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1878. 30. Jahrgang. - Sonntag, den 14. Juli. Inserate werden bis Vormittags 11 Uhr angenom men und beträgt der Preis sür die gespaltene Zeile oder deren Raum 1b Psennigc. Erscheint jeden Wochentag Abends 6 Uhr für den D andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mark 2b Ps., 'E zweimonatlich 1 M. 50 Pf. u. einmonatl. 7bPf. und Tageblatt. Amtsblatt siir die königlichen und Wüschen Behörden zu Freiberg und Brand. Verantwortlicher Redakteur Julius Brauu iu Freiberg. Was lehrt uns der Prozeß Hödel? Am 10. Juli dieses Jahres wurde im Saale des Staatsgerichtshofes zu Berlin eines der traurigsten Blätter unserer Zeitgeschichte umgeschlagen! Ein unbegrenzter Ekel erfüllt uns, wenn wir den zum Abschluß gelangten Atten tatsprozeß mit geistigem Auge verfolgen. Der Richterspruch, welcher dem verruchten Meuchelmörder das Leben abspricht, erinnert noch daran, daß das strengste Gesetz nur mit menschlichen Leidenschaften, Jrrthümern und Verbrechen rechnen kann, daß es aber Uebelthaten giebt, welche gleich sam außerhalb des Kreises der Menschenart liegen, weil die Niedrigkeit der Gesinnung, die sie bekunden, auf die unverhüllte Bestie zurückweist. Mit tiefer Beschämung er kennen wir, daß nicht Alles, was Menschenantlitz trägt, schon als Mensch betrachtet werden darf. Denn in diesem Verbrecher ist kaum noch eine Spur von menschlicher Em pfindung — davon sind die Antworten Zeuge, die er dem Präsidenten des Gerichtshofes auf seine Fragen gab. Keine furchtbaren Verirrungen, denen eine leidenschaft liche Natur anheimfallen kann, lasten sich bei Erklärung seiner That annehmen; er hat den Frevel nicht anders wie eine gemeint Poste betrachtet und verübt. Und dieses teuflische Spiel setzte Hödel im Gerichtssaale fort. Mit förm lichem Behagen dokumentirte er seine Gesinnungslosigkeit, seinen Mangel an jedem besseren Gefühl; frecher Hohn lag in seiner Rede, in seinem ganzen Auftreten. Er zeigte sich zwar gleichgiltig gegen sein Leben, aber noch gleichgil- tiger gegen seine Ehre und ließ so jenen sittlichen Muth vermissen, der selbst auf ein verlorenes Dasein noch einen versöhnenden Strahl wirft. Nur ein chaotischer .Größen wahn kam bei ihm in fratzenhaftester Weise zur Erscheinung. Sein Vorleben zeigt sich im wüsten Schlamm versunken seine letzten Stunden sind die eines Jrrwisches, der im Sumpfe erlöschen will. Wie die hölzerne Figur des Mord gesellen im Marionettentheater, welche durch unfläthige Witze und tolles Dreinschlagen Lachen und Entsetzen zugleich er regen soll, so taucht der elende Bube auf und unter. Er ist daran, seine Existenz, die bester nie begonnen hätte, zu beschließen. Ob dies auf dem Schaffst, ob im Zucht hause geschieht, bleibt im Grunde gleich; der menschlichen Gesellschaft ist er für immer entrückt; er ist abgethan! Aber wir sind die Schmachträger; denn so allgemein die Unthat verurtheilt worden, so fern auch der ungeheuren Majorität des deutschen Volkes nur der Gedanke einer ähnlichen Verirrung gelegen — der Uebelthäter, welcher die Augen der Welt in so betrübender Weise auf uns ge lenkt, wird der Nation zugerechnet, deren Heim er besudelte. Es bleibt nichts übrig, als dieses widrige Geschick über uns ergehen zu lasten. Um so schmerzlicher für uns, daß sich auch, wie das „Berl. Tgbl." mit Recht hervorhebt, in den gebildeten Kreisen der Gesellschaft ein Mensch gefunden, dem die verbrecherische That zum Vorbilde gedient, um sie mit allem Raffinement des Vorbedachts aufs Neue zu wagen. Und haben unsere Gerichte nicht in letzter Zeit eine ganze Serie von erbärmlichen Subjekten abzuurtheilen gehabt, die frech genug gewesen, ihre Billigung und Zustimmung zu den verbrecherischen Mordanfällen auf den Kaiser kund- zugeben? Dieses Alles beweist, daß die Verwilderung des Denkens und Empfindens viel weiter um sich gegriffen hat, als man gewöhnlich glaubt. Es ist nicht sowohl die Rohheit an sich, die am meisten zu beklagen bleibt, es ist das Verschwinden aller Scham und Scheu, worin wir ein Zeichen tiefster Verderbniß erblicken. Die Gemeinheit, die noch so viel Rücksicht nimmt, sich vor