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AUFGABENSTELLUNG UND FORSCHUNGSSTAND Die Kenntnis, welche römische Militärs, Kundschafter, Kauffahrer und Gelehrte über das Land rechts des Rheins während eines Zeitraums von anderthalb Jahrhunderten erlangen konnten, hat in der Schrift des Taci- tus De origine et situ Germanorum eine, wie man rückschauend sagen darf, abschließende Zusammenfassung erfahren 15 . Mehr an sachlichem Wissen über das Innere Germaniens, seine Bewohner und deren Lebens verhältnisse ist auch in den folgenden Jahrhunderten schriftlich nicht niedergelegt worden, soweit wir darüber sichere Kunde nur immer haben*’“. Und Tacitus selbst bekennt — allerdings nicht ohne tagesgebun dene Polemik lc —, daß bereits zu seiner Zeit das Landesinnere den Blik- ken der Römer weithin wieder entzogen gewesen sei* 7 . Eines der Ziele des Autors bestand darin, Land und Leute als ein geschlossenes Ganzes, als geographisch-ethnographische Gesamtheit, darzustellen. Mit dem Blick auf die Weite des Raumes und die Zusammengehörigkeit seiner Be wohner bleibt das Anliegen neben, besser als Teil der historisch-politi schen Absicht des Werkes 18 bestehen, gewiß ohne daß es zu dessen Erklä rung ausreicht. Das politische Vorhaben wiederum, verflochten mit dem unter den Flaviern nach wie vor erhobenen Anspruch auf Germanien18a, erhebt sich über das bloße Interesse am Zeitgeschehen. Es fügt sich ein in das historische Bestreben, der altrömischen Sitte eine in manchen Eigen- 15 Zu Titel, Überlieferungsgeschichte, inhaltlicher Gliederung und zu der seit E. Wolff 1934, S. 121 ff. besser überschaubaren Absicht der Germania vgl. etwa G. Klemm 1836, S. 393 ff. (ältere Ausgaben bibliographisch); E. Koestermann 1964, S. V ff., XXVII ff. (neueste Textaus gabe, Überlieferung, wichtige Literatur); R. Much 1967, S. 23 f. (Überlieferung); K. Trüdinger 1918, S. 146 ff.; K. Büchner 1955, S. 125 ff.; R. v. Uslar 1968, S. 128 und F. Kühnert 1971, S. 537 f. (Deutung). 15aVgl. E. Norden 1934, S. 1 ff. (Abriß der antiken Geschichtsschreibung über die Germanen). “ Vgl. H. Nesselhauf 1952, S. 222 ff. zu Germ. 37,2: tarn diu Germania vincitur. Kap. 37 und 33,2 bilden einen Schlüssel zum Verständnis des Werkes und dessen Entstehungsgeschichte, vgl. auch E. Wolff 1934, S. 155, Anm. 1. 17 Germ. 41,2 zur Elbe; flumen inclutum et notum olim; nunc tantum auditur. Vgl. dazu unten S. 134 mit Anm. 491. 18 H. Nesselhauf 1952, S. 222 ff.; R. v. Uslar 1968, S. 128. Tiefer in die vielschichtige, noch immer umstrittene Struktur einzudringen, ist nicht unsere Aufgabe. Hervorzuheben ist allerdings der von K. Trüdinger 1918, S. 159, 162 ff., 166 ff. vorgenommene Vergleich mit griechischer ethno graphischer Darstellung, insbesondere mit Poseldonios: hatten dort Landes- und Volksbeschrei bung gleiches Gewicht, so drängt Tacitus die natürlichen Faktoren zugunsten der gesellschaft lichen zurück. 18 aVgl. H. Nesselhauf 1952, S. 241 zur Germanienpolitik des Domitianus, die Teilerfolge in einen Endsieg ummünzte; wirklich nur, um den „endgültigen Verzicht“ zu bemänteln? D. Timpe 1968, S. 63 weist darauf hin, daß selbst die Mahnung des Tiberius an Germanicus (Tacitus, ann. II, 26.3) entgegen landläufiger Meinung keinen völligen Verzicht auf das rechtsrheinische Germanien ausdrücke. Den tatsächlichen Verlust scheint man nicht verwunden zu haben. Die Schrift des Tacitus selbst mag dafür als Beweis dienen. Wie schon im Tatenbericht des Augustus, hier freilich vorsichtig, obwohl noch auf realer Grundlage (Monumentum Ancyra- num 26), dazu D. Timpe 1968, S. 34 f. mit Anm. 30, wurde auch fernerhin der Anspruch bewahrt.