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reikr-Mm^ und Tageblatt LV. Jahrgang. Donnerstag, den 13. Juni 1878 -V- Freilich, ein augenblicklicher Erfolg, um den es sich letzt handelt, wäre davon nicht wohl zu erwarten. Und so müssen wir denn Stellung nehmen und uns fragen: welches Verhalten bei den bevorstehenden neuen Reichstagswahlen geboten erscheint. Fürst Bismarck sagt in den Motiven zu dem Auflösungs-Antrag wörtlich: Allerdings, dieser ruchlose Schuß Nobilings war eine Erschütterung der dumpfen Stickluft, die seit dem wirth- schaftlichen Krach auf der ganzen Gesellschaft lagerte. Er hat bereits das Bürgerthum aufgerüttelt und zur Selbst- that empfänglicher und bereit gemacht. Aus zahlreichen Ortschaften des deutschen Vaterlandes liegen Berichte vor, denen zufolge die Fabrikbesitzer und Handwerksmeister ihre Arbeiterkreise von Sozialdemokraten säubern. Würde man allgemein in diesem Sinne weiter vorgehen, so hälfe dies jedenfalls mehr, als alle Ausnahmegesetze, die, wie wir fast fürchten, etwas zu spät kommen. Vergessen darf man ja doch nicht, daß die Sozialdemokratie in ihren agitato rischen Anfängen moralischen Beistand und indirekte För derung von den Seiten erhielt, die heute den Kreuzzug mit Pulver und Schwert gegen sie verlangen. Beweise dafür find in Menge vorhanden und hätte Herr v. Schweitzer Memoiren hinterlaßen, würde ihre Veröffentlichung zur Zeit den Bürger belehren können, weshalb er so lange das Treiben einer Partei für ungefährlich hielt, die sich vom Hause aus doch auf einen feindlichen Standpunkt gegen die bestehende Gesellschaft stellte, deren Gesetze und Autoritäten offen verhöhnte und als vernichtungswürdig erklärte. Diese Saat konnte lustig aufgehen und nun sie jetzt ihre Giftfrucht gezeitigt, will man das Feld schnell abmähen. Das Vaterland ist dadurch unstreitig in Gefahr gekommen; aber man erkenne hübsch aus dem Werden dieser That- fache auch, daß eS nicht von Maßregeln der Regierungen und dem bloßen Vertrauen darauf allein abhängt, das Vaterland immer wieder zu retten. Der Bürger muß eben selbst zuweilen, wie zum Ausgebot gegen äußere Feinde, so in Rüstung gegen die inneren sich stellen, und zwar rechtzeitig, ehe es zu spät ist und der Brand im eigenen Hause rast. Die Vereinigung der Patrioten zum Nationalverein hat ihrer Zeit in Deutsch land das Werk vorbereitet, welches dann mit den Soldaten ausgeführt wurde. Ein solcher Nationalverein zum Schutze der Gesellschaft und zur Bekämpfung der Sozialdemokratie als ihrer geschworenen Feindin — warum sollte er nicht in gleicher Art die Rettung aus eigener Nationalkraft vorbereiten, ehe wir, wie die Pariser im Juni 1848, mit dem erbitterten und anarchischen Plebs auf den Straßen kämpfen müßen? Wir zweifeln fast, daß die von der Regierung beab sichtigten Maßregeln den erwünschten Erfolg haben werden; denn mit allen Schutzgesetzen wird man die Elemente, die schon vergiftet sind und verwildert sich die Eigenschaft von Sozialdemokraten beilegen, nicht aus der Welt schaffen. Mit ihnen müßte die Gesellschaft durch eigenes Aufraffen und unerschrockenes Bekämpfen fertig zu werden suchen und die höhere Pflicht des Patriotismus sich im Ergreifen der Initiative kundgeben. In solcher Art der Regierung Vorarbeiten, ihr in die Hände arbeiten und den Weg bahnen auf welchen sie dann die Gesetze wie Marksteine des Volks- willenS setzt — das würden wir für beßer, für durc -reifender halten. „Die königlich preußische Regierung glaubt diese Maßregel (der Auflösung) um so mehr befürworten zu sollen, als sie gegen die Richtung, in welcher ihr von Rednern des Reichstages eine eventuelle Unterstützung bei künftigen Vorlagen in Aussicht gestellt wurde, prinzipielle Bedenken hegt. Sie ist nicht der Meinung, daß das Maß freier Bewegung, welches die bestehenden Gesetze gewähren, im Ganzen einer Einschränkung bedürfe, sie hält es nicht für gerecht und nicht für nützlich, mit den von ihr erstrebten