der Oeffentlichkeit zu ver hüllen, um wenigstens äußerlich anständig zu erscheinen, diese Gemeinheit der Gesinnung ist noch nicht die schlimmste; die Abscheulichkeit aber, die jede Scham abgelegt hat, die offen einhergeht und sich mit der Niedertracht ihrer Denk art noch zungenfertig brüstet, sie ist die verruchteste und zugleich bedrohlichste Erscheinung unserer Zeit; gegen sie sollte Alles, was noch auf Anstand und Sitte hält, ein- müthig Front machen. Was die Menschheit in tausend jähriger Arbeit an Bildung, Wissenschaft, Gesittung er rungen und erkämpft, das Alles wird von der Masse jener rohen, verwahrlosten Elemente für Nichts geachtet; sie trachten nur nach dem Augenblicke, der ihnen die Macht in die Hand geben soll, um alle hergebrachten Formen des Lebens, alle Schöpfungen der Geschichte, alle Errungen schaften des Menschengeistes hohnlachend zu zertrümmern und das politische Chaos, den Krieg Aller gegen Alle, die Despotie der Gemeinheit an die Stelle zu setzen. Und wie sich auch die Führer der Sozialdemokratie von den Rockschößen Hödels loszuwinden suchen — es wird ihnen niemals gelingen, die Thatsache zu verdecken, daß sie die im Verbrecher vorhandene Disposition zur Ab kehr von gesetzlicher und natürlicher Ordnung begünstigt, daß sie die giftige Atmosphäre verbreitet haben, in der solch' frecher und grauser Wahnwitz heranreifen kann. Wir betonen ausdrücklich nur die moralische Mitschuld der Sozialdemokratie in diesem eingeschränkten Sinne, um nicht unberechtigte Anklagen zu erheben; aber das Eine lassen wir nicht verdunkeln, daß es neben der direkten auch eine indirekte Frevelstiftung giebt. Wer, wenn das Gewitter tobt, Reisig um die Scheuer häuft, der mag, wenn der Blitz das leicht entzündbare Material ent flammt, immerhin sagen, er sei kein Brandstifter; der mo ralische Instinkt des Volkes wird sich dadurch nicht täuschen lassen. Dasselbe gilt von dem Zusammenhangs der Agi tation der sozialdemokratischen Führer und der traurigen Ereignisse, durch welche die Ehre der Nation geschädigt und zugleich den reaktionären Elementen Raum geschaffen wurde, die schwer errungenen Güter unserer staatlichen Freiheit gleich emporzüngelnden Flammen zu bedrohen. Sie, die aller Autorität den Krieg erklären und sich mit Hohn über unsere gesammte historische Entwickelung hinwegsctzen, kön nen sie glauben, daß, wenn einmal die hergebrachte Autorität gestürzt wäre, ihre eigene Autorität auch nur einen Pfifferling werth bliebe? Gerade sie würden, wenn der Strom der Gesetzlosigkeit die Ufer der herkömmlichen Ordnung überfluthen sollte, die Allerersten sein, die er hinwegspülte. Tagesschau. Freiberg, 13. Juli. Heute Nachmittag 2'/, Uhr treten in Berlin die Delegirten des kougrrffet zur Unterzeichnung des Friedensvertrages zusammen! Das Instrument, welches auf Pergament gedruckt wird, umfaßt zirka 60 Artikel und wird erst nach seiner Ratifikation durch die be- theiligten Regierungen in etwa vier Wochen veröffentlicht werden.. Nach der Schlußrede des Fürsten Bismarck dürfte die Danksagung des Kongresses an den deutschen Reichs kanzler für die Leitung der Geschäfte durch Graf Andrassy erfolgen, welcher auch bei dem Beginn des Kongreßes das Wort nahm. So hat denn der Kongreß sein schwieriges Amt beendet — zum Guten, insofern als die Aussicht aus eine Reihe von Friedensjahren den Abschluß bildet. Ein Kompromiß ist zu Stande gekommen, welches keiner direkt betheiligten Nation volle Befriedigung gewährt, aber auch nach der Natur der Sache nicht gewähren konnte. Wenn keiner der Betheiligten hätte Opfer bringen wollen, so wäre es unausbleiblich zum bleiernen Würfel spiele gekommen und der Friede Europas ist augenblicklich mehr werth, als die ganze Erbschaft der Türkei, die den Erben nur Lasten und schwere Pflichten auferlegt. Deutsch land hat in den schwersten Momenten wieder seine Frie ¬ densliebe und Uneigennützigkeit bewährt, obgleich wohl der Wunsch nicht ungerechtfertigt sein dürfte, daß es nicht ganz mit leeren Händen vom Kongreße scheiden möchte. Eine kleine Provision gebührte doch dem „ehrlichen Makler" — sei es in Form einer Insel im Mittelmeere, sei