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schäften vergleichbare Lebenshaltung gegenüberzustellen, die jene jun gen Stämme hier und da als Vorbild wiederzuerlangender Tugend, eben deshalb aber auch als gefährliche Nachbarn des Reiches erscheinen läßt 19 . Wohl fehlt es ihnen an Ordnung und Umsicht, jener römischen disciplina und ratio ermangeln die Germanen weitgehend; dennoch haben sie mit Freiheitsdrang und persönlicher Tüchtigkeit, libertas und virtus, Eigen schaften bewahrt, deren andere Barbaren, so die Gallier und selbst Stämme der Britannier, verlustig gegangen sind (Agricola 11,4; Germ. 29,3). Diesen Vorzügen gilt die besondere Aufmerksamkeit des Tacitus (z. B. Germ. 20,1; 37,3). An ihnen werden die mores maiorum, die erstre benswerten Sitten der Vorväter, noch einmal lebendig, die der Vertreter der Senatsaristokratie für Rom verloren glaubt. Nebenher aber mag die Schilderung der Germanen als geschlossenes ethnisches Gebilde einem rein praktischen Zweck, freilich mit schwankendem Erfolg, entsprochen haben, solange die griechische Völkerkunde nach wie vor an dem tradi tionellen, vor Jahrhunderten entwickelten Schema der Einteilung des Nordens festhielt. Noch der mehr als ein Säkulum nach Tacitus schrei bende Grieche Cassius Dio zählte germanische Stämme unter dem Ober begriff der keltischen Völker 20 . Um so mehr aber erschienen das politische Wirken Roms auf der einen Seite und der Rang der Germanen als mili tärische Widersacher auf der anderen nun im rechten Lichte, da ihnen ein ebenbürtiger Platz neben den übrigen großen barbarischen Gegnern des Imperiums zuerkannt werden mußte 21 . Die Einheit der germanischen Stämme als Ethnos, die noch kaum sprach lich begründet wurde, sondern aus dem pragmatischen politischen Den- 19 Grundlegend nach wie vor E. Wolf! 1934, S. 121 ff.; jedoch zu dessen verallgemeinernder und wertender Einschätzung, daß Tacitus „in den Germanen den nach dem eigenen Volke bedeu tendsten Gegenstand der Geschichte“ erkannt habe (S. 157), kritisch G. Walser 1951, S. 80 ff.; auch K. Büchner 1960, S. 43 ff. Wirklich darüber hinaus führt K. Büchner 1955, S. 125 ff., beson ders S. 139 ff. - Zur Völkeridealisierung vgl. K. Trüdinger 1918, S. 133 ff., speziell S. 145. 20 Vgl. E. Norden 1920, S. 101 f.; F. Jacoby 1926, C, S. 170; H. Haas 1943/44, S. 76, Anm. 12 (zur unter schiedlichen Handhabung der ethnographischen und der politischen Begriffe bei Cassius Dio vgl. aber D. Timpe 1967b, S. 289; ders. 1970, S. 44, Anm. 98, S. 84, 99). G. Walser 1956a, S. 86 ff., mit Belegstellen S. 89 f., meint, dies sei nicht schematisch, sondern im Glauben an die Richtig keit der alten ethnographischen Abgrenzungen und im Mißtrauen gegen Caesars Angaben ge schehen. Auf diesem Wege kommt er schließlich zu einer vorsichtigen Art Ehrenrettung der jener griechischen Topik verfallenen Schriften von S. Feist 1927 und G. Stümpel 1932 (dagegen sogleich und trotz unnötiger Schärfe im ganzen nach wie vor zutreffend R. Much 1932, S. 465 ff.), deren Einfluß zusammen mit dem von F. Frahm 1930 und vor allem von G. Walser selbst das Vorgehen von R. Hachmann, G. Kossack und H. Kuhn 1962 wesentlich bestimmt hat und bei der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen dieses wichtigen Buches nicht übersehen werden darf. Das mehr in der Stille weiterwirkende Extrem dieser Richtung, das einer neuen, nur scheinbar besser begründeten Art der „Keltomanie" hahekommt, schließlich bei W. Schrickel 1964, S. 138 ff., 147 mit Anm. 29. 21 Vgl. G. Walser 1951, S. 108, 152 ff.; ders. 1956a, S. 195 ff.; im ganzen jedoch einseitig und im Urteil über das angebliche „Völkerchaos“ Germaniens zu wenig differenzierend, siehe dazu auch R. Wenskus 1961, S. 7 f. 2 17