Sicherheitsmaßregeln auch andere Bestrebungen zu treffen, als die jenigen, durch welche die bestehende Rechtsordnung ge fährdet ist ; sie glaubt, daß gerade die Bestrebungen der Sozialdemokratie es sind, welche die Abwehr nöthig machen, und gegen welche daher diese Abwehr zu richten ist." „König Wilhelm" die Wache hatte, war es bedingt, daß das Ruder (wenigstens früher war es so) von dem Steuer mann und den Steuermannsmaten, letzteren persönlich, be setzt war. Alle diese Leute waren gewöhnt, ihre ganze Karriere lang am Ruder zu stehen: wenn diese Leute daher, wie in allen anderen Marinen, das Ruder zur Zeit hielten, dann war ein Verwirrtwerden und ein Fehlen gegen das Kommando ganz unmöglich. — Dennoch ist gefehlt worden. Merkwürdigerweise schweigen über diesen Punkt aber alle Berichte und Erzählungen und die offizielle Liste der Mann- chasten zeigt uns weder unter den Lebenden, noch unter den Todten einen Steuermann noch einen Steuermanns maten. Wir haben uns erkundigt, weshalb dieser Mangel auf trat und erfahren, daß die Ursache davon folgende ist: Die Karriere des Steuermanns ist durch das neue Regime m der deutschen Flotte aufgelöst worden, sie existirt nicht mehr. Steuerleute und Steuermannsmaten sind auf dem „König Wilhelm" nicht mehr vorhanden gewesen, an ihre Stelle treten die Navigations-Bootsleute, das heißt Leute ganz anderer Bildung. Wenn nun also die Kommissare berathen, dann werden wir bei den Fragen nach der un mittelbaren Ursache des Zusammenstoßes gerade die Er ledigung dieser angeregten Frage suchen und mit Interesse begrüßen. Die Antwort, welche uns die Untersuchung geben muß, soll die Angaben über die Anzahl und die Qualifikation d-rjenigen Leute enthalten, welche während und vor der Kollision auf beiden Schiffen am Ruder gestanden haben. Sind die Leute altgefahrene Krtegsschiffsmatrosen gewesen, die oft und lange Panzerschiffe gesteuert haben, was nur anzuzweifeln schon ein Unrecht sein dürfte, dann ist diese Frage erledigt. Gelingt dieser Ausweis aber nicht, dann werden die Gründe verlangt werden, und von Stufe zu Stufe werden dann die Vermuthungen, die in unbestimmter Form heute alle Blätter durchschwirren, zu Wahrscheinlich keiten anwachsen, jene Vermuthungen, daß nicht ein Ver sehen, sondern ein System mitschuldig sein soll an der unglücklichen Katastrophe. Zu den obigen Ausführungen giebt auch nachstehende Mittheilung, welche die neue Stettiner Zeitung über die „Leute am Steuer" bringt, wohl noch eine besondere Illu stration. Wie nämlich — der genannten Zeitung zufolge — Offiziere des „König Wilhelm" erzählten, war das Ruderkommando nicht nur richtig gegeben worden, was ja auch von keiner Seite bezweifelt wurde, sondern auch von dem Freiwilligen, welcher Steuermannsmatendienste verrichtend, die sechs die drei Steuerräder drehenden Ma trosen beaufsichtigt», richtig verstanden und abgenommen worden. Nur die Matrosen, auf die es leider freilich ankam, hatten es falsch verstanden und drehten unabläßig falsch fort, selbst als der Freiwillige in die Speichen ein griff und nach der entgegengesetzten Seite zu drehen suchte. Die sechs Matrosen waren eben so sehr davon überzeugt, daß sie sich im Rechte befanden, daß sich zwischen ihnen und dem Steuermann ein förmlicher Kampf entspann, welcher allerdings nur von kurzer Dauer sein konnte, denn ein paar Augenblicke später war die Katastrophe eingetreten. Der untergegangene Kurfürst. Ein von fachmännischer Hand geschriebener Artikel der Ost-See-Zeitung bringt einige interessante Details über die unrichtige Ruderbewegung an Bord des König Wilhelm. Der Artikel heißt „Backbord oder Steuerbord"; in wenig Worten enthält derselbe: der Matrose der Kauffahrteiflotte dreht das Ruder auf das Kommando des Kauffahrteischiffers auf allen kleineren Kauffahrern geradezu umgekehrt, wie er auf den Kriegsschiffen auf daßelbe Kommando thun soll, oder — folgt er dem früheren Ausbildungs-Modus, so be wegt