es Hel goland oder ein vernünftiger Handelsvertrag mit Rußland. Fürst Bismarck hatte am Donnerstag Abend eine anderthalbstündige Unterredung mit Lord Beaconsfield und wer weiß, ob dabei nicht Helgoland den Gegenstand der Unterhaltung gebildet hat. Es ist dies allerdings nur eine Vermuthung, für welche jeder weitere Anhalt fehlt. Der englisch-türkische Devenstv-Verlrag soll ein Seitenstück durch ein österreichisch-türkisches Ueberein kommen erhalten. Wie England den Pfortenbesitz in Asien künftig gegen äußere Angriffe vertheidigen helfen soll, so soll Oesterreich die Verpflichtung übernehmen, eine wettere Verkleinerung des europäischen Gebietes der Pforte im Verein mit der Letzteren zu verhindern. Die Entlohnung wäre hier Bosnien und die Herzegowina, wie sie dort Cypern ist. Das ist das neueste Projekt der — Pforte, das aber in Wien keine besonders freundliche Aufnahme findet. Oesterreich scheint nicht geneigt, für die vom Kon greße beschloßene Okkupation der genannten zwei Provinzen, die ohnedem seinerzeit in eine Annexion sich verwandeln wird, jetzt erst der Pforte einen Preis zu bezahlen, der unter Umständen sehr groß werden und das als Entlohnung erhaltene Werthobjekt bei Weitem übertreffen könnte. Es liegt auf der Hand, daß Oesterreich keinen Geschmack daran finden kann, in einer vielleicht nicht fernen Zukunft zunächst mit den Griechen, den Bulgaren, dann mit Serbien, Mon tenegro, mit Rußland und vielleicht auch mit Italien, die ämmtlich noch ihre Ansprüche an die europäische Türkei rheben werden, sich herumzuschlagen, und alles das für Bosnien und die Herzegowina, die es ohnedem und auf jeden Fall in Kürze b setzen wird. Dieses türkische Projekt hat also keine Aussicht auf Verwirkst. ung, aber es verdient gleichwohl besondere Erwähnung, weil indirekt daraus her vorgeht, daß die Okkupationssrage zwischen Oesterreich und der Türkei bis zur Stunde noch keineswegs vollkommen geregelt ist. Dahingegen stellen es Wiener Blätter als eine Möglichkeit hin, daß Oesterreich ein Uebereinkommen mit England getroffen hat, um sich lästige Ansprüche neidischer Nachbarn vom Halse zu halten. Das „Journal des Debats" macht heute merkwürdiger Weise den Vorschlag, daß Oesterreich hinsichtlich der Sicherung des europäischen Gebiets osmanischen Reiches eine ähnliche Konvention mit der Pforte absckließen solle, wie England es hinsichtlich Asiens gethan. Ist diese Aeußerung mehr als ein bloßer Wunsch, will man Thatsachen oder die Enthüllung vollbrachter That- sachen vorbereiten? Wir leben in einer Zeit der Ueber- raschungen und da darf das Unwahrscheinliche nicht mit dem Unmöglichen identifizirt werden. Während im deutschen Reiche der Wahlkampf immer höhere Wogen schlägt, liegt der Kronprinz mit großem Eifer allen Reichs- und Staatsgeschäften ob. Ec wird nach Lage der Dinge auch dazu berufen sein, die dem Reichstage vorzulegenden Gesetze, die sich fast ausschließlich gegen die sozialdemokratische Bewegung richten, zu unter zeichnen. Im Uebrigen verlautet auf das Bestimmteste, daß der Kronprinz die seit einiger Zeit von den Offiziösen in Szene gesetzte Hetze gegen Mitglieder der liberalen Partei, die sich des besonderen Vertrauens des Kronprinzen seit Jahren erfreuen, durchaus nicht billigt. Es fällt denn auch auf, daß seit wenigen Tagen die Offiziösen eine minder heftige Sprache gegen die liberale Partei führen. Der König von Baiern hat dem unter dem Vorsitz des Generalfeldmarschalls Moltke zusammengetretenen Komitö für die „Wilhelmsspende" die Bewilligung zur Vornahme der Sammlungen im Königreich Baiern ertheilt. Im italienischen Senat erinnerte gestern bei der Be- rathung des Budgets des Aeußern, eine Anfrage Caraciolo's bezüglich des Kongreßes beantwortend, Minister Baccarini an das Geheimniß, welches die Mächte sich sür den Augenblick wahren müßen. Er sagt, mau solle nicht ein Urtheil fällen, bevor man nicht das Werk des Kongreßes kenne und er innert an die Worte Cairoli's in der Senatssitzung vom 4. Mai, daß die Regierung den Grundprinzipien unseres nationalen Rechtes treu bleiben werde. Sobald als 'möglich, werde die Regierung das Parlament informiren.