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60. I Inserat« w«rden bis Bormiltags I I Uhr angenom. Mittwoch, den 22. Mm. "'U'L« L» 1878. und Tagematt Amtsblatt für die königlichen nud swttfchen Behörden zn Freiberg und Brand. Verantwortlicher Redakteur Julius Brau« iu Freiberg. -«eG M M Erscheint jeden Wochentag Abends 6 Uhr für den -/vv I 1 andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mark 2b Pf., 'E -L.-U.v-/» zweimonatlich 1 M. bü Pf. n.etnmonatl. 7bPf. NachbrsttUungrn uuf de» für de» Monat Juni werde» von fümmtliche» Postaustalte« wie vo» der »«terzeichueten Sxpedttio« und de« bekannt,« Aus gabestelle» zum Preise vo« 75 Pf. auge«omme«. LxpvMion ä«8 „fnvibergvi. ^nrvigvf". Trübe Aussichten! Seitdem der neue Papst Leo seine erste Encyklika in die Welt gesandt, weiß man, welch Geistes Kind er eigentlich ist. Die anfängliche Beklommenheit im ultramontanen Lager, daß der neue Oberhirte der katholischen Christenheit eine dem modernen Geiste versöhnlich gesinnte Natur sein möchte, ist nun wieder gehoben und wir anderen Ketzer beruhigen uns damit, daß Leo XIII. nicht Pio IX., aber daß er bei größerer Bildung und Klugheit das Papstthum zu nichts Anderem machen kann und will, als was es ist: zu einer mittelalterlichen hierarchischen Veste, von deren Zinnen nichts Anderes ertönt, als Klagen und Ver dammungen über die jetzige Zeit. Wenn die Zeit nur etwas wäre, was man greifen, ein sperren und bestrafen könnte, so ließe sich diese päpstliche Noth dahin erklären, daß sie mächtige Gewalten der Staaken bestimmen möchte, diese schändliche Zeit zu packen und un schädlich zu machen. Nun geht das aber beim besten Willen nicht ; ein geistiges Fluidum läßt sich nicht fassen und der Zeitgeist, den kein Einzelner erzeugt und erzielt, spottet allen Angriffen der Menschen und seien sie selbst Päpste, Könige und Feldmarschälle mit Millionen von Soldaten. Der alte Metternich gab sich seinerzeit alle er denkliche Mühe, dies Kunststück mit der heiligen Allianz fertig zu bringen. Er sperrte ganz Deutschland und noch etwas mehr gegen diesen bösen Zeitgeist ab und es war ein so schönes Völkergefängniß konstruirt worden, daß selbst der damalige Papst Gregor nicht ein Gitterfenster mehr anzurathen wußte. Eines schönen Tages war Alles vor bei! Metternich hatte nichts mehr zu sagen und der Zeit geist tanzte ausgelaffen auf den Ruinen des großen Zwingers und spielte Fangball mit Szepter und Kronen. Trotz alledem muß man in Rom und was sich von daher in dieser Jammerzeit speist, ernstlich der Ueber- zeugung sein, daß man dem Zeitgeist schon betkommen könnte, wenn man nur im Sinne des Papstthums Alles ausrotten und verbieten würde, was dieser modernen Zeit chlechtes Gepräge trägt: Schulgesetze, Zivilehe, Preß freiheit, Vereins- und Versammlungsrecht und so vielerlei noch, was — wie Leo in seiner Encyklika sagt — den Grund der „Geringschätzung und Verwerfung jener heiligen und erhabenen Autorität der Kirche bildet, die im Auftrage Gottes dem Menschengeschlechte vorsteht und Hort und Schutz jeglicher legitimen Autorität ist." Das erbärmliche Attentat auf Kaiser Wilhelm bot nun der ultramontanen Presse in erster Reihe eine Veran lassung, auf die allgemeine Entrüstung über den gemeinen Mordversuch gegen die populäre, hochverehrte Person des kaiserlichen Greises zu spekultren und allen guten Bürgern zu Gemüth zu führen, daß solche menschliche Ver worfenheit das Ergebniß der Moral- und Zuchtlosigkeit sei, wie sie der moderne Zeitgeist bewirke. Die „Germania" richtete sogar eine Kundgebung „an den Kaiser", in welcher dieses Hauptorgan unserer Ultramontanen mit beispielloser Frechheit die Maigesetze und die kirchenpolittschen Anord nungen der Regierung, insbesondere die Erlass« des Kultus ministers vr. Falk, als die Ursachen der Sittenverwckderung bezeichnete, zu deren Früchten das