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Erscheint jeden Wochentag Abends 6 Uhr für dm I andern Tag. Preis vierteljährlich 2 Mark 2b Pf., zweimonatlich 1 M. bO Pf. u. einmonatl. 7b Pf. 31. Jahrgang. Freitag, den 11. Juli. und Tageblatt. " Amtsblatt für die löniglichm und städtischen Behörden zu Freiberg uud Brand. Verantwortlicher Redakteur Julius Braun in Freiberg. (In Vertretung: Ernst Mauckisch in Freiberg.) Inserate werden bis Bormittags 11 Uhr angcnom- F men und beträgt der Preis für die gcspaltmc Zeile D oder derm Raum IS Pfennige. > v» Lrutus, schläfst Du? i. Diesen alten Weckruf legt uns ein Schriftchen nahe, das vor wenig Tagen von Ernst von Weber, einem unab hängigen, in volkswirthschaftlichen Dingen theoretisch und praktisch, in letzterer Hinsicht namentlich in Folge wieder holter großer Reisen in allen Theilen der Erde wohlunter richteter Mann, der überdies ein Landsmann von uns ist, unter dem Titel: „Die Erweiterung des deutschen Wirth- schaftsgebietes und die Grundlegung zu überseeischen deut schen Staaten" (Leipzig, bei Twietmeyer, 1 Mk. 80 Pf.) erschienen ist. Wir werden im Nachstehenden diesem Merkchen eine Anzahl der bedeutsamsten Notizen entlehnen, um die ein dringliche Mahnung, die der Verfasser mit seinem hochver- dienstvollen Werke beabsichtigt, auch denen nahe zu bringen, die das letztere nicht zu Gesicht bekommen. Und wenn in der gegenwärtigen Zeit, wo die innere Politik im deutschen Reich so sehr in den Vordergrund getreten ist, die durch jenes Buch angeregte Frage schon im allgemeinen ihre Be rechtigung hat, so kann, wie ich weiter unten Nachweisen werde, gerade unser Freiberg etwas mit zu ihrer hochwichtigen Lösung beitragen. Bekanntlich reden Zahlen am eindringlichsten. Nun denn, so höre man! Die Bevölkerung im deutschen Reiche nahm 1872 um 431305, 1873 - 473824, 1874 - 561044, 1875 - 552019, 1876 - 624074 Köpfe zu. Wächst nun, so wird man sich demgegenüber fragen müssen, in gleichem Maßstabe auch die Ernährungsfähigkeit unseres Vaterlandes? Darauf ist mit einem entschiedenen „Nein" zu antworten, weil nach außenhin andere Nationen, namentlich Engländer und Amerikaner immer mehr den Welthandel an sich reißen, nach innen aber die Ueberpro- duktion auf nahezu allen Gebieten schon seit Jahren sich bemerklich macht. Wohl sagt man, es waren gerade in den letzten Jahren „schlechte Zeiten", und im regelmäßigen Wechsel der Weltgeschichte folgt darauf immer auch wieder ein besserer Geschäftsgang. Allein wo bleibt der nun schon so lang erwartete Umschwung diesmal? Nur immer mehr leuchtet ein, was Weber behauptet, daß der diesmalige Nothstand eine dauernde Kombination von Verhältnissen ist, deren Grund tiefer liegt als in einer vorübergehenden HandelSkrisis. Wohl leiden gegenwärtig mehr oder minder auch andere Nationen, allein doch nicht in solchem Grave wie wir, die wir mit jedem Jahre mehr der nationalen Verarmung, dem Pauperismus entgegengehen. Selbst ein Aufschwung der Geschäfte würde hieran nicht allzu viel ändern. Der wahre Grund hierfür ist eben in der immer mehr über handnehmenden Uebervölkernng unseres Grund un Bodens zu erkennen, mit der die Erwerbsverhältnisse schon in guten Zeiten nicht, noch weniger aber in wirthschaft- lichen Krisen gleichen Schritt halten. Wenn z. B. die Be völkerung des nur 84 o Meilen haltenden Kreisdirektions- bezirks Zwickau 1836 -- 584707,1875 also nach 39 Jahren schon 1032025 Köpfe hatte, wenn somit auf die Quadrat meile 12165, ja hie und da (im Schönburgtschen) 2086 Menschen kamen, so meine ich, kann man den Grund der Noth nicht mehr verkennen. Und wenn heute die Sozial demokraten Spielraum hätten, ihren Zukunftsstaat in Szene zu setzen, das Privatetgenthum zum Nationaleigenthum zu machen, Jedem