der Kauffahrtei-Matrose sein Schiff bei gleichem Kommando geradezu den andern Weg, wie es der Kriegs schiffs-Matrose thun würde. Der Laie wäre befugt, hier schon die unmittelbare Ursache des Zusammenstoßes ent deckt zu haben, wenn die Möglichkeit vorhanden wäre, daß die zur Zeit der Kollision am Ruder stehenden Männer junge Leute gewesen wären, welche eben erst eingezogen worden. Das bleibt festzustellen. Wir allerdings — (Seemann nach dem alten Regime) — wißen: Da nach der „Times" zur Zeit des Zusammen stoßes Gefechtsübung war und der Observations-Offizier des Inserate werden bis Vormittags 11 Uhr angenom men und betrügt der Preis für die gespaltene Zeile oder deren Raum 1b Pfennige. In voller Uebereinstimmung mit diesen bündigen Er klärungen der Reichsregierung steht die gestrige Aeußerung eines Berliner Blattes: Die getroffenen Maßnahmen gingen in der That nur dahin, „in den Schwierigkeiten unserer so mannigfach verworrenen Lage die unverfälschte Stimme des Volkes zu vernehmen und eine Volksvertre tung sich gegenüber zu sehen, welche, nicht gebunden durch rühere Auffaßungen und Beschlüffe, in voller Unbefangen heit die für den Schutz der Dynastie, die Sicherheit der Gesellschaft und das Wohl des Landes nothwendigen Maßregeln mit ihr zu vereinbaren im Stande sei." Die Regierung wünscht und hofft, daß, wie ihrerseits, so auch von Seiten der Wohlgesinnten aller Parteien, ohne Leiden- chaft, ohne Vorurtheil und Verdächtigungen das unter den gegenwärtigen Verhältnissen doppelt schwierige Werk der Wahlen begonnen und durchgeführt werde, und daß die von ihr selbst nicht gebilligte aggressive Haltung einzelner ihrer übereifrigen Freunde auf der andern Seite kein Wiederspiel finden möge. Bei dieser Lage der Dinge dürfte die Reichsregierung, selbst wenn die Zusammensetzung des neuen Reichstages eine unwesentlich veränderte sein sollte, auf Durchdringung der Vorlage mit größerer Wahrscheinlichkeit rechnen können, wie bei einer Wiedereinberufung des alten Reichstages. Denn wenn es auch dieselben Männer wären, welche zu sammen kämen, es wäre doch nicht derselbe Reichstag; seine Kontinuität ist unterbrochen und die nothwendige Kon sequenz in der Abstimmung nicht vorhanden. Der Wahlkampf aber, darüber gebe man sich keinem Zweifel hin, wird ein sehr heißer werden, namentlich in Bezirken, wo die Sozialdemokratie zahlreiche Anhänger hat. Der Kampf ist für sie ja ein Ringen um Leben und Tod. Darum sollten alle übrigen Parteien fest zusammen stehen, um als geschloffene Phalanx den Staatsfeinden das Terrain streitig zu machen. Geschieht dies nicht, dann wird die Welt das unerquickliche Schauspiel erleben, daß in Deutschland sich die aufrichtigsten Freunde der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung auf das Heftigste befehden, während der gemeinsame Feind lachend bei Sette steht. Wir sind deshalb — immer in der Voraussetzung, daß die Ausnahme-Maßregeln sich lediglich auf die Sozial demokratie erstrecken — der Meinung, daß nur zwei Parteien an die Wahlurne treten müßten: Ordnungs- freunde und Ordnungsfeinde! Dann wird auch das Resultat nicht zweifelhaft sein. Vie neue Wendung. Das Attentat Nobilings auf den Kaiser hat die Re gierung zur Auflösung des Reichstags veranlaßt. Fürst Bismarck will eben etwas thun, um sich stark gegen die giftigen und brutalen Elemente in der Gesellschaft zu zeigen und das Volk ist im Großen und Ganzen damit einverstanden. Denn das läßt sich nicht leugnen: überall ist ja ein Pessimismus in die Gesellschaft gekommen, der ihr vor dem „rothen Gespenst" allen Halt zu nehmen droht, ein Pessimismus, in dem sie sehnsüchtig auf einen Retter wartet. Erscheint jeden Wochentag Abends 6 Uhr für den andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mark 2b Pf., zweimonatlich 1 M. bO Pf. n. einmonatl. 7b Pf. Amtsblatt für die königlichen und Wüschen Behörden zu Freiberg uud Brand Verantwortlicher Redakteur Julius Braun in Freiberg.