militärische Oberbehörde in Wien oder auch die Milttärpartei, in welcher die Gegner Andrassy's zu suchen sind. Oesterreich hat denselben Fehler begangen, wie ihn Rußland im Anfang des orientalischen Krieges beging und den es so schwer büßen mußte. Oesterreich orientirte sich nicht vollständig und unterschätzte die Widerstandskräfte der zu okkupirenden Provinzen; Oesterreich vergaß wie Rußland, daß ein absterbendes Volk noch einmal alle seine Kräfte zusammenfaßt, um dem drohenden Tode zu entgehen. Haben dasselbe doch sogar die gänzlich verweichlichten und korrumpirten Byzantiner vor vier Jahrhunderten gethan und dadurch noch im Momente des Unterganges dem Sieger Achtung abgerungen. Was Rußland vor Plewna, das hat Oesterreich in Bosnien erfahren. Die THeilung der Türkei ist unabwendbar; man merkt das in Konstantinope endlich auch — daher die letzten Verzweiflungskämpfe der Türket, das letzte Aufflackern gegenüber Oesterreich in Bosnien und gegenüber Griechenland an einer anderen Stelle — aber unaufhaltsam rückt der Untergang des ab gestorbenen Reiches näher und näher. Es gab keinen anderen Staat, welcher die Aufgabe in Bosnien ausführen konnte, als Oesterreich; dazu hat weder Andrasty noch Bismarck Etwas gethan. Klagt Eure geographische Lage oder das Schicksal an, kann man heute den Oesterreichern nur zurufen, wenn Ihr einen Sündenbock braucht; aber laßt uns in Ruhe und schwatzt nicht wider besseres Misten von einer deutschen Feindschaft. Diese ist längst begraben nach der letzten nothwendigen Auseinander setzung und wird, soweit es Deutschland betrifft, nie wieder aufleben. Denn beide Reiche sind auf einander angewiesen, und das ist der andere und der wichtigste Grund, weshalb beide Staatsmänner sich in offener Freundschaft vereinigten auch in dieser vorliegenden Frage. Welchen Widerspruch hätte es in ganz Oesterreich und mit Recht hervorgerufen, wenn der Berliner Kongreß einem anderen Staate, etwa Italien, die Okkupation Bosniens übertragen hätte. Oesterreich durtte das nicht einmal dulden. Nach wie vor halten wir die Politik, welche Hindrassy auf dem Berliner Kon gresse verfolgte und Bismarck unterstützte, für vollkommen ehrlich und im Interesse beider Reiche begründet. Sollte das Uebergewicht Rußlands auf der Balkan-Halbinsel noch größer werden oder vielmehr ganz allein vorwiegen? Wie gern hätte Rußland das europäische Mandat auch für Bos nien und die Herzegowina mit übernommen; es lag ja in seinen innigsten Wünschen. Das zu hindern, mußte das Streben Oesterreichs wie Deutschlands sein, denn beide Reiche haben gleichviel von Rußland zu fürchten, und das -aben die beiden Staatsmänner, Andrasty und Bismarck, gehindert. Dadurch haben sie sich um Deutschland wie um Oesterreich verdient gemacht. Mag die Undankbarkeit Oesterreichs sprichwörtlich sein, in diesem Falle glauben wir nicht daran, ebensowenig wie wir an den Sturz Andrassy's und seine Ersitzung durch Sennyey glauben. TaiMchau. Freiberg, 19. September. Durch die bisherigen Reichstagsverhandlungen hat sich unsere innere Lage in erfreulicher Weise geklärt. Die Re gierung kommt, nachdem sie sich davon überzeugt, daß sie mit der Auflösung des vorigen Reichst«,,s die von ihr ge wünschte Verschiebung des Schwerpunktes nicht in dem er hofften Maße erreicht, der neuen Volksvertretung weit freundlicher entgegen, als man nach den früheren Angriffen ihrer Organe auf die liberale Partei erwarten durfte. Durch den Ausfall der Wahlen zur Ausführung ihrer Ab sichten in erster Linie auf die Unterstützung derjenigen Partei angewiesen, mit der sie bisher am Aufbau des deutschen Reiches zusammen gearbeitet hat, begreift sie, daß sie mit Versöhnlichkeit und Vertrauen mehr erzielen wird, als mit Herausforderungen und Mißtrauen. Innerhalb des Reichstags weiß man denn auch dies Entgegenkommen zu würdigen. Obgleich man sich durch die rein formelle, kalte und geschäftsmäßige Art, wie der Eröffnungsakt voll zogen wurde, nicht angenehm berührt fühlte, wünscht man doch nichts sehnlicher, als sich über den Hauptgegenstand, um den es sich zunächst handelt, mit der Regierung zu ver ständigen. Allem Anschein nach wird das auch gelingen. Die Motive des vorgelegten Gesetzentwurfs gegen die ge meingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie haben allerseits Eindruck grmacht und die Ueberzeugung befestigt, daß außerordentliche Maßregeln zum Schutz der bedrohten staatlichen Ordnung unerläßlich sind. Man sieht immer mehr ein, daß gerade ein Ausnahmsgesetz, wie das vor- gefchlagene, dazu dient, den Genuß der bürgerlichen Frei heiten, insbesondere das Vereins- und