seine Arbeit, aber auch seinen Lebensunterhalt zu gewähren, wie sie es versprechen, an dieser Klippe müßten sie ebenfalls scheitern. Wenn das Haus zu klein ist, reicht es auch bei der gerechtesten uud gleichmäßigsten Vertheilung doch nicht mehr aus, Unaufhörlich wächst die Zahl unserer Arbeiter, ohne da die Arbeitsgelegenheit wächst. „Der Arbeitsmarkt wird dadurch immer mehr und mehr überfüllt und fortdauernd vo« allen möglichen zufälligen Stockungen abhängig, was einen zur Ernährung einer Familie vollständig unzureichen den Arbeitslohn und bei jeder politischen Störung eintretenden Arbeitsmangel zur Folge hat." Ich möchte diesen Worten Webers noch den Hinweis darauf beifügen, daß ja nicht nur die Luxusfabrikation, sondern auch die Produktion der nothwendigsten Lebensbedürfnisse darntederliegt; das beweist, daß auch hier das Angebot größer ist als die Nachfrage, die Fabrikation größer als der Verbrauch. Es giebt z. B. viel zu viel Schuhmacher in unseren Städten, darum die Noth unter ihnen, obwohl doch gewiß 1876 kaum weniger Schuht nöthig waren als 1873. Und ich erinnere nur die Väter an das Kopfzerbrechen, das es kostet, wenn für den Sohn ein Beruf gesucht werden soll. Nirgends bietet sich ein Arbeitszweig, in dem ein guter Erwerb von vornherein ich in Aussicht stellte. Fast überall giebt es der Berufsge nossen schon zu Viele. Und die Folgen? Ich meine, sie liegen klar genug aus der Hand. „Aus dieser elenden und unsicheren Lage unseres überfüllten Arbeiterstandes folgen selbstverständlich schlechte Ernährung, Körperschwäche und Siechthum, Lasterund Krankheiten, Unmoralität, Verbrechen frühzeitiges Sterben; auch sichert ein solcher materieller und moralischer Sumpfboden den Giftpflanzen der soziali stischen Wühlereien das üppigste Gedeihen." Weber weist zum Beleg seiner Worte auch hin auf den Nothstand der Handwerksburschen, unter denen nach ärztlicher Konstatirung die „Bettlerpest" ausgebrochen ist. Schlimmer vielleicht dürfte der Umstand sein, daß mehr und mehr auch Solche, die von Haus aus nicht Bummler waren, weil an allen Werk stätten abgewiesen, das Heer der Vagabunden zu vergrößern gezwungen werden, das die Landstraßen unsicher macht, die Dörfer brandschatzt, den Gemeinden in einer nahezu schon unerschwinglichen Höhe zur Last fällt, Armen- und Zucht häuser füllt, und vergiftend auf das ganze Volksthum zurückwirkt. Doch das sind Klagen, die oft genug schon angestimmt worden sind. Sicher aber ist es, daß einem fühlenden Menschen nichts mehr in die Seele schneiden muß, als wenn er Einen steht, der die Kraft, das Geschick und — den guten Willen hat, zu arbeiten, und doch keine Arbeit findet. Was soll nun aber zur Abhilfe geschehen? Werden die gegenwärtig berathenen Schutzzölle wirklich einem so ungeheuren Nothstand abhelfen können, so wichtig sie gewiß auch sind? Ich meine, Blutüberfüllung und Blutstauung läßt sich in einem Körper nur durch Blutentziehung Her stellen. Wir bedürfen der Auswanderung, aber nicht nach dem bisherigen System, das kein System war. Von Nord- Amerika staut bekanntlich schon längere Zeit der Strom zurück. Es müssen andere Erdstriche gewählt werden. - So dann muß die Auswanderung planmäßig geleitet, staatlich subventionirt, geschützt und überwacht werden. Bisher wanderten noch immer Leute mit etwas Kapital aus, die ganz Armen mußten zurückbleiben, während für sie gerade die Ueberstedelung nothwendig war. Endlich gingen bisher all' die Ströme deutschen Blutes im fremden Lande in fremder Nationalität auf. In Spanien wurden die Deut schen Spanier, in Rußland Russen, in Amerika Amerikaner, die oft sogar ihre Abstammung verleugneten. Es muß da für gesorgt werden, daß die Deutschen im Auslande nicht nur Deutsche bleiben können, sondern