Attentat gehöre. Mucker und sonstige Reaktionäre bliesen natürlich in dasselbe Horn; denn was war billiger, den ServilitätSsinn als reinste Loyalität aufzutischen, als daß man Zeter über unsere sauer errungenen Freiheiten schrie, weil sie den Sozial demokraten auch zu Gute kommen? Ein Lump, wie dieser verkommene Geselle, der in der Eitelkeit eines Herostrat durch eine Unthat gegen die höchste Person der Nation sich aus dem Schlamm der Niedrigkeit emporge rissen wissen wollte — der also soll der Vertreter des modernen Zeitgeistes in seiner üblen Wirkung sein; für solche Lumpenhaftigkeit, die jedes Zeitalter auch in Atten tätern aufzuweisen hat, will man ein ganzes Volk bestraft sehen, das in seinem Abscheu gegen jene That die Tiefe seiner Moralität bekundet! Was hätte dann mit der katholischen Kirche, mit den Jesuiten geschehen müssen, aus deren Einflüssen die Mordthat Rava'llac's gegen den König Heinrich IV. hervorging und die Pulververschwörung in London gegen König und Parlament, von Kullmann gan zu schweigen? Sind das die Stempel jener Zeitalter ge wesen, in denen doch die Kirche noch in ihrer heiligen Autorität den Schutz und Hort jeglicher legitimen Autorität bildete, wenigstens mehr denn heut? Wenn man in solchem Glashause fitzt, sollte man doch nicht mit Steinen um sich werfen. Wie sonst, so hat auch unser modernes Zeitalter mit der Eischeinung des Sozialismus keine Mittel der Gesetz gebung, um die Verbrechen unmöglich zu machen und zu verhindern, daß ein Berbrecherwahnsinn, wie er aus dem Attentat Hödels auf den Kaiser spricht, aus der Sumpf stätte der Gesellschaft sich erzeugt. Und wären wir Alle so fromme Kinder der päpstlichen Kirche, wie man es sich in Rom nur wünschen möchte, und Alle so erbitterte Feinde bürgerlicher Freiheit, wie es unseren eifrigsten Reaktionären gefiele — die Kullmann und Hödel würden deshalb ebenso wenig zu physischen und geistigen Unmöglichkeiten werden, wie ihre« Gleichen auch in den frühesten Zeitaltern die Ge sellschaft durch Verbrechen zu erschrecken mcht vermieden. Für die Gesundung unseres sozialen Lebens kann und muß, wie zu aller Zeit, noch Manches geschehen; aber mit dem Strafgesetz allein bringt man dies nicht zu Stande; mit Unterdrückung der Aeußerungen des Zeitgeistes auch nicht — dafür müßte doch gerade jetzt die Wera Sassu- litsch im heiligen Rußland als warnendes Beispiel dienen. Biel aber geschähe dafür, wenn es weder Ultramontane noch Sozialdemokraten mit ihren jesuitischen Hetzereien geben würde. Leider scheint unsere Reichsregierung von ähnlichen Er wägungen nicht ausgegangen zu sein, den» sonst hätte sie den gestern erwähnten Gesetzentwurf nicht eingebracht. ES soll damit ein ganz neues System geschaffen und sehr wich tige staatsbürgerliche Rechte des gesetzlichen Schutze« beraubt werden. Man will die Allmacht der Polizei erneuern und die oberste Körperschaft des deutschen Reiches — den BundeS- rath — in eine Oberpolizetbehölde verwandeln. Und selbst wenn diese Maßnahmen wirklich nur auf die Unterdrückung der sozialdemokratischen Partei berechnet wären, so würd doch die Verletzung der Grundprinzipien de« Liberalismus in schädlichster Weise auf die gesammte staatliche Entwtcke lung zurückwtrken müssen. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß die sozialdemokratische Partei bei den besitzenden Klaffen ungemein verhaßt ist und daß sie, nachdem sie selber jede Toleranz verleugnet und keine Rücksichten für fremde lieber» zeugungen kennt, auch keine Toleranz fordern darf. Es ist vollkommen richtig, daß ein System, welches, wie das sozia. listische, jedes individuelle Recht negtrt, auch jede indivi duelle Freiheit aushebt und daß die Sozialisten somit in strenger Konsequenz ihres Standpunktes auch nicht an die schützende Macht der Freiheit appelltren dürfen. Ja man könnte untersuchen, ob der Staat gegenüber