Versammlungsrecht, sür die staatsfreundliche Mehrheit des Volks vor dauernden Einschränkungen zu sichern. Die Regierung wird sich daher in ihrer Erwartung, daß ihr die erforderlichen Mittel zum Schutz der staatlichen Ordnung gewährt werden, nicht ge- äuscht sehen. Möglich, daß der Reichstag das in dem rüheren Gesetzentwurf vorgeschlagene neue Reichsamt sür Beretnswesen und Presse wiederherstellt, kein Zweifel, daß er für die Geltung des ganzen Gesetzes einen End termin feststellt, aber zu Stande kommen muß und wird das Gesetz unter allen Umständen. Ueber die Räumlichkeiten, welche Kaiser Wilhelm auf WilhelmShöhe bewohnt, wird aus Kastel berichtet: Für den persönlichen Bedarf des Kaisers sind nur drei Zimmer reservirt. Sie liegen im ersten Stockwerke und bieten eine wunderschöne Aussicht nach der Stadt Kastel. Das größte dieser Zimmer dient als Wohnstube und in ihm nimmt der Kaiser auch die regelmäßigen, ihm zu er stattenden Vorträge entgegen. Die Möbel mit blauer, goldgestickter Seide überzogen, sind in ihrer Form sehr einfach, vor Allem aber einfach und schmucklos ist der große am Fenster stehende Schreibtisch; dabei ist er freilich fehr praktisch. Unter einem großen Spiegel, auf einer marmornen Konsole, ist ein Geschenk niedergelegt, welches nicht verfehlen wird, dem hohen Empfänger viel Freude zu bereiten. Es ist dies ein kleines, etwa 0,75 Meter langes Modell eines Panzerkanonenbotes, auf dessen Ver dick sich eine nach allen Richtungen drehbare Kanone be findet, deren wunderhübsche Ausführung dem Geber des ganzen Modells, dem Kanonenkönig Krupp in Esten, alle Ehre macht. An diese Wohnstube schließt sich ein kleineres Gemach an, welches der Kaiser benutzt, wenn er allein und ungestört arbeiten will. In dieser Stube befindet sich ein alterthümlicher, werthvoller Schreibtisch, die Möbel sind mit weißer und Rosaseide überzogen, ebenso die Vor hänge der Fenster. Die dritte und letzte Stube ist das Schlafzimmer des Kaisers. Schwere grünseidene Vorhänge dämpfen den Strahl des Lichts, die mit demselben Stoffe überzogenen Möbel geben dem ganzen Zimmer den Aus druck der Ruhe; der schwere türkische Teppich unterdrückt jedes Geräusch der Tritte. Ein prachtvolles Bett, welches in dem Zimmer steht, wird vom Kaiser nicht benutzt, er schläft vielmehr in seinem bekannten Feldbett, welches aus Gastein mit herübergebracht worden ist. Die übrige Ein richtung ist ebenfalls fo einfach wie nur irgend denkbar. Auf Wilhelmshöhe werden in diesen Tagen eintreffen: Der deutsche Kronprinz mit seinem ältesten Sohne, dem Prinzen Wilhelm, welcher aus dieser Veranlassung aus England zurückkehrt; die Prinzen Karl, Friedrich Karl und Albrecht; die Großherzoge von Hessen, von Mecklenburg-Schwerin und von Sachse», der Erb großherzog vonSachsen, der Herzog von Edinburg, welcher gegenwärtig in Koburg weilt, der Erbprinz von Sachsen- Meiningen und der Fürst von Waldeck und Pyrmont. Gegenüber einem von der „Volkszeitung" geäußerten Zweifel, wie der Minister des Innern behaupten konnte, Nobiling sei gerichtlich vernommen worden, konstatirt die „Nordd. Allg. Ztg.", daß eine gerichtliche Vernehmung Nobilings in aller Form Rechtens stattgefunden und daß derselbe dabei die von dem Minister des Innern in der Reichstagssitzung vom 16. September angeführten Aeuhe- rungen gethan habe. — Betreffs des vom Berliner Kabinet angeregten Schritts der Mächte bet der Pforte behufs schnellerer Ausführung des Berliner Vertrages, schreibt die „Nordd. Allg. Ztg.", die deutsche Regierung dürfte vor läufig diese Angelegenheit nicht Wetter verfolgen, umsomehr als die Sachlage durch die inzwischen geschehene Räu mung Datums eine Aenderung erfahren habe. Ueber- haupt falle die deutsche Anregung in eine frühere Zeit, wo die Pforte um die Ausführung des Vertrages sich weniger zu bemühen schien. — Gestern früh 3 Uhr ist in dem Postwagen eines von Magdeburg nach Berlin abgelassenen Güterzuges durch Selbstentzündung eines Colli Feuer ent standen. Der Zug wurde zum Stehen gebracht. Der Wagen ist bis auf die Eisenbestandtheile mit fämmtlichen Briefen und 800 Packeten verbrannt und sind nur 15 Packet« gerettet worden. Der Postschaffner rettete sich durch'S Fenster. Die Mißgeschicke der österreichischen Truppen in Bosnien lassen das alte Gerücht vom Rücktritte Andrassy's von Neuem auftauchen. Man nennt Senney.y und Beust als Nachfolger desselben. Senneyey dürfte keinesfalls — wenn wirklich eine Aenderung in der obersten Leitung der Politik eintreten sollte, was wir vorläufig noch bezweifeln — auf die Nachfolgerschaft des Reichskanzlers Aussicht haben, da