daß sie dort wirkliche deutsche Staatswesen bilden. Die Vortheile, die sich dann ergeben, sind ganz unge heure. Zunächst wird den Zurückbleibenden gedient. Die Revolution, der wir nach Webers Meinung, die aber auch im Publikum oft genug laut wird, unaufhaltsam entgegen- treiben, wird vermieden, den gehässigen Wühlereien, die die Söhne des nemlichen Volkes gegen einander treiben, die Spitz« abgebrochen, die Arbeit wieder lohnend, ein gut Theil physischen und moralischen Elendes getilgt. Und die Aus gewanderten? Sie würden bald zufriedene, gesunde, be häbige Leute aus hungernden, verkommenen, verzweifelten Gestalten. Weiter würden wir aber auch in solchen deut schen Kolonien die besten Absatzstätten für unseren Handel haben, wie andrerseits von da einer verhältnißmäßig günstigen Einfuhr von allerhand Produkten genießen. End lich aber wäre ein derartiger überseeischer Kolonialbesitz auch ein wichtiger Faktor für die äußere Politik, für unsere Stellung als Weltmacht. Es kann keinem aufmerksamen Beobachter mehr ent gehen, daß drei der größten Nationen der Erde alles noch vorhandene Land in stillschweigendem Einvernehmen schon so gut wie unter sich getheilt haben. England sagt: „Afrika vom Kapland bis zum Nil"; Rußland: „Asien vom Bos porus bis zum japanischen Meer"; Amerika: „ganz Amerika den Amerikanern (all ^msriea kor tbs ^.rasrivkens)!" Wird diesen Gelüsten nicht rechtzeitig Einhalt gethan, so bleibt nichts mehr für Deutschland. Während andere Nationen auf Grund der erstrebten Besitzungen zu Weltreichen an wachsen, bleibt es im allzuengen Käfig eingeschloffen, vom Welthandel, von einer seiner Weltmission, seiner Ausbrei tungsfähigkeit entsprechenden Ausbreitungsmözlichkeit abge sperrt und muß endlich trotz seiner Militärmacht untergehen oder in die anderen Nationen aufgehen. Eine theilweisv Russifizirung oder Anglisirung der Welt erscheint durchaus nicht mehr unmöglich, wenn man folgende Zahlen berück sichtigt: Es wuchs die englische Bevölkerung von 1651—1751 um 1 Million, von 1751—1851 um 14 Millionen, von 1851—1875 (in nur 24 Jahren) um 12 Millionen. Bei einer darnach angestellten Wahrscheinlichkeitsrechnung wird England, das 1879 37'/, Millionen Einwohner hat in 50 Jahren 75, in 100 Jahren 150 Mill, haben. Die weiße, britische Stammbevölkerung in den Kolonien, jetzt 8 Mill., würde in den nemlichen Zeiträumen 32, bez. 128 Mill, betragen, so daß in 100 Jahren — für die Welt geschichte ein kurzer Zeitraum — die englische Nation, über Asien, Afrika und Australien verbreitet, an 300 Mill, umfassen würde. Mit Recht sprechen dem gegenüber schon jetzt englische Zeitungen von einem reißend schnellen Englisch werden der Welt (tbe vorlä is bseommA oaxlisb). Rechnet man dazu die durch gleiche Sprache und noch immer manche gleiche Interessen mit England verbundene amerikanische Bevölkerung, die in 50 Jahren schon 182 Millionen zählen würde, so dürfte die Gesammtsumme der anglo-amerikantschen Stammesgenossen in 100 Jahren 1006 Millionen zählen, nicht viel weniger als es jetzt Menschen überhaupt giebt. ES zeigt nämlich das nordamerikanische Volk folgende- Wachsthum: 1701 --- 260000 Köpft, 1801 --- 5306000 - 1850 -- 23263000 - 1875 --- 41000000 - Was endlich Rußland anbetrifft, so zählte dieses Reich 1796 36 Millionen, 1835 60 - 1879 96'/, - Da gegenwärtig die Zunahme dort 0,75 Prozent beträgt, so dürfte es in 50 Jahren 138 Mill-, in 100 Jahren 187' Mill. Russen geben. Will man dagegen einwenden, so große Reiche halten nicht lange, so bedenke man aber auch, daß heutzutage im Zeitalter des Dampfes und der Telegraphen die Verhältnisse anders liegen als zur Zeit eines Alexander des Großen; ferner daß das 400 Mill, zählende China seit uralter Zeit bis jetzt besteht.