den Sozialisten ich nicht im Zustande der Nothwehr befindet, mithin »erechtigt wäre, zur Rettung der Gesellschaft die Mittel z« ergreifen, di« ihm zweckdienlich erscheinen. Allein alle diese Erörterungen find nach Lage der Dinge vollkommen überflüssig. Es handelt sich hier nicht bloS um einen Feldzug gegen den Sozialismus, sondern um eine Maske für die Reaktion gegenüber dem Liberalismus. Kaiser Wilhelm lebt der Ueberzeugung, daß der Sozialismus eine Quelle in der Religionslosigkeit des arbeitenden Volkes habe. Die Rückkehr des Staates zur Religion bildet daher ein wesentliches Element seiner Ueberzeugungen. Zudem wünschen die Ultramontanen und ihre Gesinnungs genoffen im protestantischen Lager, die Orthodoxen, die Aussöhnung mit Rom und so soll das Vorgehen gegen die Sozialdemokratie nur die Brücke hinüber zum Papstthum bauen. Es ist nahezu gewiß, daß der eingebrachte Gesetzentwurf die Zustimmung des Reichstags nicht erlangen wird. In diesem Falle soll man zu seiner Auflösung entschloßen sein und die Reaktion wird dann für die Neuwahlen da- Stichwort erheben: „Die Opposition hat ihre Zustimmung zu Maßnahmen verweigert, welche den Kaiser vor Attentaten chützen sollen". Es ist ein offenes Geheimniß und wir jaden es oft genug hervorgehoben, daß die permanente Krisis in der preußischen und deutschen Regierungssphäre ihren Grund nur in reaktionären Intentionen hatte ; aber man wußte nur nicht, wie man es anfangen sollte, um einen Bruch mit dem Liberalismus herbeizuführen. Jetzt endlich glaubt man in dem Attentate den geeigneten Vorwand gesunden zu haben; und eben weil eS sich um ein längst vorbereitetes Manöver handelt, muß man fürchten, daß man auf der Bahn der Reaktion beharren und nöthigenfalls den Reichstag auflösen wird. Es würde uns aufrichtig freuen, wäre die Situation nicht so schwarz, wie wir dieselbe augenblicklich ansehen. Tagesschau. Freiberg, 21. Mai. Nach den neuesten Nachrichten aus Berlin ist es sehr fraglich, ob im Rcichriage heute schon das Gesetz gegen die Sozialdemokratie zur Vorlage gelangt. Die „National- Zeitung" sagt, der Bundesrath habe in der gestrigen Plenarsitzung der Vorlage Prenßens gegen die Aus schreitungen der Sozialdemokratie unter Streichung des tz 6 (Gefängnißstrafe nicht unter drei Monaten gegen Diejenigen, die durch Rede und Schrift es unternehmen, die in Verfolgung sozialdemokratischer Ziele bestehende rechtliche sittliche Ordnung zu untergraben) zugestimmt, die „Post" dagegen behauptet, das Gesetz habe noch nicht an den Bundesrath zur definitiven Beschlußfassung gelangen können, weil mehrere Bevollmächtigte erst noch Instruktionen von ihren Regierungen einholen müssen. Namentlich sollen die baierischen BundeSrathSmttglieder Schwierigkeiten haben, sich mit Instruktionen zu versehen. König Ludwig von Baiern befindet sich augenblicklich auf irgend einer stillen Berqesspitzt und soll vergessen haben, die bairischen Minister mit seiner Adresse zu versehen. — Zu dem Ent lassungsgesuch des Kultusministers I>r. Falk bemerkt das ersterwähnte Blatt: Es ist kaum möglich, die Stimmung zu beschreiben, welche di« Kunde von dieser Thalsache in den weitesten Kreisen hervorgerufen hat. Herr Falk wäre nicht der erste hervorragende Staatsmann, den man in den letzten Jahren plötzlich verschwinden sah, als hätte der Boden ihn verschlungen. Aber keiner der bis jetzt auS dem Amt Geschiedenen genießt eines ähnlichen Ansehens in der Nation, steht in einem gleichen Zusammenhang« mit der bisherigen Reichepolltik; das Eintreten kaum einer andern Personalveränderung könnte in dieser Weise den Eindruck des Bruches mit der bisherigen Politik nach Innen und Außen Hervorrufen. Man wird sich in jenen Kreisen, in denen man mit Befriedigung die gelungene Ausdrängung des Herrn Fall betrachtet, wundern über den Rückschlag, den diese Thatsache in der öffentlichen